Einundvierzigstes Kapitel

Nach ihrer Verhaftung auf dem Bauernhof und dem Verhör durch die Gestapo in Stendal brachte man Annette Anfang Februar 1945 in das Frauen-Arbeitslager Polte-Magdeburg. Dort verloren Zeit und Raum in den kommenden Monaten jede Bedeutung. Die Tage verliefen nach einem monotonen Rhythmus und glichen der Fahrt eines Zuges in ein Niemandsland. Um fünf Uhr Wecken, Zählappell auf dem Hof, ein Kanten glitschiges Brot und ein Napf vergorener Rübensuppe zum Frühstück. Mittags zehn Minuten Pause. Erneut gab es Rübensuppe, doch ohne Brot. Danach weiterschuften bis zum Abend, wo ein Kanten Brot und Wasser von den Kapo-Frauen ausgegeben wurden. Manchmal entfiel das Abendessen, weil das Wachpersonal es willkürlich entschieden hatte. Nach dem abendlichen Zählappell wurde um neun das Licht gelöscht. Völlig erschöpft fiel Annette Abend für Abend auf ihre Pritsche und weinte sich in den Schlaf. Nach einigen Wochen war sie so kraftlos, dass sie nicht einmal mehr weinen konnte.

Die Arbeit im Freien traf sie besonders hart. Blutrote, kalte Morgenhimmel wölbten sich über den Kolonnen ausgemergelter Häftlinge. Oft fiel Schnee, und die Räumarbeiten im zerbombten Magdeburg zehrten an den letzten Kräften. Unter den Trümmern der zerstörten Häuser lagen zerfetzte Leichen. Manche der Bombenopfer lebten noch, verstümmelt und zutiefst verstört. Einmal rettete Annette ein Baby, das wie durch ein Wunder zwischen den Trümmerbergen unversehrt geblieben war. Eine Aufseherin riss ihr das Kind aus dem Arm und trieb sie mit scharfer Stimme an weiterzuarbeiten.

Immer wieder starben Frauen während der Arbeit oder auf dem Rückmarsch ins Lager. Die anderen mussten dann die Leichen wegtragen. Bleierne Schneewolken und unruhige Abendröte begleiteten den gespenstischen Zug.

Wenn sie zur Arbeit in der Munitionsfabrik abkommandiert wurde, empfand sie das als einen Moment der Erleichterung. Hier war es wenigstens wärmer als im Freien. Sie montierte Zünder in Granaten, stanzte Löcher in die Lochkimmen von Panzerfäusten. Ihre Finger hantierten flink, und sie schaffte ihre Norm. Das war wichtig, damit sie nicht den Zorn des Wachpersonals auf sich zog.

Gleich zu Beginn ihrer Lagerhaft hatte sich eine Frau aus ihrer Baracke um Annette gekümmert. Sie hieß Lina. Auch sie war Jüdin. In ihrer Heimatstadt Berlin hatte sie früher als Deutschlehrerin an einem Gymnasium gearbeitet. Trotz langjähriger Lagererfahrung war Lina anders als die anderen Frauen. In all dem barbarischen Elend, in dem der Mensch Gefahr läuft zu verrohen, hatte Lina sich Würde und Anstand bewahrt. Das wölfische Gesetz vom Recht des Stärkeren wandte sie nur an, um sich vor Übergriffen der Mithäftlinge zu schützen. Nie zog sie aus der Schwäche ihrer Mitgefangenen einen Vorteil.

Annette entwickelte Vertrauen zu Lina, erzählte ihr von ihren Fluchterlebnissen und von den Gedichten, die sie in Rathenow geschrieben hatte. Lina ermutigte sie, dieses Talent zu nutzen.

»Wenn du aus dieser Hölle lebend herauskommst, dann schreib über das, was hier geschehen ist!«

Die Monate tröpfelten dahin. Immer mehr Frauen starben an Hunger und Entkräftung. Auch Annette war körperlich in einem schlimmen Zustand. Der Überlebenswille, tief in ihrer Seele verwurzelt, hielt sie am Leben. In dieser Zeit der Hoffnungslosigkeit wurde sie endgültig erwachsen. Ihr sechzehnter Geburtstag war Anfang März. Sie teilte es niemandem mit, nicht einmal Lina.

Der Winter neigte sich dem Ende zu. Unter den Wachleuten im Lager brach zunehmend Unruhe aus, die sich in zusätzlichen Schikanen gegenüber den Häftlingen entlud. Es schien sicher, dass das Kriegsende nah war und Deutschland auf der Verliererseite stand. Lina und Annette fragten sich voller Angst, was mit ihnen geschehen würde, wenn die Truppen der Befreier immer näher rückten.

Eines Nachts, als die große Kälte längst vorüber war und in den Tagen zuvor ein Hauch von Frühlingswind geweht hatte, stürmten Wachen in die Baracken. Sie brüllten Befehle, und bald darauf wurde das Lager evakuiert. Während die Wachleute sich innerhalb kurzer Zeit absetzten, trieben Angehörige des Volkssturms und der Hitlerjugend die Häftlinge in langen Marschkolonnen zum Ufer der Elbe in ein großes Stadion. Panik brach aus. Einige Mithäftlinge versuchten zu fliehen. Die Wacheinheiten eröffneten das Feuer, Dutzende Frauen starben. Nachdem Lina und Annette sich hinter einem der Tribünenpfeiler in Sicherheit gebracht hatten, legte Lina schützend die Arme um Annette und sprach beruhigend auf sie ein.

Plötzlich traf eine Kugel sie in den Rücken. Ohne einen Laut von sich zu geben, brach Lina zusammen und begrub Annette unter ihrem Körper.

Irgendwann waren die Schüsse verhallt und die Schreie der sterbenden Menschen verklungen. Annette schob Lina beiseite. Behutsam bettete sie den leblosen Körper auf die warmen Steinplatten vor der Stadiontribüne. Der beinahe erstaunte Blick aus Linas starren, nussbraunen Augen und der Anflug eines Lächelns auf ihren Lippen brannte sich für immer in Annettes Gedächtnis ein. Lange saß sie da, ihre Hand in der erkaltenden Hand der älteren Freundin. Tränen rannen ihr übers Gesicht, und die unendliche Leere in ihrem Herzen schien wie ein Vorgriff auf ihren eigenen Tod. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass ihr linker Arm in den letzten Wochen nicht ein einziges Mal mehr außer Kontrolle geraten war. Wie von selbst hatte er sich in den Gleichklang der anderen Gliedmaßen eingereiht. Lag es am Übermaß von Angst und Lebensbedrohung in all der Zeit, dass ihr Körper müde geworden war zu reagieren? Oder spürte sie tief in ihrem Innern so etwas wie einen baldigen Neubeginn?

Plötzlich legte sich eine Hand auf ihre Schulter und schüttelte sie sanft.

»Come on, girl, it’s over!«, sagte eine raue Männerstimme. Langsam hob sie den Kopf und blickte in das sommersprossige Gesicht eines jungen Soldaten mit roten, millimeterkurz geschnittenen Haaren.

Entlausung. Heiße Hühnersuppe. Scheiben von weichem, viereckigem Weißbrot, dick bestrichen mit Butter. Ein amerikanischer Militärarzt, der sie im Lazarett der US Army untersuchte und ihr Vitaminspritzen verabreichte. Eine schwarze Krankenschwester, die ein heißes Bad vorbereitete. Ein Bett. Ein richtiges Bett mit weißen Laken, die nach Frische dufteten.

Sie war frei!