Achtundzwanzigstes Kapitel

Bei Schneegestöber kam die Gruppe der Hitlerjungen kurz vor neun Uhr vormittags in Rathenow an. Gefolgschaftsführer Fritz Weber ordnete für achtzehn Uhr einen Kameradschaftsabend im Versammlungsraum der HJ-Dienststelle an. Bis dahin hatten die Jungen Zeit, sich bei ihren Familien aufzuhalten.

Während des Ordensburg-Lehrgangs war kein Tag vergangen, an dem Maximilian nicht an Annette gedacht hatte. Abends, wenn er sich, todmüde von den wehrsportlichen Betätigungen, in seinen Schlafsack rollte, sah er vor dem Einschlafen ihr ernstes Gesicht, hörte ihre Stimme, die ihm aus dem grünen Büchlein vorlas, sah ihre Augen im flackernden Kerzenlicht in jener letzten Nacht. Nah, so nah waren sie sich gewesen! Er sehnte sich danach, sie zu berühren, ihre Hand auf seinem Gesicht, in seinem Nacken zu spüren, ihren Körper zu erforschen.

Zehn Tage war er weg gewesen, Tage voller neuer Eindrücke und körperlicher Anstrengungen. Die SS-Anwärter auf der Ordensburg rekrutierten sich aus jungen Männern, allesamt älter als Max und seine Kameraden. Höhere Dienstgrade hielten weltanschauliche Vorträge, die Maximilian mit gemischten Gefühlen aufnahm. Eines der Hauptthemen kreiste um den jüdischen Weltfeind, den raffgierigen, blutschänderischen und kommunistischen Untermenschen. In diesen Stunden dachte er besonders intensiv an Annette und empfand ein Gefühl der Empörung und Ohnmacht.

Als er in seine Straße kam, fuhr das Sportcoupé seines Onkels soeben in die entgegengesetzte Richtung davon. Wieso verließ Carl morgens um neun das Haus seines Bruders?

Maximilian klingelte an der Haustür. Kurz darauf stand er seinem Vater gegenüber. In die Überraschung und spontane Freude, ihm so unverhofft zu begegnen, mischte sich sogleich ein Gefühl großer Besorgnis und Furcht. Seit wann war er in Rathenow, und wie hatte Else es geschafft, Annettes Anwesenheit zu vertuschen? Oder wusste sein Vater bereits Bescheid?

Heinrich reichte ihm die Hand.

»Schön, dass du zurück bist, Max!« Es klang förmlich und ein wenig befangen. Einen Augenblick standen sie stumm an der Tür wie zwei Fremde, die sich soeben kennenlernen und dies nur auf linkische Art zustande bringen. Dann war der Bann gebrochen, und Heinrich nahm seinen Sohn in den Arm.

»Ich … ich wusste gar nicht, dass du so plötzlich Urlaub bekommst!«, stotterte Max.

»Es sollte ja auch eine Überraschung sein.«

»Ist Onkel Carl gerade weggefahren? Ich habe seinen Wagen gesehen.«

»Ja, er war hier«, erwiderte sein Vater kurz angebunden.

Mit wild klopfendem Herzen betrat Maximilian den Flur, warf den Rucksack ab und folgte seinem Vater in die Küche. Dort saß Else zusammengesunken auf einem Stuhl, die Hände vors Gesicht geschlagen. Sie weinte. Als sie Max bemerkte, bemühte sie sich, die Tränen rasch wegzuwischen.

»Wie war’s denn auf der Ordensburg?«, fragte sie beiläufig.

»Du hast sicher eine Menge zu erzählen!«, fügte Heinrich hinzu. »Aber damit warten wir. Ich habe etwas Wichtiges mit deiner Mutter zu besprechen. Geh ruhig erst mal rauf in dein Zimmer.«

Maximilian wurde zunehmend unruhiger. Was wurde hier gespielt? Sein Blick huschte zur Kellertür und von dort zu seiner Stiefmutter. Diese vermied den Blickkontakt. Die kleine Vicky lag im Körbchen und fing in dem Moment an zu schreien. Mit zögernden Schritten verließ Max die Küche und ging die Treppe hinauf. Kurz darauf hörte er Else sagen: »Ich bringe Vicky nach oben. Da schläft sie sicher gleich ein.«

Mit dem Kind auf dem Arm folgte sie Maximilian ins obere Stockwerk. Kaum waren sie dort angelangt, flüsterte Max: »Was ist mit Annette? Weiß er Bescheid, dass sie hier ist?«

Else schüttelte den Kopf und wiegte Vicky auf ihrem Arm, damit sie sich beruhigte.

»Sie ist nicht mehr hier«, erwiderte sie leise.

Max starrte sie an. »Was heißt das, sie ist nicht mehr hier?«

»Dein Onkel hat sie in ein anderes Versteck gebracht. Da ist sie in Sicherheit. Das war letzte Nacht, bevor dein Vater gekommen ist. Was für ein Glück, kann ich nur sagen! Er hat keine Ahnung, dass sie überhaupt hier war.«

»In ein anderes Versteck? Wohin denn?«

»Das weiß ich nicht. Frag deinen Onkel, wenn er das nächste Mal kommt.«

Max spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte. Zorn und Hilflosigkeit stiegen in ihm hoch.

»Onkel Carl hat mir sein Wort gegeben, dass sie nicht wegmuss!«

»Ja, aber wir hatten keine andere Möglichkeit.« Else öffnete die Schlafzimmertür. »Im Übrigen habe ich jetzt andere Sorgen.«

Sie legte das schreiende Kind in die Wiege. Max blieb einen Augenblick wie betäubt auf dem Korridor stehen, dann hörte er von unten die Stimme seines Vaters. Sie klang ungewohnt scharf.

»Else, wo bleibst du denn? Ich warte!«

Vicky hatte sich beruhigt, und Else schloss die Schlafzimmertür. Max sah ihre rot umränderten Augen und den unsteten Blick, den sie ihm zuwarf.

»Hast du eine Telefonnummer von Onkel Carl?«, flüsterte er hastig.

Seine Stiefmutter antwortete nicht.

»Ich komme ja schon«, rief sie ihrem Mann zu und lief die Treppe hinunter. Kaum war die Küchentür ins Schloss gefallen, hörte Max die laute Stimme seines Vaters. Kurz darauf schrie seine Stiefmutter etwas, das Max nicht verstand. In der Küche war ein heftiger Streit entbrannt. Max ahnte, dass es damit zu tun haben musste, dass sein Onkel vor Kurzem das Haus verlassen hatte.

Der Wortwechsel in der Küche wurde immer heftiger. Max schlich zum Treppengeländer und lauschte. Sein Vater gab sich keine Mühe, seine Stimme zu senken.

»… und dann der merkwürdige Zufall mit diesem Lehrgang! Ich habe mich gleich gewundert, dass eine Schar Hitlerjungen zu einem Ordensburg-Lehrgang abkommandiert wird. Ich weiß, wer der Kommandant in Bütow ist. Ein alter Schulfreund von Carl! Das war doch ein abgekartetes Spiel, um Max aus dem Weg zu schaffen. Damit ihr freie Bahn habt!«

»Das stimmt nicht!«, schrie Else. »Ich habe ein reines Gewissen!«

»Du und ein reines Gewissen?«, fuhr Heinrich vehement fort. »Gar kein Gewissen hast du! Raffiniert, verlogen und schamlos bist du. Durch mich hast du doch einen Aufstieg ohnegleichen erfahren! Ich habe dich aus deinen jämmerlichen Verhältnissen rausgeholt!«

»Hör auf, Heinrich!«

»Ich höre erst dann auf, wenn ich mit dir fertig bin. Vergiss nicht, wo du herkommst!«

»Von dir lasse ich mich nicht beleidigen!«, schrie Else. »Das ist doch eine ganz billige Art, mir jetzt meine Herkunft vorzuwerfen. Als du damals im Lazarett scharf auf mich warst, hat es dich doch nicht gestört, woher ich kam! Deinen Bruder stört es übrigens auch nicht.« Jetzt überschlug sich ihre Stimme. »Ja, wenn du es genau wissen willst: Carl und ich, wir lieben uns! Das ist die Wahrheit. Du wolltest sie ja unbedingt hören. Und es ist mir egal, wie du darüber denkst!«

In der Küche herrschte einen Moment Stille. Dann hörte Max ein lautes Klatschen und einen Aufschrei, gefolgt von Heinrichs eisiger Stimme: »Du kannst von Glück sagen, dass Maximilian nach Hause gekommen ist. Sonst würde ich mich jetzt völlig vergessen!«

Die Küchentür wurde aufgerissen und fiel krachend ins Schloss. Als Heinrich die Treppe hinaufkam, zog Max leise seine Zimmertür hinter sich zu. Er ließ sich aufs Bett fallen und lauschte. Sein Vater ging ins Badezimmer. Kurz darauf hörte Maximilian, wie er die Spülung betätigte. Dann erneut Schritte und ein Klopfen an seiner Tür.

»Maximilian?«

Max erhob sich und setzte sich auf die Bettkante. »Ja?«

»Kann ich reinkommen?«

Sein Vater betrat den Raum. Sein Kopf war rot angelaufen. Er setzte sich in den alten Sessel am Fenster und räusperte sich.

»Wir haben uns ja eine Weile nicht gesehen, und ich habe mich auf dich gefreut«, begann er. »Aber seit meiner Ankunft sind ein paar – nun, wie soll ich sagen? – unerwartete Dinge geschehen. Dies hat zur Folge, dass ich noch heute zurück an die Front fahre. Wir haben also wenig Zeit miteinander, mein Junge. Eigentlich gar keine. Ich möchte dich allerdings etwas fragen. Von Mann zu Mann, wenn ich das so sagen darf. Du bist kein Kind mehr, und du wirst wissen, worauf meine Frage zielt. Hast du in letzter Zeit beobachten können, dass zwischen deiner Stiefmutter und Onkel Carl irgendetwas – wie soll ich es ausdrücken? – Ungewöhnliches passiert ist?«

Max blickte seinen Vater an. Zum ersten Mal hatte er nicht »Mutter« gesagt, sondern »Stiefmutter«. Er nickte langsam und sagte leise: »Ja. Das bemerke ich schon eine ganze Weile.«

Sein Vater atmete tief durch. »Wenn ich wieder draußen im Feld bin, sei bitte weiterhin höflich und zuvorkommend zu deiner Stiefmutter und hilf ihr, wo du kannst.«

»Du kannst dich auf mich verlassen, Papa.«

Maximilians Stimme klang fest, doch innerlich fühlte er sich den Tränen nahe. Er hätte seinem Vater gern von Annette erzählt, ihm seine Sorge um das Mädchen mitgeteilt, ihn gefragt, warum Menschen wie Annette Rosenthaler verfolgt wurden. Doch er wusste, dass er schweigen musste. Sein Vater war dem Verhältnis zwischen seiner Frau und seinem Bruder auf die Schliche gekommen. Diese Erkenntnis hatte ihn unvorbereitet getroffen, und er befand sich in höchster Erregung. In seiner Wut und Verzweiflung hatte er seine Frau geschlagen. In dieser Situation konnte Max ihn auf keinen Fall mit einem weiteren Problem konfrontieren, noch dazu mit einem, für das ein Sturmbannführer der Waffen-SS keinerlei Verständnis haben würde. Maximilian musste das Geheimnis, das er mit seiner Stiefmutter und seinem Onkel teilte, weiterhin für sich behalten.

Als Heinrich von Paalsick wenige Minuten später in den Garten ging, beobachtete Max ihn vom Fenster seines Zimmers. In leicht gebückter Haltung blieb sein Vater plötzlich stehen. Beinahe kraftlos stützte er seine Hände an den nassen Stamm eines der Obstbäume. So verharrte er eine Weile unbeweglich. Schneeflocken bedeckten sein spärliches Haar. Plötzlich bemerkte Max, dass die Schultern seines Vaters heftig zuckten. Er weinte hemmungslos. Mit dem Ärmel seines Pullovers wischte er sich die Tränen ab, schluchzte und sah erbärmlich aus.

Max war bei diesem Anblick so erschüttert, dass er hastig einen Schritt zurücktrat. Noch nie hatte er seinen Vater weinen sehen. Wie inmitten eines unsichtbaren Schlachtfelds stand er im Garten. Ein geschlagener Held, der den Kampf und auch die Ehre verloren hat. Max spürte eine Welle von Mitleid in sich aufsteigen. Wie gern wäre er in den Garten gelaufen, um seinem Vater zu sagen: Wein doch nicht! Das ist sie doch gar nicht wert. Du bist nicht allein! Ich bin da, dein Sohn, ich verstehe deinen Schmerz. Ich selbst habe auch einen Schmerz. Und ein Geheimnis, das ich dir gern anvertrauen würde …

Doch Max wusste, dass er diesen Schritt nicht machen durfte. Ein Mann wie sein Vater würde ihm nicht verzeihen, dass er ihn schwach und hilflos gesehen hatte. Auch Annettes Geschichte, die gleichzeitig seine eigene geworden war, durfte er nicht erzählen.

Eine Stunde später hatte Heinrich seine Uniform angezogen und sein Gepäck bereitgestellt. Maximilian begleitete ihn zum Bahnhof. Eine feine Schicht Schnee bedeckte ihre Mützen und Uniformjacken. Ohne große Begeisterung erzählte Max von seinem Aufenthalt auf der Ordensburg, um die Zeit zu überbrücken. Heinrich stellte wenige Fragen, er schien mit den Gedanken anderswo zu sein. Nachdem sie fünfzehn Minuten auf dem Bahnsteig gewartet hatten, kam der Zug.

Die beiden umarmten sich, bevor Heinrich einstieg. Max sah ihm lange nach, Tränen liefen ihm übers Gesicht. Auf dem Weg nach Hause nahm er sich vor, seine Stiefmutter so lange unter Druck zu setzen, bis sie ihm die Telefonnummer seines Onkels im OKW verraten würde. Er musste in Erfahrung bringen, was mit Annette geschehen war.