Mitte April. Ungewöhnlich sommerliche Temperaturen. Der Krieg war vorbei.
Erste Zugvögel überflogen das Land. Der Flügelschlag der Kraniche mischte sich mit ihren kehligen Schreilauten. Auf der Straße blieben die Menschen einen Moment stehen und legten den Kopf in den Nacken. Manche weinten und wussten nicht, weshalb.
Zögerlich betrachtete Else das taubenblaue Popelinkleid mit den kurzen Ärmeln und der Gürtelschnalle aus Metall. Aus einem billigen Stück Stoff geschneidert, stammte es aus dem Sommer vor ihrer Lazarettzeit und hatte im Eichenschrank ihrer Mutter die Jahre überstanden. Gestern Mittag hatte die Temperatur in Berghausen 24 Grad betragen.
Auch heute, am 16. April, schien sich ein warmer Tag anzukündigen. Gleich nach dem Frühstück wollte Else mit ihrer Mutter nach Weimar radeln. Dort lebte ihre Patentante Anna, die Schwester ihrer Mutter. Stark gehbehindert, konnte sie ihre Wohnung kaum noch verlassen. Ihr Mann Ludwig war noch in letzter Minute zum Volkssturm eingezogen worden und in einer sinnlosen Verteidigungsschlacht gefallen. Seit die Amerikaner vor wenigen Tagen einmarschiert waren, hatte niemand etwas von Tante Anna gehört. Nun wollten Mutter und Tochter nach dem Rechten sehen.
Else streifte das Popelinkleid über. Es passte wie angegossen. Ich habe immer noch die Figur eines jungen Mädchens, dachte sie voller Stolz. Sie drehte sich vor dem Spiegel und blickte dann in ihre minzgrünen Augen, die im Licht des frühen Morgens wie exotische Steine leuchteten. Die schönsten Augen der Welt … Das hatte Carl ihr gleich beim Kennenlernen gesagt.
Else gab Vicky noch das Fläschchen und überließ das Kind der Obhut ihrer jüngeren Schwester Roswitha. Die war inzwischen vierzehn Jahre alt und schien ganz vernarrt in die Kleine. Gleich nach ihrer Ankunft hatte Else Roswitha fürs Waschen der Windeln eingesetzt, so wie seinerzeit das Judenmädchen Annette. Die Zeit, als Maximilian dieses Mädchen angeschleppt hatte, schien unendlich weit zurückzuliegen.
»Wieso hast du Maximilian nicht mitgebracht?«, hatte ihre Mutter gleich nach Elses Ankunft gefragt.
»Er ist weggelaufen. Ein schwieriger Junge. Ich bin mit ihm nicht fertiggeworden«, erklärte Else beiläufig.
»Was wohl aus ihm geworden sein mag? Machst du dir keine Sorgen, Else? Er ist doch noch ein Kind!« Die Stimme der Mutter klang leicht vorwurfsvoll.
»Er wird in diesem Jahr siebzehn! Da ist man kein Kind mehr. Was hätte ich tun sollen? Heinrichs Sohn hat mich immer abgelehnt. Er wäre ohnehin nicht mit mir zusammen weggegangen.«
Elses Stiefbrüder, Werner und Burkhard, waren noch im März als Flakhelfer nach Leipzig abkommandiert worden und erst vor einigen Tagen zurückgekehrt. Niemand aus der Familie Ruckhaber hatte in diesem Krieg sein Leben lassen müssen. Ein freudiger Anlass für ein Festmahl. Zur Feier des Tages wurde eine Gans geschlachtet. Franz Ruckhaber hielt eine kurze Rede in Gedenken an Heinrich, der ehrenvoll für sein Vaterland gekämpft hatte. Else gelang es, ein paar Tränen aus den Augenwinkeln zu quetschen und sich als trauernde Witwe zu zeigen.
Sie hatte die Schlafkammer ihrer Kindheit entrümpelt. Auf ihrem Eisenbett aus Kinderzeiten lag noch die alte Rosshaarmatratze. Mit blauer Farbe strich sie den quadratischen Tisch und die beiden Holzstühle an. Das rostige Kinderbettchen ihrer jüngeren Geschwister fand sich im Schuppen hinter dem Haus. Es half nichts, den schönen Möbeln, dem Eichenschlafzimmer und dem mit Teddybären bedruckten Kinderbettzeug in Rathenow nachzutrauern. Else musste sich arrangieren. Sie würde ohnehin nur so lange bleiben, bis das Leben sich normalisierte. Sollte Carl den Krieg und die Gefangenschaft überlebt haben, würde er nach ihr suchen und sie hier rausholen. Sie selbst hatte bereits eine Suchmeldung beim Roten Kreuz aufgegeben. Oftmals träumte sie von ihm. Zumeist waren es düstere Bildsequenzen, in denen ihr Geliebter in Gefahr schwebte. Auf eigentümliche Weise schienen diese Bilder jedoch in die Ferne zu rücken, je länger der Traum anhielt. Als würde man durch einen umgedrehten Feldstecher blicken. Wenn sie dann erwachte, war Carl ihr wieder so nah, als würde sie seinen Atem neben sich spüren.
Eine halbe Stunde später brachen Else und ihre Mutter auf.
Auf dem Marktplatz wimmelte es von amerikanischen Soldaten, in der Auffahrt vor der Villa von Paula Raschdorfs Eltern standen mehrere Jeeps und Militärlastwagen. Das Anwesen war von den Amerikanern requiriert und zum Hauptquartier bestimmt worden. Paula, deren Mann (ein Arzt aus Weimar) an der Kaukasusfront gefallen war, lebte seitdem mit ihrem kleinen Sohn wieder bei ihren Eltern. Die Besatzer hatten den Raschdorfs ein winziges Zimmer im Souterrain zugewiesen. Paula und ihre Mutter mussten für die amerikanischen Offiziere Essen kochen, putzen und mit ansehen, wie kostbare Möbel, Gemälde, Teppiche sowie Meissner Porzellan beschlagnahmt wurden. Als Else durch eine Nachbarin davon erfuhr, durchströmte sie ein tiefes Gefühl der Genugtuung. Wer hoch fliegt, fällt tief, dachte sie und rief sich das arrogante Kindergesicht ihrer ehemaligen Klassenkameradin ins Gedächtnis. Paulas augenblickliches Los war ein kleines Seelenpflaster für die Kränkungen in Elses Kindheit. Auch für die süffisante Bemerkung der Schlachtersfrau nach Elses Rückkehr: »Ach, die Frau Gräfin! Was wünschen die gnädige Frau?« Dabei hatte sie herablassend gelacht, und die beiden Kundinnen im Laden waren in das Lachen eingefallen.
Nun radelten Else und ihre Mutter am Marktplatz vorbei. Aus den Augenwinkeln nahm Else die Blicke der Besatzer wahr, hörte vereinzelt Pfiffe, die etwas Entblößendes und Besitzergreifendes verströmten. Sie reagierte nicht. Doch sie empfand eine große Scham, gleichzeitig Wut und Verbitterung, nun zum Volk der Verlierer zu gehören. Wie hatte es dazu kommen können, dass plötzlich mitten in Deutschland Kaugummi kauende Soldaten herumlungerten?
Eingebettet in Sonnenlicht, zeigte sich der Tag. Die Luft roch nach Frühling und Aufbruch. Auf den Berghausener Wiesen außerhalb des Dorfes und in den Straßengräben blühten Schlüsselblumen. Else trat kräftig in die Pedale. Im Sommer sah man hier ein rotes Meer von Mohnblumen. In ihrer Kindheit hatte sie in dieser Gegend oft die Gänse gehütet und die aggressiv schnatternden Gänsemütter mit ihrem gelbflaumigen Nachwuchs mit einem Weidenstecken auf Distanz gehalten. An solchen Nachmittagen war sie stets allein unterwegs gewesen. Dennoch hatte sie sich nicht einsam gefühlt. Am kleinen Bach sitzend, der die Wiesen durchquerte, träumte sie sich in eine andere Welt. Einen reichen Mann würde sie heiraten, der ihr etwas bieten konnte. In ihren Gedanken richtete sie sich ein Haus ein wie das der Familie Raschdorf. Dem Personal, das selbstverständlich später einmal in ihrem Haushalt arbeiten würde, gab sie Anweisungen. So, wie sie das bei Paulas Mutter beobachtet hatte.
Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht bemerkte, wie ein Habicht eines der Gössel in seinen Fängen davontrug. Zu Hause angekommen, holte die triste Wirklichkeit Else wieder ein. Ihre Mutter verpasste ihr eine kräftige Ohrfeige für die Unachtsamkeit.
Als sie jetzt daran dachte, musste sie unwillkürlich lächeln. Diese Zeit der unerfüllten Sehnsüchte schien unendlich weit zurückzuliegen, und die Ohrfeige hatte keine tieferen Spuren hinterlassen. Als Baronin von Paalsick urteilte sie nachsichtig über ihre Mutter, die nun stolz auf sie sein konnte und dies auch war. Längst hatte Else ihr verziehen, dass sie ihr den Namen ihres Erzeugers nicht nennen wollte. Bis zum heutigen Tag hatte sie ihn verschwiegen. Das bedrückende Geheimnis um ihre Geburt hatte durch Elses ungeahnten Aufstieg als Baronin an Bedeutung verloren und schmerzte kaum noch.