Sechsundvierzigstes Kapitel

Noch flirrte die Luft von der Hitze des Tages. Erste Schatten wuchsen im Tal und versprachen baldige Abkühlung.

Die tief stehende Sonne umspielte die Bergkuppen der Sangre de Cristo Mountains. Am Himmel kreisten zwei Adler auf der Suche nach Beute. Inmitten eines Geröllhaufens nutzte ein Leguan einen letzten warmen Sonnenfleck. Am Himmel ein kurzes Glitzern – ein Flugzeug auf dem Weg nach Westen.

Annette und Jane McGlamery saßen auf einem schattigen Felsvorsprung am Wegesrand. Die Beine von sich gestreckt, mit staubigen Stiefeln und verschwitzten Gesichtern, ruhten sie einen Moment aus. Ihre Pferde standen einige Meter weiter, stoisch, abwartend.

Jane, zwei Jahre älter als Annette, nahm den Cowboyhut vom Kopf. Ihre halblang geschnittenen, roten Locken klebten an der Stirn. Die sommersprossige Haut und die wassergrünen Augen wiesen sie als Abkömmling irischer Einwanderer aus. Als Annette vor wenigen Monaten auf die Ranch kam, hatten die beiden Mädchen sich angefreundet. Annette mochte Janes leichte, unbekümmerte Art, die so ganz im Gegensatz zu ihrer zeitweiligen Schwermut stand. Jane gab ihr Reitunterricht, und Annette lernte schnell. Das Leben in der Natur, der Umgang mit den Pferden – all das war Balsam für ihre Seele.

Immer mehr fand sie Zugang zur englischen Sprache, und sie gewöhnte sich rasch an den Slang des Südwestens.

Jane lehnte sich zurück und wandte sich der Freundin zu. »Sag mal – gibt es in Deutschland so hohe Berge und Wüsten und heiße Sommer wie bei uns?«

Annette drehte sich zu ihr. Ihre Haut schimmerte sonnengebräunt, die körperlichen Strapazen der letzten Monate in Deutschland schienen endgültig überwunden.

»Hohe Berge gibt es dort auch. Die Alpen, im Süden des Landes. Wüsten und Mesas wie hier bei euch kennen wir nicht. Das Klima ist völlig anders. Die Pflanzen, die Tiere. Im Winter liegt Schnee.«

»In den Rocky Mountains liegt auch Schnee auf den Gipfeln. Das ganze Jahr.« Jane zeigte nach Osten, wo sich die Konturen der Gebirgskette im Dunst verloren.

»Die Berge in Deutschland wirken längst nicht so mächtig und majestätisch wie die Rockies«, fuhr Annette fort. »In Europa gibt es vier Jahreszeiten. Frühling, Sommer, Herbst und Winter.«

»Ja, davon habe ich gehört. In einigen Bundesstaaten bei uns gibt es auch Herbst. In Vermont zum Beispiel. Dort wohnt eine Tante von mir.« Jane zögerte einen Moment. Dann fragte sie vorsichtig: »Hast du oft Heimweh?«

Annette überlegte einen Moment, dann zuckte sie mit den Schultern.

»Ja und nein. Nein, weil meine Familie und ich Schreckliches dort erlebt haben.«

Jane legte kurz ihre Hand auf Annettes Arm. Sie wusste Bescheid. Vor wenigen Tagen hatte Annette ihr erzählt, was in Deutschland geschehen war und wie sie überlebt hatte.

»Andererseits …« Sie überlegte kurz. »Ich vermisse den Geruch der Blumen und Bäume im Frühling. Die Wälder und das Meer. Wir haben in Hamburg gewohnt, einer Hafenstadt. Das Meer ist nicht weit. Und ich glaube, mir werden die Winter mit Schnee und Kälte fehlen.«

»Hier ist es im Winter immer mild. Du wirst es ja sehen. Im Dezember kannst du im Rio Grande baden!« Es sollte ein Scherz sein, und beide lachten.

»Außerdem«, fuhr Annette fort, »darfst du nicht vergessen, dass Deutsch meine Muttersprache ist. Das wird immer eine enge Verbindung zu diesem Land sein, trotz aller Schrecken und des Unrechts, das anderen und mir angetan wurde. Die Sprache gehört zur Kultur eines Landes. Hier in Santa Fe ist alles neu für mich, nicht nur die Sprache.«

»Du sprichst sie doch schon beinahe fließend. Ich weiß gar nicht, was du hast, Annette. Sieh mich an, ich spreche nur Englisch und kann auf Spanisch Buenas Dias sagen. That’s it!«

Sie schwiegen eine Weile. Dann blickte Jane sie prüfend an und sagte: »Dieser Max, der dich damals versteckt hat, mochtest du ihn?«

Annette überlegte eine Weile. Sie war unschlüssig, ob sie Jane Näheres von ihm erzählen sollte. Sie beließ es bei einigen Andeutungen. Jane lächelte wissend.

»Das hört sich ganz so an, als wärst du in ihn verliebt gewesen. Hab ich recht?«

»Darauf antworte ich dir nicht, Jane.« Es klang freundlich, aber bestimmt.

Jane hob abwehrend die Hand. »Schon gut, ich wollte dir nicht zu nahe treten! Aber du wirst sehen, hier bei uns gibt es auch nette Jungs. Warte, bis du auf der Highschool bist!«

Annette schüttelte den Kopf und wechselte das Thema. Wenig später ritten sie zurück zur Ranch.

Um sein Einkommen als Rancher und Pferdezüchter aufzubessern, hatte Janes Vater Ende der Zwanzigerjahre auf der Ranch einen Nebentrakt gebaut, um ihn zu vermieten.

Hier wohnte Annette Stern, vormals Rosenthaler, mit ihren Adoptiveltern Peter und Hannah Stern. Diese hatten sich gleich nach Kriegsende bemüht, ein jüdisch-deutsches Mädchen zu adoptieren, das den Holocaust überlebt hatte. Im Juni waren sie nach New York gekommen, um Annette abzuholen. Drei Wochen zuvor hatte sie sich in Hamburg eingeschifft.

In einer mehrtägigen Zugfahrt ging es dann nach Santa Fe. Alles erwies sich als aufregend und neu: das gute Essen im Speisewagen, die freundlichen Schaffner, der bequeme Schlafwagen. Der Blick auf eine grandiose Landschaft voller Abwechslung, Weitläufigkeit und Überraschungen lösten bei Annette etwas Berauschendes aus. Stärker hätte der Kontrast zu ihrer Bahnfahrt von Magdeburg, wo sie von der amerikanischen Armee befreit worden war, durch das Nachkriegsdeutschland nach Hamburg nicht sein können.

Das Haus der Sterns, im Stil des Landes aus Lehmziegeln gebaut, bot großzügige Räumlichkeiten, mehrere Badezimmer, eine weitläufige Halle mit Terrakottafußboden sowie einen unverstellten Blick nach Osten auf die Berge.

Zunächst hätte man Hannah Stern für eine unscheinbare Frau halten können. Von kleiner Gestalt, mit Rundungen um Hüften und Oberschenkel, das aschblonde Haar zu einem aus der Mode gekommenen Knoten im Nacken gebunden, die belanglosen Gesichtszüge nur dezent geschminkt, würde man sie für eine durchschnittliche Hausfrau ohne besondere Eigenschaften halten. Dieser Eindruck täuschte jedoch spätestens dann, wenn man in ihre grauen Augen blickte. Aufmerksam und intelligent, ernsthaft als auch mit einem gelegentlichen Schalk in den Augenwinkeln, erahnte man ihre außergewöhnliche Persönlichkeit. Ihre Stimme klang tief und in sich ruhend, verströmte Herzlichkeit und natürliche Autorität. Hannah stammte aus einem großbürgerlichen deutsch-jüdischen Elternhaus der Ostküste. Ihre Familie war kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Amerika übersiedelt.

In Boston hatte sie eine Eliteschule besucht und später in Cambridge studiert. Sie war gebildet, geistreich und als Frau weitgehend emanzipiert. Dass sie als Literaturwissenschaftlerin nicht die Hochschullaufbahn eingeschlagen hatte, war der Liebe geschuldet. Peter Stern und sie lernten sich auf einer Party in Boston kennen. Damals hatte er gerade sein Studium beendet und wollte sich »irgendwo im Westen« als Arzt niederlassen. Hannah stellte sich zunächst gegen diesen Plan, wusste sie doch, dass ihre eigene berufliche Laufbahn sich vermutlich nicht wie geplant entwickeln würde. Zudem stand sie einem Leben in ländlicher Gegend, mit heißem Klima und provinzieller Atmosphäre, skeptisch gegenüber. Sie war immer ein Stadtkind gewesen. Doch am Ende stimmte sie zu, und sie übersiedelten nach New Mexico, wo Hannah die Stelle als Lehrerin für amerikanische Literatur an der Highschool in Santa Fe antrat. »Das ist das einzige wichtige Zugeständnis, das ich dir je machen werde«, sagte sie seinerzeit zu Peter, und das war so geblieben. Neben ihrer Arbeit als Lehrerin verfasste sie wissenschaftliche Artikel über die neue amerikanische Literatur, die sie in Fachblättern veröffentlichte.

»Na, wie war’s?«, fragte sie, als Annette die Küche betrat, wo Hannah das Abendessen vorbereitete. Es duftete nach Cornbread und geschmortem Fleisch.

»Wir haben draußen zwei Klapperschlangen gesehen«, erwiderte Annette. »Was meinst du, wie die Pferde gescheut haben. Aber ich bin nicht runtergefallen!«

»Gott sei Dank!« Hannah lachte.

Beide sprachen Deutsch miteinander. Hannah hatte es von Kindheit an gelernt.

Annette ging zum Herd und lüftete den Deckel des schweren, gusseisernen Topfs.

»Duftet wunderbar!«, sagte sie.

»Peter muss jeden Augenblick kommen. Du könntest schon mal den Tisch decken, Annette.«

Eine Viertelstunde später wurde das Essen aufgetragen. Peter Stern arbeitete als Arzt in Santa Fe, eine halbe Autostunde von der Ranch entfernt. Er war ein hochgewachsener Mann mit markantem Kinn, braun gesprenkelten Augen und hellblonden Haaren, die an den Schläfen graue Spuren aufwiesen. Genau wie Hannah schätzte er ein gepflegtes, gemütliches Zuhause, liebte kalifornischen Rotwein, kubanische Zigarren und klassische Musik.

Er sprach ein kurzes christliches Tischgebet. Sie fühlten sich der christlichen Kultur zugehörig und standen nicht in der Tradition des jüdischen Glaubens. Über Religion wurde selten gesprochen. Doch das abendliche Tischgebet war seit jeher ein festes Ritual im Hause Stern, ebenso wie der Kirchenbesuch zu Ostern und an Heiligabend.

Peter wandte sich an Annette.

»Nächste Woche ist es ja so weit, dann beginnt wieder der Ernst des Lebens. Mal sehen, wie es dir in der Highschool gefällt. Ist sicher ein Unterschied zu den Schulen in Deutschland.«

Annettes letzter Schulbesuch lag mehr als ein Jahr zurück. Damals in Rathenow, in einer anderen Zeit, in einem Schreckensland. Wie lange schien das her zu sein, und wie viel war seitdem geschehen!

»Du wirst dich rasch eingewöhnen«, meinte Hannah und berührte Annettes Handrücken. »Aber es ist wichtig, dass du weiterhin einmal in der Woche zu Dr. Winning gehst.«

Annette nickte.

Dr. Winning war die Psychologin, bei der Annette gleich nach ihrer Ankunft in Santa Fe eine Gesprächstherapie begonnen hatte. Diese half ihr, die Erlebnisse in Deutschland zu verarbeiten. Dr. Winning hatte sie ermutigt, weiter Gedichte zu schreiben. Auch die Erlebnisse im Konzentrationslager Polte-Magdeburg sollte sie zu Papier bringen.

Seitdem war kein Tag vergangen, an dem Annette nicht einige Zeilen geschrieben hatte.

Als die Nacht hereingebrochen war, saßen Annette und ihre Adoptivmutter in deren Arbeitszimmer. Der Schein der Tischlampe tauchte den Raum in gedämpftes Licht. An der Decke surrte ein großer Ventilator. Oscar, der mächtige Karthäuserkater, hatte sich auf den Steinfliesen ausgestreckt. Hin und wieder öffnete er träge seine gelben Augen und blinzelte.

Hannahs umfangreiche Bibliothek erwies sich für Annette als Fundgrube. Im Lauf der letzten Wochen hatte sie Autoren entdeckt, die in Nazideutschland verfemt gewesen waren und emigrieren mussten. Voller Interesse las sie Bücher von Stefan Zweig, Thomas Mann und Franz Werfel.

»Gestern habe ich Franz Werfels Roman zu Ende gelesen. Ich bin – wie soll ich sagen? – überwältigt und sehr berührt«, schwärmte Annette.

Hannah schlug die Beine übereinander und nippte an ihrem Rotweinglas. »Die vierzig Tage des Musa Dagh ist nicht nur ein literarisches Meisterwerk, sondern auch ein Buch gegen das Vergessen.«

»Die Geschichte hat mich an mein eigenes Schicksal erinnert.«

»Meinst du im Hinblick auf Stephan Bagradian, den Sohn des Anführers der Armenier?«

»Ja. Er war ja in meinem Alter. Obwohl …« Annette stockte kurz. »Der Vergleich wäre nicht richtig. Sein Los war grausamer als meines. Die Türken haben ihn gefoltert und ermordet, als er Hilfe für die Eingeschlossenen auf dem Berg holen wollte und ihnen dabei in die Hände fiel. Haben sich die Ereignisse damals wirklich so zugetragen, wie es im Roman steht?«

»Im Großen und Ganzen, ja. Sowohl der Völkermord als auch das Überleben der Menschen auf dem Berg Musa Dagh und ihre Rettung in letzter Minute sind historisch verbürgt. Aber natürlich hat Franz Werfel auch seine Fantasie spielen lassen. Jeder gute Schriftsteller nimmt sich die Freiheit, in einem Roman tatsächliche Geschehnisse mit fiktiven Ereignissen zu verknüpfen.«

Annette überlegte kurz. »Die Welt hat nichts daraus gelernt.« Ihre Stimme klang belegt. »Daran musste ich beim Lesen immer denken. Die Türken haben den Armeniern dasselbe angetan wie Nazideutschland uns Juden.«

Hannah nickte. »Heutzutage weiß man, dass die Regierung des deutschen Kaiserreichs seinerzeit über die Gräueltaten der Türken Bescheid wusste. Doch es wurde geschwiegen. Gut zwanzig Jahre später war es wieder so weit. Diesmal in Deutschland.«

»Immer wiederholt sich alles. Warum? Warum schweigen die Menschen, Hannah?« Es klang verzweifelt, und Hannah sah, dass Annettes Augen sich mit Tränen füllten. »Warum haben alle geschwiegen, als man meine Eltern abholte? Als die Seifferts verschwanden, als man uns in die Lager verschleppt hat?«

»Ich weiß es nicht, Annette. Es ist schwer, sich damit abzufinden. Es gibt keinen Trost und keine Erklärung angesichts des millionenfachen Mordens. Dennoch fand ich es wichtig, dass du diesen Roman liest. Obgleich ich wusste, dass die Lektüre dich aufwühlen würde.«

»Ja, ich habe beim Lesen oft geweint. Am meisten am Schluss des Buches, als Stephans Vater Gabriel Bagradian auf dem Berg bleibt, obwohl er sich mit anderen Überlebenden hätte retten können.«

»Dass Gabriel sich von den Türken erschießen lässt, ist eigentlich nur folgerichtig, meinst du nicht?«

Annette überlegte einen Moment. »Weil sich auf dem Musa Dagh sein Schicksal erfüllt hat? Das Schicksal, sein Volk zu retten?«

Hannah nickte. »Das wird er so gesehen haben. Ein Leben danach erschien ihm sinnlos, zumal seine Familie auf schreckliche Weise auseinandergebrochen war. Er wollte kein Leben in der Fremde, im Exil.«

Annette ließ Hannahs Worte einen Moment nachwirken. Dann sagte sie leise: »Ich habe mir etwas vorgenommen für mein Leben. Und zwar schon seit einiger Zeit, nicht erst, seitdem ich dieses Buch gelesen habe. Ich möchte Schriftstellerin werden und später auch einmal gegen das Vergessen schreiben. Über all das, was geschehen ist, was ich erlebt habe.«

Hannah lächelte. »Ich wäre glücklich, wenn ich dir helfen könnte, diesen Weg zu beschreiten, Annette.«

Beide schwiegen. Nach einer Weile stand Annette auf, umarmte Hannah und legte den Kopf an ihre Schulter. Es war das erste Mal, dass sie körperliche Nähe zu ihrer Adoptivmutter suchte. Hannah sagte nichts, strich nur sanft über Annettes Haar.

Es war Ende August. Am Sechsten des Monats hatte Amerika die erste Atombombe auf eine japanische Stadt abgeworfen. Der Krieg war nun auch für die Vereinigten Staaten zu Ende.

Die erst langsam durchsickernden Berichte über die ungeheure Zerstörung und den tausendfachen Tod, den die Bombe gebracht hatte, lösten im Hause Stern nicht nur Erleichterung und Freude über das Kriegsende aus. Als Arzt hatte Peter eine Vorstellung davon, auf welch grausame Weise die Menschen im Feuersturm umgekommen waren, zumeist Unschuldige; Frauen, Kinder und Alte. Annette und ihre Adoptiveltern diskutierten die Frage der moralischen Verantwortung Amerikas. Wurde der Abwurf einer solchen Waffe nicht dadurch gerechtfertigt, dass Tausenden von amerikanischen Soldaten eine Verlängerung des Krieges und somit der Tod erspart geblieben war?

Infolge dieses Ereignisses holten die Erinnerungen an die Bombenangriffe in Hamburg Annette ein. Sie schlief schlecht und hatte bedrohliche Träume, aus denen sie manchmal laut schreiend erwachte. Erleichterung verschafften ihr die Gespräche mit der Therapeutin. Allmählich wurden die Träume seltener, Annette fand zurück in den Alltag ihres neuen Lebens.

Dennoch spürte sie tief in ihrem Innern eine immerwährende Einsamkeit. Die stärksten Empfindungen, die leidvollsten Erinnerungen lagen verschlossen in ihrem Herzen; sie sprach mit niemandem darüber. Auch ihre Gefühle zu Max erwähnte sie nie. Immer noch gab es kein Lebenszeichen von ihm. Nur ihrer großen Kladde, die Hannah ihr geschenkt hatte, vertraute sie ihre Gefühle, Ängste und Hoffnungen an. Ihre Gedichte und Geschichten entlasteten ihre Seele und gaben ihr Kraft. Die Welt des Schreibens war das Rückzugsgebiet, das sich schon in Rathenow und bei den Finks in Schernebeck als Überlebensstrategie bewährt hatte. Etwas, das nur ihr gehören sollte. Hannah war zu diskret, um sie nach Einzelheiten zu fragen oder gar heimlich in Annettes Aufzeichnungen zu lesen. Seit kurzer Zeit wurden diese in englischer Sprache niedergeschrieben. Eines Tages, ohne dass es einen besonderen Grund dafür gab, hatte Annette begonnen, in der neuen Sprache zu schreiben, oftmals zu denken und manchmal auch zu träumen. Es war einfach geschehen, und Annette war überrascht, als wie befreiend sie dies empfand. Es gehörte zu ihrem Neuanfang. Mit Peter und Hannah unterhielt sie sich weiterhin in ihrer Muttersprache.

Die Sehnsucht nach ihrer Familie und die Trauer um deren Schicksal waren nicht verblasst. Sie vermisste ihre Eltern, von denen sie nicht einmal eine Fotografie besaß. Ausgelöscht für alle Zeiten, als hätten sie und ihr Bruder Raimund niemals existiert. Doch immer mehr entfernten sich die Konturen ihrer Gestalten und Gesichter hinter einem dichter werdenden Schleier. Diese Entwicklung hatte Annette instinktiv vorausgeahnt. Gleich nach ihrer Befreiung in Magdeburg hatte sie damit begonnen, Charaktereigenschaften und Aussehen ihrer Eltern und ihres Bruders aufzuschreiben.