Mit fahlem Licht und kraftlosen Sonnenstrahlen hatte der Tag begonnen.
Wie jeden Morgen trug Maximilian die Zeitungen aus. Nach Ende der Schicht kaufte er sich eine warme Brezel und ein Stück Leberkäse und verschlang beides auf dem Weg zum Haus der Witwe Sedlmayr. Dort warf er sich auf sein Bett und starrte an die Decke. Die Zehn-Uhr-Vorlesung bei Professor Bayer würde er schwänzen.
Im Lauf des Vormittags zogen von Süden her Wolken auf, und ein Nieselregen setzte ein. Die Fensterscheiben beschlugen, und es war kalt in Maximilians Zimmer. Vor dem ersten November wurde der Ofen im Zimmer nicht geheizt. Das war schon in den vergangenen Jahren so gewesen.
In der Mittagszeit streifte er ohne Ziel durch die Straßen. Seine Gedanken reihten sich planlos aneinander wie seine Schritte. Erinnerungen wurden wach: Annettes leicht gebeugter Kopf, ihr klassisches Profil, wenn sie ihm im Keller seines Elternhauses in Rathenow aus dem grünen Büchlein vorlas. Ihr Lächeln, das stets ein wenig schattenhaft wirkte. Die Nacht auf dem schmalen Bett im Keller, die Zärtlichkeit und Nähe zwischen ihnen. Die Leidenschaft, die er verspürt hatte, ohne ihr bis zum Letzten nachzugeben. Annettes verzweifelte Gegenwehr, als die Gestapoleute sie auf dem Bauernhof ins Auto zerrten …
Im Englischen Garten setzte er sich auf eine Bank. Er spürte weder den Regen noch seine klammen Finger. Allein in der Stille dieses kalten Herbsttages, sehnte er den Abend herbei.
Die Zeit, die Stille, das Warten.
Max sprang auf, entfernte sich und eilte davon.
Seit vielen Tagen ging ihm immer wieder die eine Frage durch den Kopf: Hatte Annette in den vergangenen Jahren ebenfalls alles darangesetzt, nach ihm zu suchen, und war sie infolge der Nachkriegswirren gescheitert, genau wie er? Oder hatte sie ihn vergessen in ihrem neuen Leben in Amerika? Vergessen wollen? Lebte sie mit einem Partner zusammen, den sie liebte? Immer wieder fragte er sich, ob sie ihn für schuldig hielt, weil er damals in Schernebeck so unbedacht gewesen war, die Schergen zu ihr zu führen.
Hastig verließ er den Englischen Garten. Sein Gesicht glänzte nass vom Regen. Er spürte nicht die Tränen, die ihm jetzt über die Wangen liefen. Die Furcht vor dem heutigen Abend mischte sich mit dem Gefühl schmerzlicher Sehnsucht, Annette endlich wiederzusehen.
Im Saal drängten sich die Menschen, hauptsächlich junge Leute, Studenten. Viele hatten keinen Sitzplatz mehr bekommen. Der Raum war überheizt. Die Luft roch nach nassen Kleidern und Zigarettenrauch. In dichten Schwaden waberte er um die Köpfe der Zuhörer.
Max war es gelungen, sich einen Sitzplatz hinter einer Säule zu sichern. Von hier aus konnte er das Lesepodium mit dem Tisch und dem Stuhl sehen, ohne selbst entdeckt zu werden.
Annette hatte in Begleitung einer Verlagsmitarbeiterin den Saal betreten und war mit starkem Applaus empfangen worden. Wenig später schlug sie ihr Buch auf und begann mit der Lesung.
Maximilians Herz drohte zu zerspringen, so sehr war er von ihrem Anblick überwältigt. Ihre braunen Haare waren kürzer als damals, sie umrahmten das Gesicht einer jungen Frau. Darin sah er nichts Jugendliches mehr, sondern die Ernsthaftigkeit eines Menschen, der bereits in jungen Jahren Schreckliches hatte erleben müssen. Ihre Stimme hingegen klang frisch und jung und stand im Gegensatz zum Blick ihrer blauen Augen, den sie hin und wieder in den Zuschauerraum schickte. Max erblickte in ihnen noch die gleiche Melancholie wie damals in Rathenow.
Da saß sie nun, fremd und vertraut zugleich, und las eine Geschichte, die er in vielen Teilen kannte. Tausend Erinnerungen durchströmten ihn. Je länger er sie betrachtete und ihr zuhörte, desto mehr bündelten sich seine Gefühle zu der klaren Erkenntnis: Er liebte sie. Er hatte sie schon damals geliebt, als er ihr geholfen und sie ihm vertraut hatte. Er würde sie immer lieben. Dieses Wissen war so stark, dass es seine Angst vor der Begegnung mit ihr in den Hintergrund drängte.
Soeben schilderte Annette, wie sie Deutschland verlassen hatte.
»Am 1. Juli 1945 fuhr ich auf Umwegen auf einer strapaziösen Zugfahrt von Magdeburg nach Hamburg. Von dort sollte mich ein Schiff nach New York bringen.
In den Zugabteilen saßen Menschen mit leeren Gesichtern und den zusammengezurrten Resten ihres Schicksals. Während ich ein Ziel vor Augen sah, einen Neubeginn weit weg von diesem Land des Schreckens, taumelten die Mitreisenden einer ungewissen Zukunft entgegen. Einige bemerkten die tätowierte Häftlingsnummer auf meinem Arm, die ich nicht zu verbergen suchte. In den Blicken der Menschen, die mich anstarrten, erkannte ich keine Scham. Nur das Unbehagen derer, die nichts gewusst haben wollen. Und die Abwehr der anderen, die sich ihrer Schuld und Mitschuld bewusst waren und sie dennoch auf immer leugnen würden.
Lange Zeit konnte ich nicht glauben, dass das Schicksal mich verschont hatte. Von meinen Eltern und meinem Bruder habe ich nie wieder etwas gehört. Ihre Spur verlor sich auf einem Güterbahnhof in Hamburg, von wo aus die Transportzüge nach Osten fuhren.
In den darauffolgenden Wochen erwachte ich nachts immer wieder aus schrecklichen Träumen. Doch langsam verblassten sie, und die Starre in meinem Herzen löste sich. Das Leben kehrte zurück, als strömte Wasser in ein ausgedörrtes Flussbett.«
Annette klappte das Buch zu und verharrte einen Moment regungslos. Dann blickte sie auf, lächelte und sagte: »Alles Weitere müssen Sie dann selbst lesen.«
Applaus brandete auf, erst verhalten, dann stärker.
Atemlos hatte Max der Lesung gelauscht. Annettes Worte hatten ihn innerlich so aufgewühlt, dass seine Hände schweißnass waren und zitterten. Es dauerte eine Weile, bis er sie wieder unter Kontrolle hatte.
Voller Anspannung und Ungeduld sehnte er den Augenblick herbei, wo er ihr gegenüberstehen würde.
Endlich wurde der Bücherstapel kleiner. Geduldig lächelnd signierte Annette ihren Roman, wechselte ein paar Worte mit den Käufern und schrieb die nächsten Widmungen. Maximilian bemerkte die lässige Routine, mit der sie sich im Licht der Öffentlichkeit bewegte. Eine Erfolgsautorin und ihr Publikum. Viele Wochen war sie quer durch die USA auf Lesereise gewesen, hatte Interviews gegeben und Diskussionen geführt. Die Tour in Deutschland sollte der Schlusspunkt sein. So hatte es in der Zeitung gestanden, die Max jeden Morgen austrug.
Er wartete, bis der letzte Zuhörer das Podium verlassen hatte. Die Verlagsmitarbeiterin legte die übrig gebliebenen Romanexemplare – es waren nur sehr wenige – in eine Aktentasche. Annette packte ihre Sachen zusammen.
Als Maximilian langsam auf sie zuging, hob sie erst in letzter Sekunde den Kopf. Das Lächeln, das für den zu spät gekommenen Käufer bestimmt war, erstarb auf ihren Lippen. Sie erkannte ihn sofort und taumelte zurück, hielt sich an der Kante des Tisches fest. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Das Erschrecken wich gleich darauf einer freudigen Ungläubigkeit.
Max spürte, wie seine Hände zitterten. Er wagte kaum zu atmen, so sehr überwältigte ihn dieser Augenblick, auf den er so lange gewartet hatte. Er blickte in ihre Augen, die nichts von ihrer tiefblauen Schönheit verloren hatten.
Ohne ein Wort zu sagen, standen sie sich gegenüber. Dann, nach einer Weile, gingen sie wie selbstverständlich aufeinander zu und umarmten sich. Beide konnten ihre Tränen nicht zurückhalten.
»Du lebst, mein Gott, du lebst!«, flüsterte Annette. »Und ich dachte die ganze Zeit … Dein Onkel hat doch damals erklärt, dass du noch kurz vor Kriegsende …« Annette brach ab, löste sich aus der Umarmung und betrachtete ihn. Er war groß und schlank, überragte sie um Haupteslänge. Seine dunklen Haare standen ein wenig widerspenstig vom Kopf ab. Seine Lippen waren leicht geöffnet, als wollte er etwas sagen. Doch es war Annette, die das Wort ergriff.
»Komm«, sagte sie und nahm Maximilians Hand. Unter dem erstaunten Blick der Verlagslektorin verließen beide den Saal.
Sie hatten sich viel zu erzählen. Vor ihnen lag eine lange Nacht.
Und vielleicht das ganze Leben.