Im Februar 1945 verließ die junge Witwe Baronin Else von Paalsick mit ihrer Tochter Viktoria, genannt Vicky, bei eisigen Temperaturen Rathenow.
Max war zu diesem Zeitpunkt spurlos verschwunden. Ihn als vermisst zu melden und suchen zu lassen, das erschien Else nicht der Mühe wert. Er war alt genug, sich durchzuschlagen. Sein Schicksal lag nicht in ihrer Verantwortung. Von Carl gab es seit der deutschen Niederlage in den Ardennen kein Lebenszeichen. Hoffentlich war er in amerikanische Gefangenschaft geraten! Der Gedanke, dass er gefallen sein könnte, war so schrecklich, dass sie ihn sogleich beiseiteschob.
Seit Tagen waren Wehrmachtskolonnen durch Rathenow gezogen und nach Westen gefahren. Nachbarn hatten berichtet, dass südöstlich von Berlin große Flüchtlingstrecks aus den Ostgebieten eingetroffen waren. Dort hatten die Russen riesige Landstriche erobert. Schreckensnachrichten über Gräueltaten der Roten Armee verbreiteten sich wie ein gefährliches Fieber. Jetzt war rasches Handeln gefragt. So hatte es Else ihr Leben lang gehalten. Sie und ihr Kind würden nicht zu denen gehören, die der russischen Soldateska in die Hände fielen.
Sie wollte versuchen, sich bis nach Berghausen, Bezirk Weimar, durchzuschlagen. Dort lebten ihre Mutter Gertrud, ihr Stiefvater Franz Ruckhaber und die drei jüngeren Stiefgeschwister. Dieser Plan rief sowohl Hoffnung als auch Abwehr in ihr wach. Hoffnung, weil die Chance bestand, dass von Süden und Westen her die Amerikaner einrückten und nicht die Russen. Gleichzeitig jedoch bedrückte es sie, in die Kleinbürgerlichkeit des Ruckhaberschen Hauses und die Enge des Dorfes zurückzukehren. In die Welt ihrer Kindheit und Jugend, als das verächtlich geflüsterte Wort »Bastard« ihr gegolten hatte. Als ihre Sehnsucht, diesem Leben zu entfliehen, so übermächtig in ihr loderte, dass sie die erstbeste Gelegenheit wahrgenommen hatte, Berghausen zu verlassen. Nun kam sie zurück als eine andere. Als eine, die es geschafft hatte, als junge Baronin und Witwe eines Vaterlandsverteidigers.
Doch würden die Menschen im Ort ihren gesellschaftlichen Aufstieg akzeptieren und ihr mit dem nötigen Respekt begegnen? Oder gäbe es immer noch die abschätzigen Blicke von früher, als wilde Gerüchte im Dorf kursierten, wer wohl ihr Vater sei? Einmal hatte der Pfarrer sie als »Kind der Sünde« bezeichnet und ihr dabei bedeutungsvoll seine Hand auf den Kopf gelegt, als würde Gott selbst ihr den Makel der Geburt anlasten.
An den Ort ihrer Kindheit und Jugend zurückzukehren, war so, als würde ein Schwimmer, der schon das rettende Ufer erreicht hatte, durch tückische Strudel wieder in die Fluten gezogen.
Als wäre es gestern gewesen, erinnerte sie sich plötzlich an den Klassenraum ihrer Schule mit den tintenbeklecksten Pulten, an das dürre Kind mit den blonden Zöpfen, das sie gewesen war, das voller Eifer dem Unterricht folgte. Ihre gesamte Schulzeit über hatte Else in der ersten Bank gesessen. Wie hatte sie sich damals um Wohlwollen und Anerkennung der Lehrerin Fräulein Schönherr bemüht! Sie war keine schlechte Schülerin gewesen, im Gegenteil. Und beim Singen der Hymnen und Volkslieder stach ihre klare, schöne Stimme stets heraus. Doch die Lieblingsschülerin der Lehrerin hieß Paula Raschdorf, Tochter der angesehenen Familie von Anwalt und Notar Dr. Hans Raschdorf. Einmal hatte Paula alle Mitschüler der Klasse zu ihrem Geburtstag nach Hause eingeladen. Die großzügige Villa, in der die Familie lebte, die beiden Dienstmädchen, die Kakao und Kuchen servierten; Paulas elegante, nach einem fremdländischen Parfüm duftende Mutter, die so nett und warmherzig mit Else geplaudert und ihr noch zwei Stücke Sahnetorte mit nach Hause gegeben hatte … Dies war eine Welt, die Else unerreichbar schien. Während sie zu Hause in einer winzigen, ungeheizten Kammer schlief, bewohnte Paula Raschdorf ein Zimmer halb so groß wie die gesamte Grundfläche des Ruckhaberschen Häuschens, mit Zentralheizung und eigenem Badezimmer.
Else setzte alles daran, sich mit Paula anzufreunden. Sie machte ihr kleine, selbst gebastelte Geschenke und trug ihr den Schulranzen nach Hause. Paula nahm all dies huldvoll entgegen, zeigte jedoch kein Interesse an einer Freundschaft. Paulas beste Freundin war Anneliese, die Tochter des reichen Gutsbesitzers Großkurth. Die Großkurths besaßen mehrere Reitpferde, und Paula hatte schon frühzeitig Reitunterricht bekommen. Else erkannte, dass sie einem Mädchen wie Paula nichts bieten konnte und ihre Hoffnung auf Freundschaft vergebens war. Verbitterung über die Ungerechtigkeit des Lebens vergiftete ihr Herz. Eines Tages würde sie es allen zeigen! Das schwor sie sich damals. Nur wusste sie da noch nicht, auf welche Weise das geschehen könnte.
Ein Jahr später verließen Paula und die Gutsbesitzertochter als Einzige aus der vierten Klasse die Volksschule in Berghausen, um das Lyzeum in Weimar zu besuchen. Am letzten Schultag wurden die beiden Mädchen von Fräulein Schönherr mit warmen Worten und besten Wünschen für die Gymnasialzeit und ihren weiteren Lebensweg verabschiedet. Da schossen Else die Tränen in die Augen. Nie im Leben hatte sie eine solche Verzweiflung in sich verspürt. Noch bevor Fräulein Schönherr ihre Rede beendet hatte, rannte Else aus dem Klassenraum. Die scharfe Stimme der Lehrerin, die sie zurückrief, verlor sich sogleich. Else verließ das Schulgelände und lief nach Hause. Im Schuppen hinter dem Haus versteckte sie sich und weinte bitterlich. Einsam und ausgestoßen fühlte sie sich, hintergangen vom Schicksal. Wie lange sie schluchzend in der Ecke neben der Schubkarre gehockt hatte, wusste sie nicht. Erneut hatte sie lernen müssen, dass es im Leben Gewinner und Verlierer gab. Niemals würde sie wieder zu den Verlierern gehören, das schwor sie sich.
An den Geruch im Hause Raschdorf erinnerte sie sich noch lange. Sie hätte ihn nicht beschreiben können, nur dass er eine große Sehnsucht nach Reichtum und Luxus in ihr ausgelöst hatte, das wusste sie.
Ihre Flucht dauerte beinahe zwei Wochen. Mit tagelangen Wartezeiten auf Bahnhöfen, wo die Züge nach dem Zufallsprinzip fuhren, Fahrten auf verdreckten Ladeflächen von Militärlastern mit kriegsmüden Soldaten, die an einen südlichen Frontabschnitt verlegt wurden, langen Fußmärschen durch Schnee und bei zweistelligen Minustemperaturen. Ihre größte Sorge galt Vicky. Was wäre, wenn sie krank würde, hohes Fieber bekäme? Else liebte ihr Kind. Sie verspürte unendliche Zärtlichkeit und großes Verantwortungsgefühl für die Kleine. Sie hatte etwas in Else geweckt, das diese nicht in sich vermutet hätte. Sie, die kühl Kalkulierende und auf ihren Vorteil Bedachte, hatte zunehmend das Uneigennützige, Gebende in sich entdeckt. Sie trug Verantwortung für ein hilfloses Wesen. Ihr Kind beschützen zu müssen, löste ein unbekanntes Glücksgefühl in Else aus und gab ihr Kraft, die Strapazen der Flucht zu überstehen. Vicky schien dies zu spüren und dankte es Else, indem sie unterwegs wenig weinte, viel schlief und so ihrer Mutter manches erleichterte. Nachts, auf zugigen und provisorischen Nachtlagern in abgelegenen Scheunen und Wartesälen von Bahnhöfen, hielt Else das Kind eng an ihren Körper geschmiegt. Sie wiegte es in ihren Armen und war immer wieder erstaunt über Vickys dichte und dunkle Wimpern. Wie ein Vorhang aus Seidenfäden verschlossen sie die Augen des Kindes, wenn es schlief.
Anfang März erreichte Else ihr Heimatdorf auf einem Pferdefuhrwerk. Ihre Mutter hatte sich bereits große Sorgen um sie gemacht. Zum ersten Mal sah sie nun ihr Enkelkind und weinte vor Rührung. Franz Ruckhaber zeigte sich distanziert, doch respektvoll. Der Sturmbannführer und Baron Heinrich von Paalsick hatte seinerzeit einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen. Davon profitierte Else jetzt, was ihren Status in der Familie betraf.
Die Ruckhabers waren weitgehend Selbstversorger, mit großem Garten und einem Stück Ackerland. Es gab Kaninchen, Hühner und Gänse. Im Keller lagerten Kartoffeln und allerlei Eingemachtes: Gläser mit Obst und Gemüse sowie Fleisch von einem Schwein, das im Dezember geschlachtet worden war. In Zeiten, in denen ein Krieg verloren geht und die Versorgung langsam zusammenbricht, erweist sich dies als kostbarer Schatz. Milch, Zucker und Mehl bezog Else auf Lebensmittelkarte. Von ihrer Rente als Kriegerwitwe steuerte sie einen Teil für die elterliche Haushaltskasse bei.