Neunundvierzigstes Kapitel

München 1952

Der Regen fiel unvermindert heftig. Seit Tagen hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet. Viele Straßen, schon lange vom Schutt des Krieges befreit, standen fußtief unter Wasser. In den Trümmergrundstücken, die es in der Stadt noch immer gab, pfiffen die Ratten. In Scharen huschten sie aus den Abwasserkanälen und drangen in die Flure und Hinterhöfe der unbeschädigten Häuser vor. Es gingen Gerüchte um, dass die Schädlinge bereits kleine Kinder angegriffen hatten. Eine offizielle Bestätigung dafür gab es nicht.

Maximilian war nichts anderes übrig geblieben, als seinen Ekel vor den Tieren zu überwinden. Er brauchte die Arbeit, um sein Studium zu finanzieren. Bei herbstlichen Temperaturen und im Dauerregen fiel ihm das Aufstehen morgens um drei Uhr besonders schwer. Um vier holte er in der Redaktion am Sendlinger Tor den Packen Zeitungen ab, den er jeden Morgen im Stadtteil Schwabing zustellte. Seine Vergütung bestand aus einer Wurstsemmel, einer Tasse dünnem Kaffee (beides gespendet vom Zeitungsverlag) und dem Stundenlohn von einer Mark. Um sieben Uhr war seine Tour zu Ende, da hatte er drei Mark verdient. Zusammen mit dem Geld für Nachhilfestunden und der Waisenrente, die er bis zur Vollendung seines fünfundzwanzigsten Lebensjahres beziehen würde, kam er auf ein Monatsbudget von zweihundert Mark. Seine Studentenbude bei der Witwe Sedlmayr kostete dreißig Mark Miete im Monat. Der Rest musste zum Leben und Studieren reichen, zum Kauf von teuren Fachbüchern und dem gelegentlichen Besuch einer Studentenkneipe.

Seit drei Jahren studierte er nun in München Physik, nachdem er im Internat sein Abitur mit Auszeichnung in den naturwissenschaftlichen Fächern abgelegt hatte. Nach Ende des Studiums plante Max eine berufliche Laufbahn in der Forschung. Mit einigen Kommilitonen hatte er sich befreundet, junge Männer, die ebenfalls neben dem Studium Geld verdienen mussten. Sein bester Freund Gerhard, ein waschechter Münchner und einige Jahre älter als er, besaß den Führerschein und verdiente als gelegentlicher Fahrer einer Großbäckerei gutes Geld. Er hatte bereits eine feste Freundin, die hin und wieder am Wochenende für Gerhard und Max kochte. Im Sommer waren sie manchmal zu dritt an den Schliersee gefahren, um von dort aus längere Wanderungen zu unternehmen.

Maximilians eigenes Liebesleben hingegen lag brach. Im Alter von achtzehn Jahren hatte er seine Unschuld verloren, in den Sommerferien, die er bei Onkel Carl in Würzburg verbrachte. Dieser hatte ihn zu einem Bordellbesuch überredet.

»Irgendwann muss es ja mal passieren!«, hatte Carl augenzwinkernd gemeint. »In der Jugend deines Vaters lief so etwas noch anders. Da gab es junge Mägde, Stubenmädchen und andere auf dem Schloss in Kurland. Auf diese Weise wurden die Söhne der Gutsbesitzer in die Liebe eingeweiht. Eine praktische Sache, und seit Jahrhunderten gang und gäbe. Mir war ja leider die Ungnade der späten Geburt beschieden. Die schönen Zeiten waren da längst vorbei.«

Der Bordellbesuch blieb Max noch lange als freudlose und beschämende Erinnerung im Gedächtnis.

Seit Studienbeginn hatte es einige flüchtige Abenteuer gegeben. Kurzzeitige, uninspirierende Bettgeschichten mit zum Teil älteren Kommilitoninnen. Stets war es Max, der die Beziehung beendete. Mit Liebe, wie er sie sich vorstellte, hatte das alles nichts zu tun. Nur mit dem körperlichen Bedürfnis eines jungen Mannes, das hin und wieder befriedigt werden musste.

Onkel Carl, inzwischen Ehemann der Würzburger Brauereibesitzertochter Fanny Mockenhaupt und Vater zweier Kinder, hatte weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit gesehen, Maximilian ein Studium zu finanzieren. Wenn Max in den Schulferien nach Würzburg gekommen war, spürte er stets, dass er bei den Mockenhaupts nur geduldet wurde. Fannys Vater Vinzenz Mockenhaupt – 1946 aus britischer Gefangenschaft zurückgekehrt – entstammte einer alten fränkischen Landarbeiterfamilie, die zur Zeit der Bauernkriege für die Aufhebung der Leibeigenschaft gegen den Adel gekämpft hatte. Dabei waren seinerzeit viele männliche Familienmitglieder hingerichtet und deren Frauen und Kinder in verschärfte Knechtschaft gezwungen worden. Das war zwar lange her, doch die Mockenhaupts trugen die Erinnerung daran von Generation zu Generation weiter. Durch glückliche Umstände und eine vorteilhafte Heirat hatte Vinzenz’ Vater Leopold Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Brauerei erwerben können. Ausgestattet mit großem Tatendrang, unternehmerischen Fähigkeiten und dem Streben nach bürgerlichem Aufstieg, gelang es ihm, den Familienbetrieb rasch prosperieren zu lassen. Vinzenz war in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Im Krieg vierzehn-achtzehn als Unteroffizier hoch dekoriert, war er rechtzeitig in die NSDAP eingetreten. Bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges baute er das Unternehmen noch weiter aus. Sehr schnell begriff er nach seiner Heimkehr aus der Gefangenschaft, dass sich in Zeiten eines Neubeginns ungeahnte Chancen ergeben. Bereits drei Jahre nach Kriegsende vergrößerte er den Betrieb in Würzburg. Seine guten Beziehungen zu maßgeblichen Amtsträgern in der Kommunalpolitik – alte Parteigenossen und Kriegskameraden – erwiesen sich dabei als vorteilhaft. Nun würde er als Firmenpatriarch die Zügel nicht so schnell aus der Hand geben.

Seinem Schwiegersohn Carl begegnete Fannys Vater von Beginn an mit Misstrauen und Argwohn. Dessen Adelstitel hatte sich eher als hinderlich erwiesen. Die alte Bauernehre, zu Zeiten der feudalen Adelsherrschaft mit Füßen getreten, schien ungebrochen. Umso mehr, als Carl einem inzwischen verarmten Adelsgeschlecht entstammte. Die Gründe eines berufslosen Kriegsheimkehrers für die Heirat mit seiner Tochter lagen für Vinzenz Mockenhaupt auf der Hand. Möglich, dass auch Liebe im Spiel gewesen war. Doch wo Geld und sichere Zukunft winken, stellt sich die Liebe beinahe von selbst ein. Daher war der Brauereibesitzer klug genug gewesen, über seinen Anwalt einen ausgeklügelten Ehevertrag aufsetzen zu lassen. Im Fall einer Scheidung von Fanny würde Carl leer ausgehen.

Seit einigen Jahren arbeitete der Schwiegersohn als stellvertretender Geschäftsführer im Exportbereich der Brauerei, eine Tätigkeit ohne umfassende Entscheidungsbefugnis. Nur aus Liebe zu seiner Tochter, seinem einzigen Kind, hatte Vinzenz Mockenhaupt Carl in seinem Betrieb angestellt.

Aus dem einst so charmanten und selbstsicheren Baron Carl von Paalsick war im Lauf der Jahre ein verbitterter, enttäuschter Mann geworden, der zudem unter dem Pantoffel seiner Frau stand. Von Elses Besuch in Würzburg hatte er Maximilian nichts erzählt. Stillschweigend waren Fanny und er übereingekommen, ihren Namen nie zu erwähnen.

Maximilians Suche nach Annette war ergebnislos geblieben. Akten der Gestapo und Unterlagen aus Konzentrationslagern, die sich nach der Teilung des Landes in Ostdeutschland befanden, durften von Westbürgern nicht eingesehen werden. Das Rote Kreuz konnte Max nicht weiterhelfen. Vielleicht ergab sich irgendwann doch noch eine Möglichkeit, bei den ehemaligen Besatzungsmächten nachzuforschen. Die Chance, dass Annette noch am Leben war, erschien Max sehr gering.

Sechs Uhr dreißig. Ein Wind war aufgekommen und peitschte den Regen in alle Richtungen.

Max bog in die Augustenstraße ein. Hier würde er die restlichen zehn Zeitungen in Briefkästen oder auf Treppenabsätze der Abonnenten legen. Die beiden Taschen aus grobem Segeltuch hingen völlig durchnässt am Fahrradgepäckträger. So verhielt es sich schon seit Tagen: Die letzten Zeitungen waren stets feucht, die Druckerschwärze teilweise verwischt.

Er stellte sein Rad an die Wand eines Hauses, das viele Einschusslöcher aufwies. Im Erdgeschoss befand sich die Buchhandlung, in der Max hin und wieder ein Buch kaufte und seine Fachliteratur bestellte. Der Besitzer, ein kriegsversehrter ehemaliger Gymnasiallehrer, gewährte Studenten einen geringen Preisnachlass. Zudem stand für die Kunden stets eine Kanne Kräutertee bereit. In der kalten Jahreszeit ein Grund mehr, die Buchhandlung aufzusuchen.

Im großen Schaufenster lag die Ware dekorativ angeordnet. Romane, Bildbände, Kinderbücher und gebrauchte Exemplare lockten die Kunden an. Wie jeden Morgen warf Maximilian einen raschen Blick ins Schaufenster. Immer donnerstags dekorierte der Buchhändler das Fenster neu. Heute war Freitag, und etwas hatte sich verändert. Maximilian sah es sofort: ein kleines Plakat, von innen an die Scheibe geheftet, schwarze Schrift auf weißem Grund.

Wie angewurzelt blieb Max stehen und starrte auf das Plakat. Was er da las, konnte er kaum glauben.

Die Zeitung, die er in der zitternden Hand hielt, um sie in den Hausflur zu bringen, wurde vom Regen durchtränkt.