Dreiunddreißigstes Kapitel

Seit Heinrichs Abreise hatte Else mit ihrem Stiefsohn kaum ein Wort gewechselt. Wochen waren vergangen. Hin und wieder kochte sie Maximilian das Essen, wusch und bügelte seine Wäsche. Er kümmerte sich um den täglichen Holz- und Kohlevorrat für die Öfen, beseitigte den Schnee, der seit Weihnachten in großen Mengen fiel. So wenig wie möglich hielt er sich zu Hause auf. Neben seiner Tätigkeit auf der Post versah er manchmal abends Hilfsdienste im Krankenhaus, das mit verwundeten Frontsoldaten belegt war. Zu den Kameradschaftsabenden der HJ kam Max als Erster und ging als Letzter.

Von Heinrich hatte Else keine Nachricht erhalten. Maximilian erzählte ihr nicht, dass sein Vater ihm von der Front schrieb. Bei seinem Einsatz auf dem Rathenower Postamt achtete er genau darauf, ob Feldpostbriefe für die Familie von Paalsick eingingen oder aufgegeben wurden. Auf diese Weise fing er die Briefe seines Vaters ab und versteckte sie abends im Holzschuppen. Er bekam auch Kenntnis von der Korrespondenz zwischen seinem Onkel Carl und seiner Stiefmutter.

Vier Briefe kamen von der Westfront, wo Carl in der 7. Armee kämpfte. Else hatte stets postwendend geantwortet. Maximilian sortierte diese Korrespondenz wie alle anderen Sendungen. Dann blieben die Briefe plötzlich aus. Else schickte noch zwei weitere Schreiben an Carl, doch eine Antwort erhielt sie nicht. Stattdessen entdeckte Max eines Tages ein Schreiben an seine Stiefmutter mit dem Absenderstempel Oberbefehlshaber 7. Armee. Als Max am nächsten Tag nach Hause kam, erschien ihm Else niedergeschlagen und bedrückt. Beim Abendbrot richtete sie dann plötzlich das Wort an ihn.

»Onkel Carl ist in amerikanischer Gefangenschaft. Das vermutet man jedenfalls.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Aber Genaues wissen sie nicht. Sein Gefechtsabschnitt wurde vom Gegner eingenommen. Vielleicht wurde er verwundet.«

Ungerührt aß Maximilian weiter. Das Schicksal seines Onkels war ihm gleichgültig. Plötzlich brach Else in Tränen aus und stand abrupt vom Abendbrottisch auf.

Am 14. Januar 1945, einem Sonntag, verließ Else gegen elf Uhr mit dem Kinderwagen das Haus. Es war ein strahlend schöner, kalter Wintertag. Vicky lag warm eingepackt im Wagen.

Max saß in der Küche und frühstückte. Draußen im Garten flogen die Meisen auf die Äste der Obstbäume und wirbelten den Schnee herunter. Er überlegte, was er heute machen wollte, an seinem einzigen freien Tag der Woche. Im Keller standen seine Skier. Sollte er eine längere Wanderung unternehmen, am Ufer der Havel entlang bis Mögelin? Während er noch überlegte, klingelte es an der Haustür.

Als er öffnete, stand ihm ein älterer Mann gegenüber und fragte: »Ist deine Mutter zu Hause?«

»Nein«, erwiderte Max. »Worum geht es denn?«

»Hier ist ein Telegramm gekommen. Gib es deiner Mutter, wenn sie zurückkommt. Heil Hitler!«

Wie betäubt verharrte Max an der offenen Haustür, die Augen starr auf das Schreiben gerichtet. Die Sonne blendete ihn und wärmte sein Gesicht. In der Ferne bellte ein Hund. Friedlich lag die verschneite Straße in der Winterlandschaft. Max schloss die Haustür hinter sich, riss den Umschlag auf und las den Inhalt.

»Zu unserem Bedauern teilen wir Ihnen mit … für Führer und Vaterland gefallen …« Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Eine Unterschrift, ein Stempel der Wehrmachtsauskunftsstelle.

Minutenlang stand Max reglos da. Er ahnte, was die Nachricht vom Tod seines Vaters bedeutete. Wenn sein Onkel aus der Gefangenschaft zurückkehrte, würde er die Stiefmutter heiraten. Der Verrat an seinem Bruder, an Maximilians Vater, fände darin seine Krönung. Wie in Trance ging er in sein Zimmer und zog warme Kleidung an. Aus dem Keller holte er die Skier. Als er sie draußen anschnallte, sah er seine Stiefmutter mit dem Kinderwagen in die Straße einbiegen. Mit kräftigen Schritten und energischen Stockstößen fuhr er in entgegengesetzter Richtung davon. Trauer und Verzweiflung trieben ihn an, immer schneller durch den lockeren Pulverschnee zu gleiten. Als er das Flussufer erreichte, hielt er inne. Er ließ sich in den Schnee fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Weithin ertönte sein Schluchzen. Niemand war da, der es hören konnte. Nach einer Weile verstummte er. Sein Körper zitterte vor Kälte. Max stand auf und blickte über die zugefrorene, schneebedeckte Havel. Schwärme von Krähen überflogen den Fluss, ihr krächzender Schrei durchschnitt die klare Luft. Dann wendete er die Skier und fuhr langsam zurück.

Als er seinen Schlüssel ins Schloss steckte, stand Else im Flur, als habe sie auf ihn gewartet. Sie musterte ihn kurz.

»Du weißt es ja schon, Maximilian. Es ist schrecklich …« Sie wandte sich ab und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Max ließ die Tür zufallen und packte Else am Arm. Sein Gesicht war verzerrt vor Wut und Verzweiflung.

»Jetzt tu bloß nicht so, als würdest du um ihn trauern!«, schrie er. »Etwas Besseres hätte euch doch gar nicht passieren können! Wenn Onkel Carl in Gefangenschaft ist, kommt er doch sicher irgendwann zurück. Aber mein Vater kommt nicht zurück! Ihr beide habt ihn in den Tod getrieben!«

Else entwand sich seinem Griff und trat einen Schritt zurück. Sie nahm die Hände vom Gesicht, dessen Ausdruck reglos und hart war. Keine Träne hatte sie vergossen. Mit kaltem Blick fixierte sie ihn.

»Ich werde dafür sorgen, dass du so bald wie möglich hier wegkommst! Verlass dich darauf! Du bist jetzt Vollwaise, dafür gibt es Gott sei Dank entsprechende Einrichtungen!«

Sie ging ins Wohnzimmer und knallte die Tür zu.

In den folgenden Wochen erledigte Max schweigsam und gewissenhaft seine Arbeit. Die Kameraden auf der Post wussten, dass sein Vater in Budapest gefallen war. Er war nicht der Einzige, der einen Angehörigen im Krieg verloren hatte, aber das erschien ihm wenig tröstlich. Die Nachricht vom Tod seines Vaters hatte zwiespältige Gefühle in ihm ausgelöst. Obgleich Heinrich von Paalsick ein überzeugter Nazi und Judenhasser gewesen war, war er doch sein Vater. Und nie würde Max das Bild des zusammengesunkenen, weinenden Mannes im Garten hinter dem Haus vergessen, eines Menschen, der zutiefst erschüttert und gebrochen wirkte.

Nachts schlief Max wenig und unruhig, weil die Zukunft ihm düster erschien. Annette, seine einzige Vertraute der letzten Monate, lebte vermutlich nicht mehr. Überall herrschten Schrecken und Tod. Immer wieder versuchte Max, sich vorzustellen, wie sein Vater wohl gestorben sein mochte. Durch einen Schuss? Einen Granatsplitter? Im Kampf Mann gegen Mann? Was war sein letzter Gedanke gewesen? Auf all diese Fragen würde es nie eine Antwort geben. Das Gefühl der Verzweiflung legte sich über seine Seele wie Eis über einen See.

Zwei Tage später entdeckte er in der eingehenden Post ein Schreiben ohne Absender, das an ihn gerichtet war. An den Hitlerjungen Maximilian von Paalsick, Stendaler Str. 3, Rathenow, stand auf dem grauen Kuvert. Max kannte die Handschrift. Sein Herz begann, wie wild zu pochen. Er steckte den Brief in seine Hosentasche und ging auf die Toilette. Mit zitternden Fingern öffnete er den Umschlag. Er enthielt ein liniertes, helles Blatt, auf dem nur ein einziger Satz geschrieben stand:

Die Geschwindigkeit der Stille.

Er stutzte, runzelte die Stirn, dann fiel es ihm wieder ein. Das Gespräch mit Annette vor vielen Wochen im Keller des Hauses! Kein Zweifel, dies war eine Botschaft von ihr, ein Lebenszeichen!

Auf der unteren Hälfte des Blattes gab es eine einfache Zeichnung mit einem Haus, das aussah wie ein Bauernhof. Auf dem Dach saß ein Vogel. Daneben stand in Druckbuchstaben: S. 6 Km. Eine Skizze, ein Lageplan? Lebte Annette dort? Wo konnte das sein? Was hatte der Vogel für eine Bewandtnis? Dem Poststempel auf dem Brief entnahm Max, dass er in einem Ort namens Schernebeck aufgegeben worden war.

Max schlug die Hände vors Gesicht. Sie zitterten. Annette lebte! Onkel Carl hatte ihn nicht belogen, sondern tatsächlich sein Wort gehalten wie ein Ehrenmann. Er mochte ein Ehebrecher sein, ein Mörder und Verräter war er nicht.

Auf der großen Landkarte der Altmark, die in der Schalterhalle des Postamtes hing, suchte er in seiner Mittagspause den Ort zunächst in der Nähe von Neuruppin. Nach einer Weile fand er einen Ort namens Schernebeck, südwestlich von Rathenow gelegen, am Rand der Colbitzer Heide.

S. 6 Km … Das musste es sein!

Am Abend teilte Maximilian seiner Stiefmutter mit, dass er zu einem zweiwöchigen Flakhelfer-Lehrgang nach Potsdam abkommandiert sei.

»Bist du dafür nicht zu jung?«, wollte sie wissen.

»Nein. Die nehmen jetzt jeden, der sich freiwillig meldet.«

Am nächsten Morgen packte er seinen Rucksack, versorgte sich mit Proviant und nahm seinen Schlafsack. Das, was er vorhatte, war nicht ungefährlich. Ein Hitlerjunge, der sich unerlaubt von seiner Gruppe entfernt, galt als Deserteur, wie ein Soldat, der seine Einheit verlässt.

Ein grauer Himmel drückte auf das verschneite Land, als Max zum Bahnhof ging. Am Schalter kaufte er eine Fahrkarte nach Tangermünde.

»Was willst du denn in Tangermünde?«, fragte ihn der Schalterbeamte.

»Da wohnt meine Tante. Sie ist krank und hat sonst niemanden.«

»Weiß dein Gefolgschaftsführer denn Bescheid?«

»Ja, klar!« Max steckte Fahrkarte und Wechselgeld ein. »Heil Hitler!«, stieß er hastig hervor und ging hinaus.

In dem Moment betrat Bahnhofsvorsteher Weber, der Vater von Gefolgschaftsführer Fritz Weber, die Schalterhalle durch den hinteren Eingang. Erstaunt blickte er Maximilian nach. Der bemerkte ihn nicht.