KAPITEL 6

Hundeschlittenfahrt

Mit zwei vor Testosteron strotzenden Briten im Schlepptau lasse ich mich zur Farm bringen. Der Weg führt über eine gerade Straße direkt entlang der Zugstrecke. Der Fahrer erklärt seine vorsichtige Fahrweise damit, dass jederzeit Rentiere oder Elche unvermittelt auf der Fahrbahn auftauchen könnten.

»Oh ja, Elche bitte«, wünsche ich mir und ziehe mit meiner Bemerkung den ungläubigen Blick unseres Chauffeurs auf mich. Er schüttelt verständnislos den Kopf. »Wieso habt ihr Deutschen bloß so eine Leidenschaft für diese Tiere? Ein ausgewachsener Elchbulle kann bis zu 700 Kilo wiegen. Ein Zusammenstoß könnte tödlich für uns enden.«

Fortan halte ich den Mund.

Nach einer Viertelstunde erscheint inmitten einer endlos erscheinenden Eis- und Schneelandschaft ein rotes Holzhaus. Je weiter wir uns dem Gebäude nähern, desto lauter wird das Jaulen und Heulen der Hunde.

Unser Eintreffen löst Erstaunen aus. »Seid ihr nur zu dritt?«

Phil bejaht und erklärt sich bereit, den vollen Preis für die vorgeschriebenen sechs Teilnehmer zu zahlen. »Bitte lehne nicht ab«, bettelt er. »Heute ist die letzte Gelegenheit, dieses Abenteuer zu erleben, denn morgen reisen wir ab.«

Nachdem das Finanzielle geklärt ist, führt uns der Eigentümer über seinen Hof, auf dem die Hunde in Außengehegen gehalten werden.

Wir treffen auf eine junge Frau, die unsere Schlitten vorbereitet und den Huskys Geschirre anlegt. Als sie aufschaut, erkenne ich sie sofort.

»Das ist meine Tochter Fenja. Sie leitet als Musher eure kurze Expedition.«

»Bist du denn schon wieder nüchtern?«, frage ich sie leise.

Mit großen Augen starrt sie mich an. Langsam scheint ihr zu dämmern, wo wir uns begegnet sind. Sie drückt den Zeigefinger auf ihre Lippen und signalisiert mir, ihrem Vater gegenüber den Mund zu halten. »Meine Schwestern und ich waren nie im Zug von Stockholm. Alles klar?«, flüstert sie mir unter vorgehaltener Hand zu.

Ich verspreche, sie nicht zu verraten. Dennoch will ich von ihr wissen, weshalb ihre Hunde in Zwingern gehalten werden. »Das ist doch Tierquälerei.«

»Quatsch! Das ist artgerechte Haltung. Huskys fühlen sich draußen am wohlsten. Sie lieben die Kälte.« Eingehend mustert sie mich. »Aber du musst dich unbedingt wärmer einpacken. Komm mit mir!«

Während die Männer draußen eine Einweisung erhalten, folge ich ihr ins Nebengebäude. Dort befinden sich Hosen, Jacken und Schuhe in allen Größen. Sie reicht mir einen Thermoanzug, von dem sie annimmt, dass er mir passen würde. Danach begutachtet sie meine Stiefel. Ihrer Meinung nach schützen auch die nicht ausreichend gegen die vorherrschende Kälte. Ich muss an Alina denken, die sich strikt geweigert hat, in fremde Klamotten zu schlüpfen. Ich habe damit weniger Probleme und vertraue auf Fenjas Erfahrung. Meine Fäustlinge und meine Mütze werden von ihr als akzeptabel eingestuft. »Andernfalls stülpst du dir die Kapuze über und steckst deine Hände in den Muff. Hast du dich mit ausreichend Fettcreme eingeschmiert?«

Ich streiche mit den Fingerspitzen über meine Wange. »Ich habe heute Morgen eine Tagescreme aufgetragen.«

»Das ist bei Weitem nicht genug! Sollte es sich um eine Emulsion gehandelt haben, läufst du sogar Gefahr, erst recht Erfrierungen davonzutragen.« Sie reicht mir einen Tiegel. »Trage das großzügig auf!«

»Was ist das?«

»Pures Melkfett. Es wird Kühen auf die Zitzen geschmiert, um die Haut vor der Witterung zu schützen.«

»Aha. Und wohin soll ich mir das schmieren?«

»Wie gesagt, auf die Nippel!«

»Bitte?«

Ich werde schallend ausgelacht. »Natürlich sollst du dein Gesicht damit eincremen!«

»Witzbold!«

Das Geheule der Hunde wird lauter. Das ist ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie aufbrechen wollen.

Ich bin startklar. Die Engländer benötigen noch einen Moment, um sich Kopfgurte anzulegen, an denen sie ihre Actionkameras befestigen.

Mit zwei Gespannen, die jeweils von sechs Hunden gezogen werden, geht es kurz darauf in die Wildnis. Mein von Fenja geführter Schlitten fährt voran.

Mein Herz klopft, während die Kufen auf dem harschen Untergrund gleiten.

Nachdem wir die Farm verlassen haben, spornt Fenja die Hunde an, schneller zu laufen. Noch geht es stur geradeaus. Dennoch sitze ich verkrampft auf einem Rentierfell und sehe die erste Kurve mit Schaudern auf uns zukommen. Ob das gut geht?

Es geht gut, und ich fange an, mich zu entspannen. Die Hunde kennen die Strecke, und ich genieße die unberührte Natur. So fühlt sich Freiheit an, denke ich und kann nicht fassen, dass gerade ein lang gehegter Kindheitstraum für mich in Erfüllung geht.

Genau wie die Hunde, die gerne weiterlaufen würden, könnte auch ich endlos weiterfahren, aber nach einer Stunde drosselt meine Schlittenführerin das Tempo und lenkt das Gespann vor eine Hütte.

Fenjas Mutter erwartet uns in einem Tipi. Sie hat heißen Tee vorbereitet und reicht uns Sandwiches. Ich stelle mich neben die Engländer und bedanke mich bei ihnen. »Ihr ahnt nicht, wie froh ich bin, dass ihr mich angesprochen habt. Ist es möglich, dass ich einen Mitschnitt von eurem Video bekomme?«, erkundige ich mich in ihrer Muttersprache.

Phil nickt. Auch er strotzt vor Glückshormonen, zumal es ihm gelungen ist, den Schlitten ganz allein zu lenken.

Wir tauschen Mailadressen und Handynummern aus, während Fenja von Hund zu Hund wandert und jeden einzelnen streichelt und lobt.

»Darf ich auch?«, erkundige ich mich.

Ich darf nicht nur, ich soll sogar. Mir hat es der Leithund angetan. Eine vierjährige Hündin mit einem unsagbar schönen Kopf. Sie hat stahlblaue Augen, die mich spontan an Theo erinnern. Zu schade, dass Alina gezickt hat. Ich bin mir sicher, dass mein alter Freund auch Spaß an diesem viel zu kurzen Erlebnis gehabt hätte.

»Nächstes Jahr kommen wir wieder und buchen eine Dreitagestour bei euch«, verkünden die Engländer. Ohne zu fragen, ob sie mich dabeihaben wollen, stimme ich ihnen zu.

»Ja, ich auch. Mindestens drei Tage.«

Es geht zurück zur Farm. Die untergehende Sonne taucht den Himmel in ein spektakuläres Farbenspiel aus Blautönen, Orange und Gold. Es ist so ergreifend, dass ich weinen möchte. In diesem Moment vermisse ich Marco unfassbar arg. Ich würde alles geben, um diesen berührenden Moment mit ihm teilen zu können.

Bevor ich mich versehe, ist die Zeit um. Ich nehme mit letzten Streicheleinheiten Abschied von meinem knuffigen Leithund.

Fenjas Schwester bringt uns nach Kiruna. Ich nutze die Fahrt, um mehr von ihr und ihrer Familie zu erfahren. Ihre Eltern sind vor fünfzehn Jahren mit Kind und Kegel von Kassel nach Lappland ausgewandert, um ihren Traum zu leben. Ohne ein Wort Schwedisch zu sprechen, haben sie sich hier eine Existenz aufgebaut. Bewundernswert.

»Ist es auch dein Wunsch, hier zu leben?«, frage ich.

Sie schüttelt den Kopf. »Ich sehe meine Zukunft in der Großstadt.«

Verrückt, denke ich. Warum begehrt der Mensch meist das, was er nicht hat? Die Landbevölkerung sehnt sich nach Trubel, Stadtmenschen lechzen nach Ruhe auf dem Land. Was ist mit mir? Wovon träume ich? Bin ich zufrieden? Gerade bewerte ich den heutigen Tag auf einer Skala von eins bis zehn mit einer fetten Neun, als wir meine Unterkunft erreichen und ich aussteigen muss.

»Vielen Dank für die unvergessliche Erfahrung«, rufe ich dem abfahrenden Wagen hinterher und begebe mich beseelt auf mein Zimmer.

Statt zu duschen, lasse ich mir ein Vollbad ein. Im wohlig warmen Wasser entspanne ich und hole mir die vielen Eindrücke des Tages noch einmal zurück. In Gedanken schlendere ich durch das Eishotel, als mein Handy klingelt. Ich verlasse die Nasszelle, schlüpfe in einen flauschigen Bademantel und nehme den Anruf entgegen.

»Hey, Schatz«, begrüße ich Marco und werfe mich rücklings aufs Bett. »Wie habt ihr den Tag verbracht?«

Seine Stimme klingt mürrisch. »Viel gegessen, viel getrunken und gebetet, dass es endlich aufhört zu schneien.«

»Ich hatte einen wunderbaren Tag«, schwärme ich und gebe ihm eine Kurzfassung.

»Wie? Du bist am Polarkreis?«

»Genau genommen befinde ich mich zweihundert Kilometer nördlich.«

Er nimmt an, dass ich mir einen Spaß mit ihm erlaube. Während wir telefonieren, sende ich ihm Beweisfotos.

»Dann kann ich mir die Frage nach dem Vermissen wohl sparen«, grummelt er.

»Heute habe ich mir sehnlich gewünscht, dass du bei mir wärst. Es war aufregend, beeindruckend. Hach, mir fehlen die Worte, um es treffend auszudrücken.«

»Fein, dann muss ich kein schlechtes Gewissen haben.«

»Nein, das musst du ganz gewiss nicht. Genieße du deinen Urlaub. Ich werde es auch tun.«

»Was hast du morgen vor?«

Ich bitte ihn, einen Moment zu warten, damit ich einen Blick auf meine Reiseunterlagen werfen kann. »Laut Plan geht es nach Abisko zur Aurora Sky Station. Angeblich besteht dort die größte Wahrscheinlichkeit, Polarlichter zu bestaunen. Bitte drück mir die Daumen, denn es gibt keine Garantie, dass ich überhaupt welche zu sehen bekomme. – Marco, bist du noch dran?«

»Ich schaue mir gerade deine Fotos an. Wer ist der Typ, der mit dir auf dem Hundebild zu sehen ist?«

»Ach, das war Phil, einer der Engländer, die ich heute kennengelernt habe.«

»Heute kennengelernt«, wiederholt er. Eine lange Pause entsteht.

»Du bist doch wohl nicht eifersüchtig?«, veralbere ich ihn, bekomme jedoch keine Antwort.

»Ich lege jetzt auf. Paul und Johanna wollen Karten spielen.«

»Grüße die beiden von mir.«

»Mach ich«, knurrt er und beendet das Gespräch.

Über seine Reaktion kann ich nur den Kopf schütteln. Doch ich nehme mir vor, mir nicht die gute Stimmung verderben zu lassen. Ich beabsichtige, den ereignisreichen Tag bei einem guten Essen ausklingen zu lassen, und ziehe mich an.

Bevor ich das Restaurant aufsuche, erkundige ich mich an der Rezeption, wie ich am schnellsten ins einhundert Kilometer entfernte Abisko komme.

Mir wird empfohlen, die Bahn zu nehmen. Ich bitte um Zettel und Stift. Als ich mir die Abfahrtzeit notiere, werde ich von der Seite angesprochen.

»Hast du Elche gesehen?«

»Theo! Habt ihr euren Flug verpasst?«

»Alina ist geflogen. Ich wollte noch bleiben und habe mir ein Zimmer genommen, denn ich möchte etwas mit dir besprechen. Beim Abendessen?«

Ich grinse ihn an. »Unbedingt. Ich habe einen Bärenhunger.«

Wir speisen vorzüglich. Theo hängt an meinen Lippen, während ich unentwegt rede. Nach Wochen der Stille sprudelt es regelrecht aus mir heraus. Anders als Marco scheint es ihn wirklich zu interessieren, was ich zu sagen habe. Aufmerksam hört er mir seit Stunden zu. Erst als der Ober am Tisch erscheint und darum bittet, abkassieren zu dürfen, wird mir bewusst, dass Theo bisher keine Gelegenheit hatte, sein Anliegen vorzutragen.

»Entschuldige. Ich habe dich gar nicht zu Wort kommen lassen. Worüber wolltest du mit mir reden?«

»Das erzähle ich dir morgen«, versichert er und zieht seine Kreditkarte aus der Brieftasche.

Ich möchte nicht, dass er die Rechnung übernimmt, und schlage vor, den Betrag zu teilen. Doch er lässt es sich nicht nehmen, mich einzuladen.

»Darf ich dir wenigstens einen Absacker in der Sky Bar ausgeben? Dann sprichst du und ich höre nur zu.«

Theo schaut auf die Uhr. »Ich fürchte, daraus wird nichts. Die Bar schließt in wenigen Minuten.«

Es ist bereits kurz vor elf. Nach dem bewegten Tag sollte ich eigentlich müde sein, aber ich fühle mich putzmunter.

»Lass es uns trotzdem versuchen. Selbst wenn wir nichts mehr bekommen, können wir zumindest einen Blick auf die Stadt werfen. Vielleicht haben wir Glück, und es zeigen sich Polarlichter am Himmel.«

Wir eilen zu den Aufzügen und lassen uns in die oberste Etage fahren. Doch wir sind zu spät. Direkt vor unseren Augen wird die Tür abgeschlossen. Die Enttäuschung steht mir im Gesicht geschrieben.

»Zwar kann ich dir keinen Ausblick vom Rooftop bieten, aber die Aussicht von meinem Zimmer ist auch nicht zu verachten.«

Für mich kommt es nicht infrage, ihn auf sein Zimmer zu begleiten. Ich rede mich heraus. »Es ist Zeit, schlafen zu gehen. Morgen muss ich früh raus, wenn ich vor dem Check-out noch frühstücken will.«

»Okay«, erwidert er verständnisvoll und drückt im Lift den Knopf für die achte Etage. Als sich die Fahrstuhltür öffnet, wünscht er mir eine gute Nacht.

In dem Moment, als ich mein Zimmer erreiche, signalisiert mir mein Handy, dass ich eine SMS erhalten habe. Die Nummer des Versenders ist unbekannt. Normalerweise ignoriere ich anonyme Nachrichten, aber meine Neugierde überwiegt in diesem Fall. Theo hat mir geschrieben und ein Foto von Kiruna bei Nacht geschickt.

Keine Polarlichter zu sehen. Schlaf gut.

Ich rufe ihn sofort an. »Woher hast du meine Handynummer?«

»Von deiner Mutter. Von ihr weiß ich auch, dass du morgen nach Abisko zur Aurora Sky Station reist.«

»Kommst du mit?«

»Wenn du mich dabeihaben willst, schließe ich mich sehr gerne an. Aber Mehrbettzimmer mit einer Gemeinschaftstoilette sind nicht mein Ding.«

»Wie kommst du jetzt darauf?«

»Hast du dir deine nächste Unterkunft noch gar nicht im Netz angeschaut?«

Ich verneine. »Ich lasse mich überraschen.«

»Glaub mir, das wird eine böse Überraschung.«

»Sei kein Snob! Es ist doch nur für eine Nacht.«

Er lacht. »Die wird gewiss unvergesslich.«

Nun ist es ihm gelungen, mich zu verunsichern. Ich beende das Gespräch und gehe online, um zu überprüfen, ob es stimmt, was er behauptet hat.

Theo hat nicht übertrieben. Es handelt sich tatsächlich um eine in die Jahre gekommene Jugendherberge, in der man Privatsphäre vergeblich sucht. Wenn die Fotos schon abstoßend wirken, wie wird es in der Realität dort aussehen?

Hätte ich doch nur meinen Mund gehalten und ihn nicht als Snob betitelt. Nun gibt es kein Zurück für mich. Irgendwie muss ich die kommende Nacht dort überstehen.