Alles war so schnell gegangen.
Im Hausflur des Wohnhauses von Tante Anna am Frauenplan in Weimar hatten Else und ihre Mutter die Fahrräder abgestellt. Im Hausflur roch es nach feuchtem Gemäuer, nach Kohl, gebratenen Zwiebeln und Katzenpisse. Während Gertrud Ruckhaber sich in aller Eile in die Wohnung ihrer Schwester im zweiten Stock begab, zog Else ihre Strickjacke über, die sie in einem Korb auf dem Gepäckträger verstaut hatte. Im Haus war es kühl.
Bevor sie ihrer Mutter nach oben folgen konnte, wurde die Haustür aufgestoßen. Zwei amerikanische Soldaten, das Gewehr im Anschlag, bedeuteten Else mit ungeduldiger Geste, ihnen zu folgen.
»Meine Tante! Ich muss sehen, was mit meiner Tante ist!«, rief sie nach einer Schrecksekunde und steuerte rasch auf die Treppe zu.
»Mitkommen!«, blaffte einer der Soldaten mit starkem Akzent. »Los, los, let’s go!«
Instinktiv erkannte Else, dass eine Weigerung zwecklos war. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie warf einen ebenso hastigen wie hilflosen Blick über das Treppengeländer nach oben und rief: »Mutter?«
Doch niemand antwortete.
Der zweite Soldat packte sie grob am Arm und schob sie zur Haustür.
Else fühlte, wie ihr Herz in der Brust hämmerte. Was geschah hier? Wieso führten die Soldaten sie ab und wohin? Ihre Gedanken überstürzten sich. Bevor sie weiter überlegen konnte, befand sie sich bereits auf der Straße, wo andere Soldaten Menschen aus Häusern nach draußen drängten, Alte beiderlei Geschlechts, junge Frauen, Jugendliche.
Es ging zum Goetheplatz. Dort hatten sich bereits mehrere Hundert Menschen eingefunden, ausnahmslos Zivilisten. Die Soldaten sorgten dafür, dass niemand den Platz verließ.
Nur wenige Menschen wirkten ratlos und verstört. Die anderen plauderten miteinander, wirkten sorglos.
Else fragte einen alten Mann, der neben ihr stand, was das alles zu bedeuten hätte.
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte der Mann, der auf einen Gehstock gestützt dastand und seine Krawatte lockerte. »Sie lassen uns sicher bald wieder gehen.«
Else blickte ihn skeptisch an. Voller Sorge dachte sie an ihre Mutter. Was war mit Tante Anna?
Immer mehr Menschen wurden auf den Platz getrieben. Es war beinahe Mittag. Die Sonne brannte vom Himmel, und Else entledigte sich ihrer Strickjacke. Sie dachte an Vicky und spürte erneut Panik in sich aufsteigen. Was wäre, wenn die Besatzer die Menschen in Lager brachten? Elses Hände wurden schweißnass. Sie wischte sie an der Jacke ab, die sie auf dem Arm trug.
Plötzlich setzte sich der Menschenzug in Bewegung, eskortiert von amerikanischen Soldaten. Es ging stadtauswärts, Richtung Ettersberg.
Die Luft schimmerte matt wie Porzellan. In den Vorgärten der Häuser sangen die Vögel, als ob es ein Tag wie jeder andere wäre.
Stetig führte die Straße bergan. Elses Schuhe, ein Paar an der Ferse geschlossene Sandalen, begannen zu scheuern.
Während die Männer ihre Jacketts ausgezogen hatten, lief Else inzwischen barfuß und hielt die Sandalen in der Hand. Vielen Frauen hingen die Haare wirr ins Gesicht. In den Achselstücken der Kleider, Blusen und Oberhemden bildeten sich hässliche Flecken. Ältere Bürger blieben immer öfter stehen und rangen nach Luft. Die Soldaten trieben sie weiter. Niemand wagte aufzubegehren oder gar auszubrechen.
Schweigend marschierten die Menschen über die staubige Straße.
Zwei Stunden später erreichten sie das Konzentrationslager. Auf dem Appellplatz hielt der US-Truppengeneral Patton eine Rede, die von einem Dolmetscher übersetzt wurde. Er sprach von den unglaublichen Verbrechen, die an diesem Ort geschehen seien. Die Bürger Weimars sollten nun mit eigenen Augen sehen, was das Naziregime unschuldigen Menschen angetan hatte.
Die Bürger Weimars, mit denen Else an diesem Nachmittag eine ungewollte Schicksalsgemeinschaft bildete, hatten schweigend zugehört. Erschöpft vom langen Fußmarsch, deprimiert von Kriegsgeschehen und Niederlage, nahmen sie die Rede zunächst gleichgültig auf. Dies änderte sich, als sie sich auf einen Rundgang begeben mussten. Er führte zunächst ins Krematorium. In den Öfen lagen noch die Reste menschlicher Knochen, im Hof des Krematoriums türmten sich Berge von abgemagerten nackten Leichen. Die ersten der unfreiwilligen Besucher mussten sich übergeben, andere wandten schnell den Blick ab und beschleunigten ihren Schritt.
Dann ging es weiter. In den Baracken blickte Else in die erloschenen, schmerzvollen und hasserfüllten Augen der Häftlinge, die überlebt hatten.
Ihre Köpfe waren kahl geschoren. Die dünne Häftlingskleidung mit den aufgenähten Nummern und diversen farbigen Winkeln offenbarte das Elend ihres körperlichen Zustands. Häftlinge, die noch bei Kräften waren, hoben drohend die Faust. Einige stießen Verwünschungen aus, andere blieben stumm, hefteten nur ihre brennenden Blicke auf die Bürger des Landes, dem sie ihr Schicksal verdankten.
Der Geruch nach Fäulnis und Tod raubte Else den Atem. Hastig hielt sie sich ein Taschentuch vor die Nase. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen solchen Ekel verspürt. In ihrer Lazarettzeit waren eitrige und brandige Wunden an der Tagesordnung gewesen. Soldaten mit abgerissenen Gliedmaßen, mit von Granaten zerfetzten Körpern und pestilenzartigen Ausdünstungen hatten jedoch nie diese Art von Abscheu in ihr auslösen können. Ihr war übel und schwindelig, und sie befürchtete, jeden Augenblick in Ohnmacht zu fallen. Um sich gegen die schrecklichen Anblicke zur Wehr zu setzen, die die Besatzer der Weimarer Bevölkerung aufzwangen, rief sie plötzlich: »Das haben wir nicht gewusst! Niemand hat gewusst, was hier passiert ist!«
»Lüge!«, schrie einer der Häftlinge mit heiserer Stimme. Mit krallenartigen Fingern deutete er auf Else. »Du hast es gewusst, du, du, ihr alle!« Mit hektischer Bewegung durchschnitt seine Hand die stickige, von Tod und Verwesung geschwängerte Luft, und landete wieder bei Else.
Entsetzt blickte sie ihn an. Kannte der Mann sie? Wusste er, wer sie war? Sein hohler Blick heftete sich auf sie wie ein klebriges Insekt. Else drehte sich weg. Zusammen mit den anderen verließ sie überhastet die Baracke.
Eine ältere Frau, die nicht einmal Zeit gehabt hatte, ihre Lockenwickler zu entfernen, als man sie aus dem Haus holte, rief mit lauter Stimme: »Wenn das der Führer gewusst hätte, wäre das alles nicht passiert!« Ihre Äußerung fand vehemente Zustimmung.
Elses Lippen bebten, ihr Puls raste. Das Gesicht des Häftlings hatte sich in ihr Herz gebohrt wie ein vergifteter Pfeil. Fieberhaft überlegte sie, wer er sein könnte. Sie fand keine Antwort. Obgleich sie sich keiner Schuld bewusst war, hatten die Worte der ausgemergelten, dem Tode nahen Gestalt sie bis ins Mark getroffen.
Etwas in ihr brach unwiderruflich zusammen. Es hatte mit ihrem Stolz zu tun, mit ihrem Hochmut und mit der Erkenntnis, dass Angehörige der SS massenweise Menschen in Konzentrationslager gesteckt und elendig hatten verrecken lassen. Das deutsche Volk würde nun auf ewige Zeiten beschmutzt sein. Auch ihr eigener Name wäre gebrandmarkt. Als Witwe eines Sturmbannführers hatte sie nun keine Reputation mehr. Verbrechen wie hier in Buchenwald würden die Ehre aller SS-Leute beflecken, auch wenn sie lediglich – wie Heinrich – an der Front ihre Pflicht erfüllt hatten.
Während sie mit den anderen zum Forschungsblock gehen musste, schlich sich ein Gedanke in Elses Herz, der wie eine Erlösung schien.
Sie wandte sich an einen alten Mann, der neben ihr ging, und sagte mit erregter Stimme: »Sie wollen uns allen die Schuld zuschieben! Dabei hatte ich ein jüdisches Mädchen in meinem Haus versteckt!«
Der Mann blickte sie aus müden Augen an.
»Jawohl!«, fuhr Else hastig fort. »Eine Freundin meines Sohnes. Sie war monatelang bei uns im Keller. Dadurch hat sie überlebt! Wir haben sie an eine geheime Hilfsorganisation übergeben, die hat sie dann gerettet.«
Gleichgültig schüttelte der Mann den Kopf und beschleunigte seinen Schritt, als wolle er sich Elses rechtfertigenden Worten entziehen.
Else trat zur Seite und wandte sich an einen der Soldaten.
»Ich bin unschuldig! Ich habe ein jüdisches Mädchen versteckt, mein Leben und das meiner Familie riskiert, damit es überlebt!«
Der Soldat stieß sie zurück. Else taumelte und wäre beinahe gestolpert.
Tränen schossen ihr in die Augen. So eine Ungerechtigkeit!, dachte sie voller Verbitterung. Alles habe ich mit diesem Judenmädchen geteilt. Ich hätte sie auch ans Messer liefern können. Ihr Selbstmitleid wuchs. Nie hatte sie dem Mädchen etwas Böses getan! Und Carl … Ihre Gedanken stockten nur kurz. Carl hat sie in Sicherheit gebracht.
Nach drei Stunden war der Rundgang der Weimarer Bürger durch das Konzentrationslager beendet.
Völlig erschöpft, mit blutenden Füßen, durchschwitztem Kleid und aufgelöster Frisur schleppte sich Else zurück zum Frauenplan.
In der Wohnung von Tante Anna hielt Elses Mutter am Bett ihrer Schwester Totenwache und weinte still in sich hinein. Else, von den Erlebnissen in Buchenwald noch zu sehr aufgewühlt, vermochte sie nicht zu trösten.
Am Abend wurde der Leichnam aus der Wohnung geschafft, die Formalitäten erledigt. Als Todesursache hatte der Arzt plötzlichen Herzstillstand festgestellt.
Danach radelten Else und ihre Mutter zurück nach Berghausen. Wie eine Entschädigung für die heutigen Ereignisse strich die laue Abendluft dieses Frühlingstages wohltuend um Elses Arme und ihre wunden Füße. Sie war froh, dem Grauen auf dem Ettersberg entronnen zu sein. Was auch immer geschehen sein mochte – das Leben ging weiter, und jeder hat sein eigenes Schicksal. Sie war jung und blickte nach vorn. Nicht zurück, niemals!
Kurz vor Berghausen wurde dieses beinahe euphorische Gefühl jäh getrübt. Ein Schrecken durchzuckte sie. Erneut dachte sie an den Häftling mit dem brennenden, hasserfüllten Blick. Mit einem Mal meinte sie, den Mann zu erkennen. Täuschte sie sich, oder war das nicht dieser Herr Seiffert? Der Kommunist und Verräter aus der Sandstraße in Rathenow, der das Mädchen Annette unter Vorspiegelung falscher Tatsachen bei sich aufgenommen hatte? Was konnte das bedeuten in einer Zeit, da die Machtverhältnisse sich geändert hatten? In einem Nachkriegsdeutschland, in dem die Juden auf Rache sinnen würden?
Nichts.
Für Else bedeutete es nichts. Selbst wenn dieser Häftling Herr Seiffert sein sollte – sie und er kannten sich nur flüchtig vom Sehen. Dass seine falsche Nichte im Hause Paalsick gelandet war und sich ihre Spur danach verlor, konnte er nicht wissen. Die Gestapo hatte ihn vorher abgeholt.
Else atmete auf und ließ ihr Haar im Wind flattern.