Sehr viel später sollte Else sich fragen, wann ihr Schicksal sich gewendet hatte. Zu welchem Zeitpunkt war die Kurve ihrer vom Glück begünstigten Lebensplanung steil nach unten gefallen, ohne dass sie es geahnt hätte? Begann es, als Carl wider Erwarten an die Front geschickt und sie von ihm getrennt wurde? Hatten die widrigen Umstände nach der deutschen Niederlage eine Rolle gespielt, als ihre Suche nach Carl zunächst vergeblich geblieben war? Wäre alles anders verlaufen, wenn sie früher von seinem Verbleib erfahren hätte und nicht erst vor zwei Wochen? Da waren drei Monate seit seiner Entlassung aus amerikanischer Gefangenschaft vergangen.
Ein müder Ausdruck huschte über ihr Gesicht. Enttäuschung und Bitterkeit lasteten auf ihrer Seele. Die Steine der Ufermauer, auf der sie erschöpft Platz genommen hatte, waren von der Sonne aufgeheizt. Mitte September schien der Sommer noch einmal aufzuglühen, als wollte er die Schrecken des letzten Kriegswinters und der Niederlage abmildern. Über dem Fluss zitterte das Mittagslicht. Die Eisenträger der zerstörten Würzburger Flussbrücken ragten als bizarre Skulpturen aus dem Wasser. Von einem Ufer zum anderen wurden die Menschen in Ruderkähnen transportiert. Die überfüllten Boote umschifften die Brückenreste und spuckten ihre menschliche Fracht an provisorischen Landestegen aus.
Wie mühsam war die Reise bis hierher gewesen! Wie gefährlich die letzten Wochen und Monate! Als sich im Frühsommer erste Gerüchte in Berghausen verbreiteten, dass die amerikanischen Besatzer Thüringen verlassen und die Russen den Sektor übernehmen würden, stand Elses Entschluss fest. Mit einem Rucksack voller Proviant für sich und Vicky machte sie sich auf den Weg. Nach Tagen ermüdender Fußmärsche erreichten beide die thüringisch-bayerische Grenze. Diese hatte die sowjetische Besatzungsmacht bereits an einigen Abschnitten abgeriegelt. Else ahnte, dass höchste Eile geboten war.
In einer mondlosen Nacht ging sie das Wagnis ein, gemeinsam mit einer Gruppe Frauen und Männer, die auf Thüringer Seite im Grenzgebiet zu ihr gestoßen waren, durch ein längeres Waldstück zu laufen, Vicky dicht an ihren Körper gepresst. Wie schon auf der Flucht von Rathenow verhielt das Kind sich still. In den frühen Morgenstunden erreichte die Gruppe den bayerischen Ort Trappstadt. Von dort aus gelangte Else nach Bad Königshofen, wo sie sich bei den US-Behörden als Flüchtling aus der Sowjetischen Zone meldete. Später versuchte sie erneut, beim Roten Kreuz in Erfahrung zu bringen, ob Carl noch am Leben war. Auch bei den US-Behörden stellte sie Nachforschungen an.
»Carl von Paalsick?«, fragte ein amerikanischer Offizier misstrauisch. »Welcher Truppenteil? Wehrmacht oder Waffen-SS?«
»Nein, nein«, versicherte Else. »Wehrmacht. Major im Generalstab. Vermisst an der Ardennenfront. Vielleicht in Gefangenschaft geraten.«
»Your husband?«
Else verstand nicht.
»Husband, Ehemann«, sagte der Offizier unwirsch.
»Nein, mein Schwager. Mein Mann ist gefallen.«
»Okay. Wir melden uns, wenn wir etwas wissen.«
Es klang gleichgültig, und Else ahnte, dass sie so schnell keine Nachricht bekommen würde.
Auf der Suche nach einer Unterkunft für sich und Vicky hatte sie hingegen Glück. Bei der Kriegerwitwe Adele Buck in Bad Königshofen mietete sie ein Zimmer in einem Reihenhaus. Deren Bruder, ein unverheirateter Arzt namens Dr. Feinbier, war soeben aus britischer Gefangenschaft zurückgekehrt und zu seiner Schwester gezogen. Für seine neu eröffnete Praxis suchte er dringend eine Sprechstundenhilfe. Else legte ihm die Papiere aus ihrer Lazarettzeit vor. Dr. Feinbier half ihr bei der Arbeitserlaubnis und stellte sie ein. Das spärliche Gehalt reichte gerade zum Überleben. Bei den Behörden stellte Else den Antrag auf Witwenrente, die seit Kriegsende nicht mehr gezahlt worden war. Dessen ungeachtet blickte sie hoffnungsvoll in die Zukunft. Wenn sie nur bald Nachricht von Carl erhielt!
Rasch arbeitete sie sich ein. Morgens um sechs betrat sie die Praxis, die einige Straßen weiter von ihrer Unterkunft lag und knapp mit dem Nötigsten ausgestattet war. Bereits eine Stunde später drängten sich die Patienten im Wartezimmer, obwohl es kaum Medikamente gab. Nach der Sprechstunde begann Dr. Feinbier am späten Nachmittag mit den Hausbesuchen. Währenddessen putzte Else die Praxisräume und bereitete alles für den nächsten Tag vor. Anschließend ging sie nach Hause und holte Vicky von ihrer Vermieterin ab. Adele Buck liebte Kinder, und so hatte sich alles zum Besten gefügt. Tagsüber nahm sie Vicky in ihre Obhut, und das Kind fasste Vertrauen zu ihrer Tagesmutter. Else und Adele Buck freundeten sich an, wobei Adele Respekt vor Elses klangvollem Namen zeigte und sie in der ersten Zeit mit »Frau Baronin« ansprach. Oft diskutierten sie über den Krieg, die Ungerechtigkeit der Niederlage und die Zukunftsaussichten, die Deutschland bevorstehen mochten. Mit Vicky auf dem Kindersitz unternahmen sie sonntags auf Fahrrädern Ausflüge in die Umgebung Würzburgs. Einige Male begleitete sie dabei Dr. Feinbier. Privat schien er wortkarg und in sich gekehrt, doch Else entgingen nicht seine Blicke und die kleinen Gesten der Aufmerksamkeit, die er ihr schenkte. Es schmeichelte ihr, doch sie hütete sich, dies zu zeigen. Als er ihr eines Tages das Du anbot (mit Adele duzte sie sich bereits), lehnte sie höflich und charmant ab.
»Seien Sie nicht böse, Herr Doktor. Aber ich glaube, wir sollten beim Sie bleiben. Das ist sicher besser für unser Arbeitsverhältnis.«
So zog der Sommer dahin.
Die vergangene Nacht war eine der schlimmsten in Elses Leben gewesen. Auf einer Bank im Freien hatte sie noch nie übernachtet. Mit einem Kleinkind im Arm auf nackter Holzplanke, bei schwülen Temperaturen und Schwärmen von Insekten, erwies sich dies als besondere Herausforderung. Hinzu kam die Angst vor Übergriffen. Die Bank befand sich in einem Park in Ufernähe des Mains. Nicht weit entfernt gab es ein Lokal für US-Soldaten. Lange nach der Sperrstunde hörte sie noch das Grölen der Betrunkenen und das Gekreische junger Frauen, die sich mit den Besatzern vergnügten. Für ein Paar Nylonstrümpfe, eine Tafel Schokolade und Zigaretten waren sie zu allem bereit. Welch nachträglicher Verrat am Vaterland!
An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken, doch nicht nur aus Angst vor betrunkenen Soldaten. Wieder und wieder durchlebte Else das Geschehen des vergangenen Tages.
Mit dem Zug war sie am Morgen aus Bad Königshofen nach Würzburg gefahren. Als sie sich nach der Adresse durchgefragt hatte, stand sie gegen achtzehn Uhr vor dem Torbogen einer Villa, mit Vicky auf dem Arm. In wenigen Augenblicken würde sie Carl gegenüberstehen. Endlich! Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Gott sei Dank hat er hier Unterschlupf gefunden!, dachte sie. Sicher das Haus eines Freundes oder ehemaligen Kameraden.
Als spürte sie Elses Anspannung und Erwartung, wurde Vicky plötzlich unruhig. Es gelang Else jedoch rasch, das Kind zu beruhigen.
Vor dem Eingang der Villa parkten mehrere Fahrzeuge, darunter ein amerikanischer Jeep. Der GI hinter dem Steuer, offensichtlich der Fahrer eines Offiziers, schien hier zum Warten verdonnert und langweilte sich. Neugierig betrachtete er Else und stieß einen anzüglichen Pfiff aus. Else würdigte ihn keines Blickes.
Einige Fenster im Erdgeschoss des Hauses standen offen. Stimmengewirr, Musik und Lachen drangen nach draußen.
Nachdem Else den Klingelzug betätigt hatte, wurde kurz darauf die Haustür aufgerissen.
»Da seid ihr ja endlich! Ich dachte schon –« Die überschäumende Stimme der Frau brach jäh ab.
»Oh, Entschuldigung!« Ihre Augen wanderten von Else zu Vicky und zurück. »Ja, bitte, Sie wünschen?«
Die Frau war einige Jahre älter als Else. Mit dem geschärften Blick weiblichen Konkurrenzdenkens stellte Else fest, dass sie sehr hübsch war. Wie schwarzer Lack glänzte ihr Haar im Sonnenlicht, das den Eingang der Villa umfing. Elegant gekleidet, in einem blassblauen Kleid mit großzügigem Ausschnitt, mit rot geschminkten Lippen und in naturfarbenen Krokodillederpumps sah sie Else abwartend an.
»Guten Tag.« Elses Stimme klang belegt und angespannt. »Ich bin Else von Paalsick, Carls Schwägerin.«
Die Frau schien einen Moment irritiert, doch vielleicht war es mehr Überraschung, die ihre dunklen Augen signalisierten. Dann streckte sie Else die Hand entgegen.
»Herzlich willkommen, Frau von Paalsick. Treten Sie doch bitte ein!«
Sie drehte den Kopf nach hinten und rief laut: »Carl? Kommst du bitte? Du hast Besuch!«
Einige Minuten lang sprach niemand von ihnen ein Wort. Carl, im dunklen Anzug, mit silberner Krawatte und einer weißen Rose im Knopfloch, hatte Else unweit der Eingangshalle mit fahriger Bewegung in einen kleinen Salon bugsiert und rasch die Tür geschlossen. Während er nervös im Zimmer auf und ab ging, stand Else mit dem Rücken zum Fenster. Das Schweigen zwischen ihnen dehnte sich aus. Gedämpft erklangen das Lachen und die Musik im Haus, Hintergrundgeräusche eines fröhlichen Festes.
Else blickte sich um. Der Raum war mit Biedermeiermöbeln ausgestattet, auf dem Parkettboden lagen mehrere Perserbrücken. Überall an den Wänden hingen Gemälde, auf der Anrichte standen Kristallgläser und Porzellanfiguren. Hier wohnten Leute mit Geld, die zudem noch das Glück gehabt hatten, von der Bombardierung ihres Hauses verschont geblieben zu sein.
Die Luft stand stickig und verströmte eine diffuse Gefahr. Elses Kehle war trocken. Gern hätte sie ein Glas Wasser getrunken, doch sie war zu stolz, Carl darum zu bitten.
Irgendetwas war geschehen, etwas Fremdes, Unerwartetes hatte sich zwischen sie geschoben. Als sie Carl in diesem Zimmer umarmen und küssen wollte, hatte er peinlich berührt abgewehrt. Ein Empfang wie eine eiskalte Dusche. Else wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Mit versteinerter Miene stand sie da.
Die kleine Vicky lag auf einem Kanapee und schlief. Carl warf dem Kind hin und wieder flüchtige Blicke zu, während er dem Blickkontakt mit Else auswich. Schließlich räusperte er sich und sagte: »Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dass du den Krieg heil überstanden hast, Else! Was ist mit Heinrich?«
»Er ist gefallen.«
»Das tut mir leid.« Es klang wie hingeworfen.
Else betrachtete ihn. Seit ihrer Trennung im letzten Winter schien er gealtert. Die angegrauten, an den Schläfen schütter gewordenen Haare und die eingefallenen Wangen zeugten von den Strapazen der Gefangenschaft. Dennoch umgab ihn weiterhin diese Aura von Jugendlichkeit und Virilität, die Else von jeher anziehend gefunden hatte. Doch in diese Falle durfte sie nicht wieder tappen. Eine innere Stimme warnte sie, allzu gefühlvoll zu sprechen.
»Ich habe seit Monaten nach dir gesucht«, begann sie leise. »Du bist ja schon lange aus der Gefangenschaft entlassen. Warum hast du nicht versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen?«
Carl blieb mitten im Raum stehen. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und hob die Schultern.
»Das habe ich ja! Aber ich konnte nichts in Erfahrung bringen. Wo bist du gewesen? Bei deiner Mutter in Thüringen? Ihre Adresse hatte ich leider nicht.«
Else schüttelte den Kopf. »Du kommst mir so fremd vor. So abweisend. Dafür muss es doch einen Grund geben. Bitte erkläre mir das.«
»Da gibt es nichts zu erklären.«
»Das bist du mir schuldig!«
»Schuldig bin ich dir gar nichts. Ich bin einfach nur überrascht! Du tauchst plötzlich hier auf und … Im Haus sind viele Gäste. Da kann ich ja schlecht …« Er brach ab und blickte rasch zur Tür.
Er ist angespannt und peinlich berührt, dachte Else. Er will mich so schnell wie möglich loswerden.
»Verkauf mich bitte nicht für dumm, Carl. Sag mir, was los ist! Deine frostige Begrüßung spricht doch Bände. Was wird hier gespielt?«
»Nichts … nichts wird hier gespielt!«
»Wer ist die Frau, die mir die Tür geöffnet hat?« Sie blickte ihn durchdringend an, doch er drehte den Kopf weg.
»Eine gute Freundin aus Berliner Tagen.« Es sollte gleichgültig klingen. »Fanny Mockenhaupt. Wir kannten uns vor dem Krieg.«
»Ach so! Eine gute Freundin! Das soll ich dir glauben?«
»Dann glaubst du es eben nicht.«
»Du wohnst doch jetzt hier, oder nicht?«
»Ja, ich wohne hier. Und zwar für längere Zeit.« Er drehte sich zu ihr. Zum ersten Mal sah Carl ihr direkt in die Augen. Noch nie zuvor hatte eine solche Kälte in seinem Blick gelegen. Es war wie ein Stich in Elses Seele. Nur mit Mühe hielt sie die Tränen zurück.
Nach einem Moment fassungslosen Schweigens sagte sie tonlos: »Und wir beide, Carl? Jetzt bin ich frei. Frei für dich! Hast du alles vergessen, was zwischen uns war?«
»Nein, das habe ich nicht!« Er blickte auf seine Uhr. »Aber die Betonung liegt auf war. In der Zwischenzeit ist viel geschehen, Else.«
Vor wenigen Augenblicken noch den Tränen nahe, spürte Else jetzt eine unbändige Wut in sich hochsteigen. Sie fühlte sich gedemütigt und verraten.
»Viel geschehen … Ja, das sehe ich!«, sagte sie schneidend. Mit raschen Schritten ging sie auf Carl zu, die Fäuste geballt. Ihr Gesicht glühte vor Zorn. »Ich sehe, dass du mich anscheinend abgelegt hast wie ein altes Kleidungsstück!«
»Was soll dieser Unsinn? Lass uns reden wie erwachsene Menschen, Else! Was damals in Rathenow geschehen ist …«
»Das willst du vergessen, ja?« Else erhob die Stimme. »Was bist du doch für ein elender Schuft! Mir das jetzt schamlos ins Gesicht zu schleudern! Und für dich habe ich meine Ehe riskiert. Dafür habe ich all die Monate um dich gezittert und auf dich gewartet …«
Bevor Carl etwas erwidern konnte, stieß Else ihn mit geballter Faust gegen die Brust. Er wich einige Schritte zurück.
»… dass du jetzt, wo die Zeiten sich geändert haben und wir alle vor einem schwierigen Neuanfang stehen, plötzlich bei einer Freundin aus Berliner Tagen Unterschlupf gefunden hast. Oder sollte ich sagen, bei deiner neuen Geliebten?«
»Ich verbitte mir, dass du …«
»Unterbrich mich nicht! Ich bin noch nicht fertig! Einer Geliebten, die anscheinend noch dazu vermögend ist. Wie praktisch für dich! Wie bequem. Ein Neuanfang für den verarmten Adel! Für einen ehemaligen Berufsoffizier, nach dem in heutigen Zeiten kein Hahn mehr kräht. Hält sie dich aus, deine reiche Dame? Bist du nicht Manns genug, dir selbst ein neues Leben aufzubauen?«
Carl war blass geworden. Seine Augen blitzten vor Zorn, doch er beherrschte sich. Erneut warf er einen unruhigen Blick zur Tür, wedelte beschwichtigend mit der Hand.
»Rede bitte etwas leiser, Else! Was sollen die Leute hier …«
»Was sie denken, ist mir vollkommen egal!«, erwiderte Else mit lauter Stimme. »Meinetwegen können alle hören, was für ein feiges Schwein du bist. Ich habe dich geliebt und wäre für dich durchs Feuer gegangen! Du bist jemand, der anscheinend immer nur auf seinen Vorteil bedacht ist. In Rathenow hast du alles darangesetzt, mich ins Bett zu zerren und …«
»Ach, und du?«, warf Carl sarkastisch ein. »Du warst wohl die Klosterschülerin, das Blümchen-rühr-mich-nicht-an? Du konntest es ja gar nicht abwarten!«
Else trat näher an ihn heran und holte aus. Die Ohrfeige traf Carl mit solcher Wucht, dass er taumelte.
In dem Moment wurde die Tür geöffnet.
Fanny Mockenhaupt, ein Lächeln auf den Lippen, meinte fröhlich: »Carl, wo bleibst du denn nur? Alle warten auf dich! Willst du deine Schwägerin nicht bitten, mit uns anzustoßen? Carl und ich feiern heute unsere Verlobung!« Die letzten Worte waren an Else gerichtet. Dann stutzte Fanny Mockenhaupt und fragte unsicher: »Ist irgendwas?«
Vom Kanapee ertönte lautes Schreien. Vicky war erwacht. Rasch nahm Else das Kind auf den Arm und verließ den Raum. An der Tür drehte sie sich noch einmal um.
»Noch ein Letztes, Carl. Ich habe bisher kein Lebenszeichen von Maximilian. Falls er sich bei dir melden sollte, kümmere dich um ihn.«
»Das ist bereits geschehen.«
»Umso besser. Denn mit eurer Familie bin ich fertig.«
Sie knallte die Tür zu.
Wie betäubt war sie danach zurück in die Stadt gegangen. Sie hatte geweint, sich elend und verlassen gefühlt. Vicky, die feine Antennen für die Gefühlslage ihrer Mutter zu haben schien, begann ebenfalls zu weinen. Irgendwann war Else dann auf der Bank im Park gelandet, wo sie und ihr Kind die Nacht verbrachten.
Nun saß sie hier am Ufer des Flusses und musste ihr Leben neu ordnen. Ihre Pläne hatten sich in Rauch aufgelöst. Das düstere Loch der ungewissen Zukunft drohte sie zu verschlingen. Der Mann, den sie geliebt und auf dessen Rückkehr sie so sehnlich gewartet hatte, war ihr für immer entglitten. Nicht einmal vierundzwanzig Stunden lagen zwischen erwartungsvoller Hoffnung und Niederlage. Was blieb jetzt noch?
Mühsam erhob Else sich von der warmen Ufermauer. Vicky wimmerte schon seit geraumer Zeit. Sie hatte Hunger. In der Nähe gab es sicher eine Station des Roten Kreuzes. Dorthin würde sie ihre Schritte lenken.
Zehn Minuten später war sie am Ziel. Vicky bekam eine Portion Grießbrei und schlief danach zufrieden ein.
Am Bahnhof erfuhr Else, dass der nächste Zug nach Bad Königshofen in einer knappen Stunde ging. Gott sei Dank!, dachte sie. Nur weg aus dieser Stadt. Weit weg von der schmachvollen Niederlage des gestrigen Abends.
Was blieb ihr jetzt noch? Ihre Tochter Viktoria, ein hilfloses Bündel Mensch, das seine Mutter brauchte. Für sie musste Else da sein, für sie ihr Leben neu ausrichten. Das Kind war das Einzige, was ihr geblieben war. Es bedeutete Zukunft, auch für sie selbst. Der Schmerz über den Verlust des geliebten Mannes würde vergehen. Andere Männer würden ihren Weg kreuzen. Vielleicht nicht sofort, doch irgendwann wäre sie bereit für einen Neuanfang. Sie war jung und attraktiv. Einer Frau, die es geschafft hatte, zwei Brüder einer Familie mit Tradition und klangvollem Namen zu erobern, würden sich auch andere Möglichkeiten bieten. Liebe wäre zweitrangig. Sie bedeutet Schwäche und Verletzlichkeit. Die bittere Erfahrung mit Carl würde ihr eine Warnung sein. Er hatte sie benutzt und fallen gelassen. Daraus würde sie lernen, wie sie stets aus den Niederlagen ihres Lebens gelernt hatte.