Am Tag seiner Abfahrt aus Rathenow kam Maximilian abends in Tangermünde an. Von dort aus hatte er den Bus nach Tangerhütte genommen.
Die Fenster der Häuser waren verdunkelt, erneut hatte Schneetreiben eingesetzt. Max ging durch die dunklen Straßen des Städtchens und begegnete nur wenigen Menschen; sie beachteten ihn nicht. Auf der Suche nach einem Platz zum Übernachten erreichte er am Ortsausgang ein verfallenes Haus. Die Tür war vernagelt, die Scheiben eingeschlagen. Durch den unverschlossenen Hintereingang gelangte er ins Innere. Die Räume waren leer, doch voller Schmutz und Unrat. Max suchte sich eine geschützte Ecke im oberen Stockwerk und rollte seinen Schlafsack aus. Trotz der Kälte schlief er bald ein.
Am nächsten Tag, nach einem provisorischen Frühstück, packte er seinen Rucksack. In Tangerhütte hatte er sich auf dem Bahnhof eine Landkarte der Umgebung gekauft und mit einem Bleistiftstummel den Ort Schernebeck markiert.
S. 6 Km, so stand es in Annettes Brief. Das konnte bedeuten: nach Schernebeck sechs Kilometer. Ein Radius von sechs Kilometern rund um den Ort führte nach Westen in die Colbitzer Heide, nach Osten ins Flussgebiet des Tanger, nach Norden und Süden in kleinere Ortschaften. Wenn Annette von Mittelsmännern der Organisation versteckt wurde, dann sicher in einem einsam gelegenen Gebiet.
Während er seine Sachen packte, stutzte er. Dann stockte ihm der Atem. Die Karte war verschwunden! Hatte er sie unterwegs verloren? Im Bus liegen lassen? Fieberhaft suchte er rund um sein Nachtlager. Vergeblich. Jetzt war es ohnehin zu spät. Max versuchte, ruhig zu bleiben. Der Verlust der Karte hinderte ihn nicht an seinem Vorhaben. Hoffnung ist, wenn man nach vorn blickt.
Über die verschneite Landstraße machte er sich auf den Weg nach Schernebeck. Es kümmerte ihn nicht, dass sein Vorhaben der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen glich. Der unbedingte Wille, Annette zu finden, trieb ihn vorwärts. Die Sehnsucht nach ihr gab ihm Kraft, den Schmerz über den Tod seines Vaters zu ertragen. Nach einer Viertelstunde Fußmarsch überholte ihn ein Pferdefuhrwerk. Auf dem Kutschbock saß ein alter Mann, die schneebedeckte Mütze tief ins Gesicht gezogen.
»Wo willst du denn hin? Na los, steig auf, du kannst ein Stück mitfahren!«
Nach kurzem Zögern folgte Max der Aufforderung.
»Kurz vor Schernebeck biege ich aber ab«, murmelte der Alte. »Da musst du dann zu Fuß weitergehen. Wohin geht denn die Reise?«
Max erzählte ihm die Geschichte von der kranken Tante, die er besuchen müsse. Er war jedoch vorsichtig genug, nicht Schernebeck als ihren Wohnort anzugeben, sondern Gardelegen.
»Was? Da willst du hin? Das ist ja quer durch die Heide!«
Max zuckte mit den Schultern und schlug den Kragen seiner Jacke hoch. Einige Kilometer weiter brachte der Mann das Pferd zum Stehen, und Max stieg vom Wagen.
»Dann viel Glück«, rief ihm der Alte nach, bevor er in einen tief verschneiten Waldweg einbog.
Eine halbe Stunde später erreichte Max den Ort. Es war später Vormittag. Vor dem Rathaus parkten einige Pferdefuhrwerke und zwei Kübelwagen der Wehrmacht. Die wenigen Geschäfte auf der Hauptstraße hatten geöffnet. Auf dem Postamt, einem kleinen, schmucken Bau, standen die Menschen vor dem einzigen Schalter Schlange. Max ging hinein, um sich ein wenig aufzuwärmen.
Der Tag verging, ohne dass irgendetwas Nennenswertes geschah. Maximilian streifte mehrere Male durch den kleinen Ort in der Hoffnung, einen zufälligen Hinweis auf Annettes Aufenthaltsort zu erhalten. Am späten Nachmittag beschloss er, in der Gaststätte »Das Deutsche Haus«, gegenüber der Kirche, einen Teller heiße Suppe zu essen. Anschließend würde er den Ort verlassen und den Weg nach Westen einschlagen. Im Schutz der Dunkelheit wollte er nach einsamen Gehöften suchen.
Im Licht der Wintersonne glühte der Tag noch einmal auf. Auf dem Dach der Kirche glitzerte der Schnee in rötlichen Farben. Kinder zogen ihre Schlitten durch die Straßen. Die Temperatur war gefallen, Max schätzte sie auf wenigstens zehn Grad unter null.
Die Gaststätte war nur mäßig besucht. Eine miefige Wärme, vermischt mit dem Geruch nach Zwiebeln, Kohl und Tabakrauch, empfing den Jungen. Er suchte sich einen seitlich gelegenen Tisch. Niemand beachtete ihn. Am Stammtisch, unweit des Tresens und schräg gegenüber von Maximilians Platz, saßen drei ältere Männer beim Skatspiel, unter ihnen ein Mann in brauner Uniform, dem Rangabzeichen nach der Kreisleiter. Sie lachten, redeten laut und bestellten soeben eine neue Runde Bier mit Korn.
Die Kellnerin, ein junges Ding mit roten Wangen, Brille und schmuddelig weißer Bluse zum schwarzen Rock, blickte Max ein wenig skeptisch an.
»Dich kenne ich ja gar nicht!« Max sah, dass sie schielte.
»Ich bin nicht von hier«, erwiderte er. »Ich hätte gern einen Teller Kartoffelsuppe.«
»Haben wir nicht. Nur Wirsingsuppe. Willst du die?«
»Ja, bitte.« Max nickte.
Die Kellnerin warf ihm noch einen kurzen Blick zu und ging in die Küche.
Wenig später stellte sie einen dampfenden Teller auf den Tisch und legte einen Löffel dazu.
»Fünfzig Pfennig«, sagte sie. »Zahlen kannst du später, wenn du fertig bist.«
Bedächtig aß Max die Suppe. Sie war heiß, und er passte auf, dass er sich nicht den Mund verbrannte. Gern hätte er eine Scheibe Brot dazu bestellt, doch er unterließ es, um keine weiteren Fragen der Kellnerin zu riskieren.
Die Eingangstür wurde geöffnet, und eine stämmige Frau ungewissen Alters betrat die Gaststube. Zielsicher ging sie zum Stammtisch und tippte einem der Männer auf die Schulter.
»Erwin, ich glaube, es wird Zeit!«
Der Mann namens Erwin teilte gerade die Karten aus.
»Nur dieses eine Spiel noch, Gerda. Ist doch sowieso gleich dunkel draußen! Setz dich zu uns und trink einen Schnaps. Es wird kalt auf der Rückfahrt.«
Er und seine Mitspieler nahmen die Karten auf. Die Frau ließ sich seufzend auf einem Stuhl nieder und winkte der Kellnerin.
»Bringst du mir einen Korn, Rosemarie?«
»Sofort, Frau Fink. Sie auch noch einen, Herr Fink?«
Erwin hob abwehrend die Hand. Die Frau wandte sich erneut an ihn und warf einen Blick in sein Blatt.
»Aber danach ist wirklich Schluss! Wir müssen das Vieh füttern und die Kühe melken. Das wird sonst alles zu spät!«
Der Kreisleiter ordnete seine Karten und meinte: »Ihr hättet den Fremdarbeiter nehmen sollen, den ich euch im Oktober zuteilen wollte. Bis heute verstehe ich nicht, warum ihr mein Angebot abgelehnt habt. Erst stöhnt ihr rum, ihr schafft die Arbeit nicht mehr allein, und dann …« Er schüttelte den Kopf.
Erwin ging nicht darauf ein. Stattdessen deutete er auf seine Karten und meinte: »Komm, lass uns weiterspielen, Gustav.«
Während Max seine Suppe löffelte, hatte er das Gespräch verfolgt und war hellhörig geworden. Allmählich erkannte er einen Sinn, eine Logik in den Worten dieser Menschen. Ein Puzzle setzte sich zusammen. Der Skat spielende Mann und seine Frau Gerda wohnten offenbar außerhalb von Schernebeck und fuhren bald zurück. Zurück wohin? Auf ein Gehöft, auf dem Vieh versorgt werden musste … Der Familienname der beiden lautete Fink. Der Kreisleiter hatte den Leuten einen Fremdarbeiter angeboten, als Hilfskraft auf dem Hof. Obwohl sie offenbar selbst dringend um diese Arbeitskraft gebeten hatten, war das Angebot plötzlich von ihnen ausgeschlagen worden. Im Oktober, zu der Zeit, als Annette Rathenow verlassen hatte …
Maximilian hielt sekundenlang den Atem an. All das konnte kein Zufall sein! Das Bild von Annettes Zeichnung schob sich vor sein inneres Auge. Der Vogel auf dem Dach – war das der verschlüsselte Hinweis auf den Familiennamen der Menschen, die sie versteckten? Oder sah er Gespenster? Versuchte er krampfhaft, einen Zusammenhang herzustellen, wo es keinen gab?
Er nahm seinen Rucksack und ging zum Tresen, legte ein Fünfzigpfennigstück auf das dunkle Holz und verließ »Das Deutsche Haus«.
Inzwischen war die Dunkelheit hereingebrochen, der Ort beinahe menschenleer. Max ging die Straße hinunter und stellte sich in einen Torbogen. Von hier aus hatte er den Eingang des Gasthofs gut im Blick. Wenig später bestiegen die Eheleute Fink einen Pferdeschlitten, der vor der Wirtschaft stand.
Eine sternenklare, bitterkalte Nacht kündigte sich an. Der scharfe Wind wirbelte Max die Schneekristalle ins Gesicht. Von allen Seiten kroch ihm die Kälte in die Glieder.
In einiger Entfernung fuhr der Pferdeschlitten in westlicher Richtung. In regelmäßigen Abständen säumten Bäume die Allee, deren kahle, schwarze Äste sich wie beschwörend zum nachtblauen Himmel streckten.
Nach einer Dreiviertelstunde bog der Schlitten in einen Weg ein, der über eine offene Ebene führte. In der Ferne sah Max die Umrisse eines Gehöfts. Der Schlitten steuerte geradewegs darauf zu.
Es war kurz nach neunzehn Uhr. Max holte sein Fernglas aus dem Rucksack. Als er den Bauernhof ins Visier nahm, erkannte er weitere Einzelheiten.
Über eine steile Böschung kletterte er durch tiefe Schneeverwehungen nach oben in einen Tannenwald und gelangte an die Rückseite eines der Gebäude. Von hier aus überblickte er einen Teil des Hofes. Zwischen den Gebäuden stand ein großer Hund und knurrte. Max war einen Augenblick wie gelähmt. Er beugte sich ein wenig nach vorn und sagte mit flüsternder Stimme: »Ruhig, ganz ruhig! Kein Grund zur Aufregung, ganz ruhig.« Das Knurren verstummte einen Augenblick und verstärkte sich dann. In dem Moment wurde die Tür des Bauernhauses geöffnet, und eine Stimme rief: »Hasso, wo bist du? Komm her zu Frauchen!«
Es war die Stimme einer Frau. Der Hund reagierte nicht, knurrte bedrohlich weiter. Die Frau ging ein paar Schritte über den Hof, blickte sich suchend um und rief erneut nach dem Hund.
Der wandte sich in diesem Moment von Max ab und lief zum Hauseingang.
Maximilian atmete auf. Seine Hände waren schweißnass, und sein Herz pochte wie wild. Dass der Hund nicht gebellt und ihn dadurch verraten hatte, ermutigte Max zu seinem nächsten Schritt. Langsam glitt er den Abhang hinunter und schlich durch den Spalt zwischen den Gebäuden an die Hausecke.