»Los, raus! Frühstück gibt’s nicht. Für solche wie dich jedenfalls nicht.«
Die Wärterin im Gefängnis Stendal, eine hochgewachsene Mittzwanzigerin mit grobknochigem Körperbau, stand breitbeinig im Gegenlicht der offenen Zellentür und maß Annette mit einem geringschätzigen Blick. Ihre Augen lagen schräg und weit auseinander, als hätte einer ihrer Vorfahren einen asiatischen Einschlag gehabt. In den zu kurz geratenen Ärmeln der Aufseheruniform wirkten ihre geschrubbten Hände wie rosa Schaufeln. Hände, die zuschlagen konnten, wie Annette nur zu gut wusste. Hände, die jetzt mit einer wedelnden Herrschergeste zur Zellentür wiesen.
»Na los, los! Ich sag’s nicht noch mal!«
Annette schob die harte Militärdecke zurück und sprang auf. Sofort wurde ihr schwindelig. Benommen sank sie zurück auf die Holzpritsche.
In der Nacht hatte sie vor Kälte, Hunger und Schmerzen gezittert und kein Auge zugetan. Hinzu kam die Sorge um Max. Hatte er rechtzeitig fliehen können, oder war er von den Häschern am nächsten Morgen aufgespürt worden? Fritz Weber und dessen Vater, die Nachbarn aus der Sandstraße, würden alles daransetzen, Max zur Verantwortung zu ziehen. Alles würde ans Licht kommen, und die Familie von Paalsick wäre verloren. Wie hatten die Webers und die SS-Leute überhaupt Kenntnis davon erhalten, wo Max sich befand? War er beobachtet worden? Möglicherweise hatte er sie unwissentlich zu ihrem Versteck geführt. Sollte dies der Fall gewesen sein, wäre das ein katastrophaler Fehler und allein ihr Verschulden gewesen. Nie hätte sie ihm ein Lebenszeichen zukommen lassen dürfen! Doch ihre Sehnsucht nach ihm, ihr Wunsch, dass er sich keine Sorgen um sie zu machen brauchte, waren stärker gewesen als alle Vernunft. Erwin, der Bauer, hatte recht gehabt. Auf erschreckende Weise hatten sich seine Befürchtungen bewahrheitet. Nun war die Bäuerin tot, und sie befand sich in Lebensgefahr.
Nach ihrer Verhaftung auf dem Gehöft der Finks waren die SS-Leute mit ihr hierhergefahren. Es gab kein Verhör, kein Essen, nichts zu trinken. Nur die gezielten Schläge der Gefängniswärterin, gleich nachdem Annette in die Zelle gebracht worden war. Ihr Schluchzen und Weinen ließ die Wärterin noch gewalttätiger werden. Das Blut auf ihren aufgeplatzten Lippen war inzwischen verkrustet. Die Schwellung am linken Auge drückte die Lider zusammen, sodass sie kaum etwas sehen konnte.
Mit einem kantigen Griff zog die Wärterin sie von der Pritsche und stieß sie nach vorn.
Annette hatte nur einen Wunsch: dass es möglichst schnell gehen möge. Ein rascher Tod, auf welche Weise auch immer. Diesmal würde es kein Entrinnen geben. Erneut begann sie zu schluchzen. Hinter ihr fiel die Zellentür ins Schloss.
Eine niedrige Eisentür. Ein quadratischer Raum ohne Fenster. Ein Tisch, zwei Stühle. An der Decke eine nackte Glühbirne. Ein Gestapomann in Zivilkleidung. Der Geruch von Schweiß und Niedertracht.
Panik. Sie liegt am Boden, ihr linker Arm schlägt in wildem Takt hin und her. Blank gewichste Stiefel treten auf ihr Handgelenk, um das Zucken zu beenden.
»Hör endlich auf damit! Namen, ich brauche Namen!«
Sie hatte eine Geschichte erzählt, die er ihr nicht glaubte, Namen erfunden, falsche Fluchtwege geschildert. Immer brutaler hatte der Mann sie ins Gesicht und auf den Oberkörper geschlagen.
Nachdem sie lange Zeit auf dem schmuddeligen Linoleumfußboden des Verhörzimmers gelegen hatte, immer wieder das Bewusstsein verlierend, riss dem Folterer der Geduldsfaden. Ein letztes Mal schrie er sie an.
»Schade, dass wir dich noch brauchen. Am liebsten würde ich dich …« Er beendete den Satz nicht und zündete sich eine Zigarette an. Als er sein Feuerzeug weggesteckt und den Rauch hastig und ruckartig ausgestoßen hatte, fuhr er fort: »Euch Judenpack verdanken wir, dass der Krieg verloren geht und der Iwan bereits die Tür nach Berlin eingetreten hat!« Ein Fußtritt in den Bauch, der ihr den Atem raubte, unterstrich seine Rede.
Annette vernahm diese Worte von weit her. Sie glitten vorbei wie so viele Demütigungen und Anfeindungen der letzten Jahre.
Wenig später wurde sie auf einem Lkw abtransportiert. Durch die Sichtschutzplane des Wagens spähte sie nach draußen. Sie sah nur den schmalen Ausschnitt eines stumpfen Himmels voller Schneewolken.
Wie schnelle Hammerschläge klopfte ihr linker Arm an die Eisenplanke des Wagens. Annette bemerkte es nicht.
Man brachte sie in ein Lager nach Magdeburg.