Fünfundzwanzigstes Kapitel

Auf dem Bahnsteig warteten Rotkreuzschwestern und Sanitäter, um die Verwundeten in Empfang zu nehmen. Die Soldaten, die zurück in die Heimat fuhren, hatten trotz schwerer Verletzungen überlebt. Zusammen mit unversehrten Kameraden, die einige Tage Heimaturlaub bewilligt bekommen hatten, füllten sie die Abteile bis auf den letzten Platz. Auch in der ersten Klasse waren fast alle Plätze belegt.

Die Fahrt von Wien nach Dresden erschien Heinrich ungewöhnlich lang. Mehrmals hielt der Zug auf offener Strecke, ohne dass der Schaffner die Gründe dafür nennen konnte. Unter den fünf Mitreisenden in Heinrichs Abteil befand sich eine ältere Dame, die sich als Fürstin Woronin vorstellte und von ihrem elfjährigen Enkelsohn begleitet wurde. Sie stammte aus St. Petersburg und war während der Oktoberrevolution mit ihrer Familie nach Wien geflohen.

Die Erinnerung an die gemeinsame alte Heimat im Osten bot genug Gesprächsstoff zwischen ihr und Heinrich, der sich zunächst auf Russisch mit ihr unterhielt. Um die Mitreisenden jedoch nicht zu brüskieren, wechselten beide bald ins Deutsche, das die Fürstin grammatikalisch einwandfrei, doch mit starkem Akzent beherrschte. Mit großer Spannung lauschten die anderen im Abteil den Erzählungen aus alten Glanzzeiten, die die Fürstin mit allerlei Anekdoten anreicherte. Sie rauchte Kette, und in ihrem Gepäck befanden sich eine silberne Flasche sowie mehrere kleine Becher.

»Darf ich Ihnen einen Schluck Wodka anbieten?«, fragte sie und blickte auffordernd in die Runde. Heinrich und zwei männliche Mitreisende folgten ihrer Einladung, während sie selbst aus einer Thermosflasche Tee trank. Letzteres ließ Heinrich verstohlen schmunzeln. Vermutlich genehmigte sich die Fürstin heimlich selbst gern ein Gläschen.

Der junge Fürstenspross, ein aufgeweckter, gut erzogener Junge namens Alexej, trug die Matrosenuniform der Wiener Sängerknaben. Er sprach seine Großmutter auf Französisch mit »Grandmère« an und siezte sie. Wehmütig eilten Heinrichs Gedanken zurück in die eigene Kindheit und Jugend. Auch er hatte seine Großeltern (und seine Eltern) gesiezt und mit ihnen hin und wieder auf Französisch parliert. Der Junge saß die meiste Zeit still auf seinem Fensterplatz und las in einer deutschen Ausgabe von Tolstois Krieg und Frieden. Als Heinrich ihn fragte, ob er denn überhaupt verstehe, worum es in dem Roman ging, erwiderte er: »Ja, natürlich! Am Ende haben wir die Franzosen besiegt. Auch mein Ururgroßvater kämpfte gegen Napoleon.«

Die Fürstin lachte. »Er liest es mir zuliebe«, sagte sie und zündete sich eine neue Zigarette an. »Und ein wenig wird schon hängen bleiben.«

Es war eine kurzweilige Fahrt.

Zwei Stunden vor Mitternacht erreichte der Zug Dresden.

Heinrich nahm sein Gepäckstück und geleitete die Fürstin und ihren Enkel auf den Bahnsteig. Dort wurde sie von einer Freundin erwartet, überschwänglich begrüßt und mit einem Schwall russischer Worte überschüttet. Während Heinrich sich mit einem Handkuss von ihr verabschiedete, wünschte sie ihm gute Weiterfahrt und Gottes Segen.

Wegen der Verzögerungen zwischen Wien und Dresden hatte er den Anschlusszug nach Berlin verpasst. Als er in der Schalterhalle die Tafel mit den Abfahrtzeiten der nächsten Züge studierte, legte sich eine Hand auf seine Schulter.

Oberst Müllerschön, inzwischen in der Uniform eines Brigadegenerals, lachte übers ganze Gesicht. 1941 waren sie sich an einem Gefechtsabschnitt in Gomel begegnet. Heinrich hatte seinerzeit Müllerschöns Artillerieeinheit davor bewahrt, in einen Hinterhalt des Feindes zu geraten.

»Was machen Sie denn in Dresden?«

»Bin nur auf der Durchreise nach Berlin«, erwiderte Heinrich. »Ich habe ein paar Tage Urlaub und will meine Familie überraschen. Wir wohnen in Rathenow.«

Der General warf einen Blick auf die Anzeigetafel und runzelte die Stirn.

»Der nächste Zug nach Berlin geht erst morgen früh! Aber ich kann Sie mitnehmen. Jedenfalls bis Wünsdorf. Ich muss ins OKW, und mein Fahrer wartet draußen.«

»Danke, General, das nehme ich gern an. Mein Bruder versieht dort seinen Dienst. Der kann mir dann vielleicht weiterhelfen.«

Die Straßenverhältnisse waren schlecht. Es fiel Schnee, der bald auf der Überlandstraße liegen blieb.

Immer wieder begegneten ihnen unterwegs Wehrmachtskolonnen. Mit ihren abgedunkelten Scheinwerfern glichen die Wagen heimtückisch in die Nacht spähenden Insekten, die geduckt ihren Weg durch die Finsternis suchten.

Im Kübelwagen des Generals kroch die Kälte von allen Seiten herein. Das Verdeck war geschlossen, doch durch die Seitenfenster pfiff der Wind. Heinrich hatte eine Decke um seine Knie gelegt und den Kragen seines Uniformmantels hochgeschlagen. General Müllerschön reichte ihm hin und wieder die Schnapsflasche, die er für solche Fahrten stets bei sich trug. Das Gespräch zwischen den beiden Männern drehte sich zunächst um die Lage an den Fronten. Dass es dort nicht zum Besten stand, die Situation eher einem Desaster gleichkam, darüber waren sich beide einig.

»Seien wir ehrlich, Paalsick.« Der General musterte Heinrich einen Moment, als ob er ihn einschätzen wollte. »Der Krieg ist so gut wie verloren, da beißt die Maus keinen Faden ab. Ich weiß nicht, woher der Russe all diese Divisionen nimmt, die er immer wieder frisch an die Front wirft. Und unsere Soldaten verrecken. Die meisten kämpfen auch diesmal wieder ohne Winteruniformen. Es herrscht das reinste Chaos in puncto Logistik und Nachschub!«

Heinrich musste ihm recht geben. Auch in seiner Division war die Winterbekleidung noch nicht eingetroffen, und der Standartenführer hatte bereits mehrere wütende Funksprüche nach Berlin geschickt.

»Der Krieg mag vielleicht verloren sein, doch wir werden bis zum letzten Atemzug weiterkämpfen«, sagte Heinrich entschlossen.

»Obwohl das eigentlich absurd ist«, murmelte der General und schüttelte den Kopf.

Heinrich sah ihn ausdruckslos an. »Wie meinen Sie das, Herr General?«

»So wie ich es sage. Wir haben das Ziel aus den Augen verloren. Das große Ganze, weswegen wir gekämpft haben.«

»Das große Ganze ist Deutschland«, erwiderte Heinrich. »Und dieser Kampf ist noch lange nicht zu Ende. Ich vertraue auf den Führer und auf die Kraft unseres Volkes.«

General Müllerschön nickte vage.

»Das klingt vielleicht wie Phrasendrescherei«, fuhr Heinrich fort, »aber wenn wir den Glauben daran verlieren, verlieren wir alles.«

»Der Glaube ist das eine, die militärische Lage das andere, Paalsick. Ich bin gegen eine Strategie der Selbstvernichtung. Weil wir den Krieg verlieren, verlieren wir alles. Vielleicht erleben wir beide das nicht mehr. Meine drei Söhne sind gefallen. Meine Frau und die Tochter befinden sich in Breslau, meiner Heimatstadt. Dort gab es vor wenigen Tagen den ersten Bombenangriff. Und die Front rückt dort näher und näher, wie an allen Reichsgrenzen. Können Sie sich vorstellen, dass ich mir um meine Familie Sorgen mache, Sturmbannführer?«

»Ja, natürlich kann ich mir das vorstellen! Veranlassen Sie alles Notwendige, dass Ihre Frau und Ihre Tochter rechtzeitig dort wegkommen.«

»Worauf Sie sich verlassen können!«

Der General nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche und blickte aus dem Fenster. Dichtes Schneegestöber durchzog die Dunkelheit wie Schlieren auf einem alten Film.

Das Gespräch erlahmte, und beide Männer hingen ihren Gedanken nach. Bei Heinrich stellte sich zunehmend eine freudige Erregung ein. Über zwei Monate war er nicht zu Hause gewesen. Seine Tochter würde er heute zum ersten Mal sehen. Übermorgen war Elses einundzwanzigster Geburtstag. Den würden sie ausgiebig feiern, bevor sein Urlaub am darauffolgenden Tag zu Ende ging. In seinem Gepäck befand sich ein Geschenk für Else: eine Schachtel Pralinen aus Wien, eine seltene Kostbarkeit in Zeiten des Krieges. Weinbrandbohnen, die sie besonders gern aß. Und Maximilian … vielleicht hatte ihn die Geburt seiner kleinen Schwester ein wenig mit Else und der neuen familiären Situation versöhnt. Heinrich zündete sich eine Zigarette an und nahm noch einen Schluck aus der Schnapsflasche des Generals. Ein guter, norddeutscher Korn, wenn auch nicht annähernd so gut wie der Wodka der Fürstin im Zug.

Es war lange nach Mitternacht, als sie die unterirdischen Bunkeranlagen des OKW erreichten. Dort herrschte emsiger Betrieb. General Müllerschön begleitete Heinrich ins Büro des Stabs-Adjutanten von Carls Dienststelle.

»Major von Paalsick hat bis morgen Urlaub, Sturmbannführer.« Die Stimme des jungen Leutnants, dessen Oberlippe ein blondes Bärtchen zierte, klang zackig.

»Was mache ich nun? Ich hatte gehofft, dass er mir vielleicht einen Wagen besorgen kann.«

»Passen Sie auf, Paalsick.« Der General legte ihm die Hand auf den Arm. »Mein Fahrer bringt Sie nach Rathenow. So weit ist das ja nicht. Das scheint mir die beste Lösung zu sein.«

»Das kann ich nicht annehmen, Herr General!«

»Und ob Sie das können!« Müllerschön grinste den Oberleutnant an. »Der Sturmbannführer ist vor einigen Wochen Vater geworden und brennt darauf, endlich seine Tochter zu sehen!«

Der Leutnant gratulierte pflichtschuldig, und Heinrich bedankte sich für die großzügige Geste des Generals.

Nachdem sich der Fahrer des Kübelwagens, ein Obergefreiter namens Wagner, mit Kaffee und einer Bockwurst im Mannschaftskasino gestärkt hatte, brachen sie eine halbe Stunde später auf.

Die Nacht war finster wie zuvor. Es hatte aufgehört zu schneien. Mit einer filigranen Schicht, wie von Künstlerhand gemalt, bedeckte der Schnee das Land.