KAPITEL 7

Polarlichter

Als mein Wecker am nächsten Morgen um Viertel nach acht klingelt, ist es draußen noch stockdunkel. Ich gehe duschen und koste noch einmal die Annehmlichkeiten eines eigenen Badezimmers aus, bevor ich mich mit Theo zum Frühstück treffe.

Er hat bereits im Restaurant Platz genommen und fixiert sein Handy.

»Guten Morgen«, wünsche ich und hänge meine Handtasche über die Stuhllehne.

»Ich sehe mir gerade die Wettervorhersage an. ›Überwiegend bewölkt‹, heißt es. Die Wahrscheinlichkeit, heute Nordlichter zu sehen, ist verschwindend gering.«

Ich zucke gleichgültig die Achseln. »Nicht schlimm. Dann bleiben wir hier und unternehmen etwas anderes.«

Theo lacht mich schallend aus. »Ich habe dich durchschaut. Du hast dir doch noch die Herberge im Internet angesehen. Dass der Himmel wolkenverhangen ist, kommt dir gerade recht, um nicht in Abisko übernachten zu müssen.«

»Ertappt«, gebe ich zu und marschiere zum Buffet.

Während ich Butter und Käse auf einen Teller lege, zapft Theo sich einen Becher Kaffee.

»Ist das alles?«, frage ich erstaunt, als ich mit meiner Auswahl an den Tisch zurückkehre.

»Ich mag so frühmorgens noch nichts essen.«

Frühmorgens? Es ist nach neun Uhr. »Wann stehst du denn gewöhnlich auf?«

»Nie vor elf. Ich bin ein Nachtmensch. Meine kreative Schaffensphase beginnt meist kurz vor Mitternacht und endet gegen sechs Uhr morgens.«

»Du kommst mit so wenig Schlaf aus? Ich benötige mindestens sieben Stunden, sonst bin ich nicht zu gebrauchen.«

»Wenn ich mich nicht täusche, konntest du früher die Nächte durchfeiern und warst am nächsten Morgen stets topfit.«

Ich erinnere mich. »Ja, das waren wilde Zeiten.«

»Ich denke gern daran zurück. Wir waren so ambitioniert, steckten voller Tatendrang. Und heute?«

»Heute hast du es geschafft. Du bist erfolgreich und kannst von deiner Kunst leben. Das können nicht alle von sich behaupten.«

»Arbeitest du deshalb in einer Muckibude?«

»Woher weißt du das? – Sag nichts! Meine Mutter hat es dir erzählt.« Worüber haben die beiden wohl noch gesprochen? Sobald ich wieder zu Hause bin, werde ich sie mir zur Brust nehmen und ihr untersagen, hinter meinem Rücken über mich zu reden.

»Das muss dir doch nicht peinlich sein.«

»Wer sagt denn, dass mir mein Job peinlich ist?«

»Weshalb verheimlichst du ihn vor mir?«

»Bisher hast du mich nicht danach gefragt. Apropos fragen. Ich werde mich gleich an der Rezeption erkundigen, ob es möglich ist, den Aufenthalt zu verlängern.«

»Den Weg kannst du dir sparen. Das Hotel ist ausgebucht. Aber ich habe mich bereits um eine Alternative gekümmert.« Er reicht mir sein Handy, auf dem sich Bilder einer massiven Holzhütte befinden. Der sechseckige Bau befindet sich in direkter Uferlage.

»Ist das der Torne älv?«

»Nein, das ist kein Fluss, sondern ein zugefrorener See. Ich habe das Häuschen für zwei Tage gebucht. Gegen Mittag kann es bezogen werden. Wenn es auch für dich in Betracht kommt, sollten wir uns vorher mit Lebensmitteln eindecken, denn dort ist Selbstversorgung angesagt.«

Theo muss mir genau zugehört haben, denn das Objekt, das er ausgesucht hat, entspricht exakt der Beschreibung, die ich ihm gestern gegeben habe.

»Warum tust du das? Weshalb legst du dich derartig für mich ins Zeug?«

»Aus reinem Eigennutz. Magst du auch noch einen Kaffee?«

»Nein, ich hätte lieber eine Antwort auf meine Frage.«

»Später, Rieke. Lass uns erst auschecken.«

Ich habe meinen Koffer und den Rucksack aus dem Zimmer geholt und die Schlüsselkarte am Counter abgegeben.

Als ich ins Freie trete, entdecke ich Theo an seinem komplett vereisten Leihwagen. Er nimmt mir das Gepäck ab und schlägt vor, dass ich in der warmen Lobby warten soll, bis er die Scheiben freigekratzt hat.

»Wenn mir die Kälte etwas ausmachen würde, wäre ich nicht nach Lappland gereist.«

Bevor ich einsteige, schaltet er die Standheizung ein. Sie läuft auch während der kurzen Fahrt zum Supermarkt.

In Gedanken erstelle ich eine Einkaufsliste mit Sachen, die man unbedingt braucht. Klopapier, Instantkaffee, Tee, Milch, Kakao, Knäckebrot und Butter.

Gemeinsam schlendern wir durch die Gänge, als ich vor einem Regal in Jubelschreie ausbreche. »Ich werde verrückt. Schau dir diese Auswahl an.«

»Du magst Lakritze?«

»Mögen? Ich liebe sie in allen Variationen. Ob als Schlange, Schnecke oder Kugel, mit oder ohne Füllung, aber mein Favorit sind die salzigen.«

»Die mag ich auch am liebsten. Halte dich nicht zurück und packe ein, soviel du tragen kannst.«

Fünf transparente Dosen wandern in den Einkaufskorb. Was mich betrifft, könnten wir zur Kasse gehen, aber Theo meint, wir sollten noch Kekse, Marmelade und Eier mitnehmen.

Da ich davon ausgehe, dass er wieder bezahlen wird, greife ich zu einer List. Während ich die Sachen aufs Laufband lege, bitte ich ihn, noch eine Flasche Glögg zu holen. Ich nutze seine Abwesenheit und begleiche den Einkauf mit meiner Karte, packe alles in eine Papiertüte und verlasse das Geschäft.

Zufrieden, ihn ausgetrickst zu haben, warte ich draußen.

Als er wenig später mit einer Flasche Schwedenpunsch aus dem Laden tritt, belegt er mich mit einem ernsten Blick. »Geht es dir jetzt besser?«

»Ja, ich möchte nicht, dass du mich ständig freihältst. Schon gestern hast du alles bezahlt.«

»Du bist eine Erbsenzählerin!«, schilt er mich und öffnet per Knopfdruck die Wagentüren.

Wir sind seit einer halben Stunde unterwegs. Das Thermometer zeigt achtzehn Minusgrade, die Sonne versteckt sich hinter einer dicken Wolkendecke. Meine Hoffnung, der Himmel würde heute noch aufreißen, schwindet mit jedem gefahrenen Kilometer. Gerade will ich Theo fragen, wann wir ankommen werden, als er mich anstupst.

»Sieh mal. Da vorne rechts. Sind das Elche?«

Ich schärfe meinen Blick. Doch erst als wir auf gleicher Höhe sind, erkenne ich, dass es sich um Rentiere handelt.

»Unfassbar. Die laufen hier frei herum«, stelle ich begeistert fest.

»Hast du schon mal Rentierfleisch gegessen? Es schmeckt ausgezeichnet. Hm, bei dem Gedanken an ein herzhaftes Ragout mit Rotkohl und Bratkartoffeln läuft mir das Wasser im Mund zusammen.«

»Kein Wunder, dass du Hunger verspürst. Du hättest frühstücken sollen. Möchtest du etwas aus der Einkaufstüte? Ich könnte versuchen, die Kekse herauszufischen.«

Als ich mich anstelle, hinter meinen Sitz zu greifen, winkt Theo ab. »Ich habe eine bessere Idee. Bis wir ins Haus können, müssen wir ohnehin noch Zeit überbrücken. Was hältst du davon, die nahe gelegene Rentierfarm zu besuchen und dort mittagzuessen?«

»Ich bin dabei.«

Wenige Minuten später setzt er den Blinker. »Wieso kennst du dich hier so gut aus? Warst du schon mal hier?«

»Nein, Lappland ist auch für mich eine Premiere. Ich weiß, wohin ich fahren muss, weil ich mich in der Nacht mit den Örtlichkeiten vertraut gemacht habe. Schließlich möchte ich, dass dir dieser Urlaub in unvergesslicher Erinnerung bleibt.«

Schon wieder macht er so komische Andeutungen, die ich nicht einordnen kann. »Warum willst du das?«

»Weil du es verdienst.«

»Was hat meine Mutter dir über mich erzählt?«

Er gibt vor, nicht zu verstehen, was ich meine. Ich werde konkreter. »Hat sie mit dir über meine Beziehung zu Marco gesprochen?«

Er grinst mich auf unverschämt freche Art an. »Wer ist Marco?«

Ich bin mir absolut sicher, dass er genau weiß, von wem die Rede ist. »Vergiss es!«

Die Rentierfarm ist ein Touristenmagnet. Bei bedecktem Himmel zieht sie besonders viele Besucher an. Unmittelbar nach unserer Ankunft wird uns mitgeteilt, dass sämtliche Schlittenfahrten ausgebucht seien.

»Sie hätten vorbestellen sollen. Aber Sie dürfen ins Gehege und die Tiere füttern.« Ehe wir uns versehen, drückt man uns zwei Tüten mit Flechten in die Hand.

»Bist du jetzt enttäuscht?«, erkundigt Theo sich mit schuldbewusster Miene.

»Weil wir uns nicht im Schritttempo durch den Wald ziehen lassen können? Nein, ganz sicher nicht.«

»Und ich dachte, es wäre einer deiner Herzenswünsche.«

»Das können wir nachholen, wenn wir alt und grau sind.«

»Deal!« Er streckt mir die Hand entgegen und fordert mich auf, mit ihm abzuklatschen.

Nachdem wir das Futter bezahlt haben, dürfen wir das Gehege betreten. Die gefräßigen Tiere legen keinen großen Wert darauf, gestreichelt zu werden. Das Island Moos ist ihnen wichtiger. Sie sind regelrecht auf die Papiertüten konditioniert und lassen erst von mir ab, nachdem sie alles verputzt haben.

Ich lasse mir erklären, dass es ausschließlich die weiblichen Rentiere sind, die ein Geweih tragen.

»Interessant. Ich dachte, es wäre genau andersherum.«

»Die Hirsche verlieren ihr Geweih im Herbst, die Kühe erst im Frühjahr.«

Wieder etwas dazugelernt, denke ich, verlasse das Gehege und folge Theo zur überdachten Feuerstelle. Dort wird in riesigen Pfannen Essen zubereitet. Es gibt Ragout und Wurzelgemüse. Zwar bin ich nicht so hungrig wie er, aber ich möchte das traditionelle Essen unbedingt probieren.

»Schmeckt’s?«, tönt es kurz darauf.

Diese Stimme kenne ich doch. Und richtig. Es handelt sich um Michael, den gefürchteten Besserwisser.

»Ich kann nicht klagen«, antwortet Theo und isst unbeirrt weiter.

Heute hält Michael sich nicht mit Höflichkeiten auf, sondern setzt sich wie selbstverständlich zu uns auf die Bank. Mit Argusaugen begutachtet er unsere Teller.

»Mit authentischer Esskultur hat dieses Mahl nichts zu tun. Wie vielerorts hat man sich auch hier dem europäischen Geschmack angepasst. Schade, denn die ursprüngliche Küche der Samen hat viel zu bieten.«

Weil zu befürchten ist, dass er uns gleich einen ellenlangen Vortrag halten wird, nehme ich ihm den Wind aus den Segeln. »Nichtsdestotrotz sagt es uns zu.«

»Na, du hast aber schnell Anschluss gefunden, Rieke.«

Ich stoße Theo unter dem Tisch an und hoffe, dass er mitspielt. »Du liegst falsch. Wir sind frisch verheiratet und befinden uns in den Flitterwochen. Deshalb wären wir jetzt lieber unter uns.«

Michael gratuliert und zieht sich wie erhofft zurück.

»Wer war der Knilch?«

»Ein Klugscheißer erster Güte. Wenn ich nicht zu einer Notlüge gegriffen hätte, wären wir ihn nicht wieder losgeworden.«

»Flitterwochen? Du schwindelst, ohne mit der Wimper zu zucken.«

»Aber ich war überzeugend, oder?« Ich grinse verschmitzt.

»Absolut, Liebling«, kontert er und drückt mir einen Kuss auf den Mund.

Ich bin doppelt perplex. Zum einen, weil Theo sich getraut hat, mich aus heiterem Himmel zu küssen, zum anderen, weil es mir nicht unangenehm war.

»Spar dir das! Er ist weg.«

»Und wenn er wiederkommt? Bitte, lieber Gott, lass ihn wiederkommen.«

Leise kichere ich vor mich hin. »Du bist verrückt, aber lustig.«

»Ich bin auch gern mit dir zusammen.«

Sein Handy vibriert. Er schaut aufs Display und fährt mit seinen Mätzchen fort. »Willst du, Rieke, jetzt mit dem hier anwesenden Theo in die Honeymoon Lodge ziehen?«

Demonstrativ lege ich meine Hand auf seine, schaue ihm tief in die Augen und hauche: »Ja, ich will.«

Der Weg durch den verschneiten Wald führt über eine schmale Trasse. Vor uns muss ein Wagen gefahren sein, denn die Reifenspuren sind deutlich zu erkennen. Theo stoppt vor einem Briefkasten, der mit einem Zahlenschloss versehen ist.

»Vier, zwei, fünf, sieben«, höre ich ihn sagen. Gleich darauf springt eine Klappe auf, in der ein Schlüsselbund für uns deponiert wurde. Wir lassen den Wagen stehen und gehen die restlichen Meter zu Fuß weiter.

Neben der Hütte, die ich schon von Bildern kenne, stehen zwei kleinere Pavillons gleicher Bauart.

»Eins der beiden wird die Sauna sein«, mutmaßt Theo und schließt das Haupthäuschen auf. »Klein, aber fein«, lautet sein Urteil.

»Wirklich fein«, stimme ich ihm zu. »Aber es gibt hier keine Trennwände. Wir wohnen, kochen und schlafen in einem Raum.«

»Dann werden sich Bad und Toilette im Nebengebäude befinden. Hast du ein Problem damit?«

»Nicht damit, dass sich die sanitären Anlagen außerhalb befinden, sondern mit der Tatsache, dass es hier keine Trennwände gibt.«

»Wenn es nur das ist. Ich kann hinausgehen, wenn du lieber alleine kochst.«

Ich schnappe mir ein Sofakissen und pfeffere es dem Frechdachs direkt ins Gesicht.

»Geht es dir um die Schlafsituation? Keine Sorge. Obwohl wir frisch vermählt sind, bestehe ich nicht darauf, dass wir die Betten zusammenschieben.«

In meinem Kopf rattert es. Bisher könnte ich Marco die Sache mit Theo und mir mühelos erklären. Dass ich jedoch mit meinem ehemaligen Studienfreund inmitten der Wildnis in einem Raum übernachte, könnte Marcos Toleranzgrenze übersteigen.

»Sieh dir mal das Dach an, Rieke. Es besteht nicht aus Schindeln, sondern es ist komplett verglast.« Theo lässt sich auf eines der Betten fallen. »Hier kann man bequem im Liegen die Nordlichter betrachten. Sofern sie erscheinen.«

»Wunderbar«, stammle ich, nehme den Schlüsselbund an mich und stiefle zu den Nebengebäuden.

Wie vermutet, sind in einem das Bad, die Toilette und die Sauna untergebracht. Mit großen Schritten schreite ich den freien Boden ab. Ich komme auf gute zwei Meter Länge und einen Meter Breite. Der Platz reicht aus, um eine Schlafliege unterzubringen. Damit ist es beschlossene Sache. Einer von uns wird hier pennen. Wer das sein wird, können wir später ausknobeln.

Theo lugt durch die Tür. »Warst du auch schon nebenan?«

Ich verneine. »Dann komm schnell. Du wirst Augen machen.« An der Hand zieht er mich aus der Sauna.

Der dritte Pavillon ist eine sogenannte Feuerkota.

»Wow«, platzt es aus mir heraus.

»Das Beste hast du noch gar nicht gesehen.« Er führt mich auf die Rückseite des Grillhäuschens, wo sich unter einer Plane ein Motorschlitten versteckt.

»Sag bloß, den dürfen wir benutzen?«

»So steht es im Vertrag.«

Wir beschließen, rasch unsere Sachen aus dem Wagen zu holen und die Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit für eine Spritztour zu nutzen.

In einem Thermoanzug und mit einem Helm auf dem Kopf düsen wir mit achtzig PS im Zweisitzer über den vereisten Torneträsk. Jauchzend kralle ich mich an Theo fest.

Nach einer gefühlten Viertelstunde stoppt er und bietet mir an, die Plätze zu tauschen.

»Du lässt mich fahren?«

»Es ist ganz einfach. Oder hast du Angst?«

»›Angst‹ kommt in meinem Wortschatz gar nicht vor.«

Nach einer kurzen Instruktion gebe ich Gas. Der peitschende Fahrtwind kann mir nichts anhaben. Ich erlebe den ultimativen Adrenalinkick.

Stunden nach unserer Rückkehr fühle ich mich noch immer wie im Rausch. »Meine Güte, war das aufregend«, wiederhole ich zum x-ten Mal, während Theo einen heißen Kakao für uns zubereitet. »Möchtest du Gebäck dazu?«

»Auch«, erwidere ich, öffne meinen Koffer und präsentiere die Flasche Rum, die ich mitgebracht habe.

Theo hebt skeptisch die Brauen. »Lumumba? Du lässt wohl nichts aus.«

Ich kippe einen kräftigen Schluck in die Becher und fordere ihn auf, mir endlich zu verraten, bei welchem Problem ich ihm helfen kann.

»Du willst jetzt wirklich über Berufliches sprechen?«

Ich bestehe darauf. Er holt sein Tablet hervor. Aber es lässt sich nicht anstellen.

»Bei der Kälte hält kein Akku«, murrt er, verbindet das Gerät mit einem Kabel und steckt es in die Steckdose. »Ich kenne niemanden, der sich so gut mit Papier auskennt wie du. Für mein neues Projekt bin ich seit Monaten auf der Suche nach dem richtigen Werkstoff.«

Das Display leuchtet auf. Gleich darauf zeigt Theo mir eine Skizze seiner geplanten 3D-Wandskulptur.

»Ich suche etwas Nachhaltiges, das umweltverträglich hergestellt wird, aber dennoch wertig wirkt.«

»Was hältst du von Hanf oder Gras? Beide sind hervorragende Alternativen zu Papier aus Holz.«

Er schüttelt den Kopf. »Die Fasern sind zu sperrig.«

»Und wenn du es mit der Nasstechnik versuchst?«

»Das habe ich ausprobiert, aber das Ergebnis hat mich nicht überzeugt. Hinzu kommt, dass ich kein maschinell gefertigtes Papier verwenden möchte, sondern etwas Ursprüngliches. Was hast du früher stets gesagt? ›Nicht das Werk, sondern das Material steht für wahre Kunst.‹«

»Lass mich überlegen.« Das kann ich am besten bei einem Heißgetränk. Ich erwärme Glühwein, pimpe auch den mit Rum auf und stoße mit Theo an.

»Planst du mich abzufüllen? Ich vertrage nicht viel Alkohol.«

Ich überhöre seinen Einwand und denke laut nach. »Traditionell soll es sein. Dann fällt mir nur handgeschöpftes Büttenpapier ein.«

»Kennst du Manufakturen, die dieses alte Handwerk beherrschen?«

»In der Eifel gibt es einen Betrieb. Aber der Name fällt mir nicht ein. Meine Mutter könnte es wissen. Sie hat ein Gedächtnis wie ein Elefant. Wenn du willst, rufe ich sie an und frage nach. – Theo? Alles klar?«

Er hat sich aufs Sofa fallen lassen, bettet seinen Kopf auf die Seitenlehne und schaut durch die Dachfenster. »Ich sehe Sterne.«

»Sag bloß, du bist nach zwei Drinks schon blau?«

»Ich fantasiere nicht. Es stehen Sterne am Himmel. Komm her und überzeuge dich selbst.«

Ich gehe zu ihm und fordere ihn auf, ein Stück zu rücken, damit ich mich neben ihn quetschen kann. »Tatsächlich. Die Wolken sind verschwunden. Vielleicht bekommen wir doch noch Polarlichter zu sehen. Lass uns einfach abwarten.«

»Aber nicht in dieser Position. Du klemmst mir nämlich den Arm ab.« Er zieht ihn unter mir heraus und breitet ihn hinter meinem Nacken für mich aus. Mein Kopf landet in seiner Beuge. »Ja, so ist es gemütlich«, raunt er, während ich seinen Atem an meinem Hals spüre.

Wie lange wir vergeblich auf das Naturschauspiel gewartet haben, vermag ich nicht zu sagen. Fest steht, dass Theo neben mir eingeschlafen ist. Auch meine Augen sind schwer und fallen mir vor Müdigkeit ständig zu.

Ich verspüre ein dringendes Bedürfnis. Weil ich ihn nicht wecken will, erhebe ich mich vorsichtig vom Sofa und schleiche auf Zehenspitzen zur Garderobe. Dort schlüpfe ich in meine Boots, nehme meine Daunenjacke vom Haken und stecke mein Handy ein, das mir als Taschenlampe auf dem kurzen Weg zum Bad leuchten soll.

Im Pavillon ist es bitterkalt. Es kostet mich große Überwindung, die Hose runterzuziehen. Während ich befürchte, auf der Klobrille festzufrieren, erhalte ich einen Anruf von Johanna.

»Hey«, flüstere ich, obwohl es gar keinen Grund gibt, leise zu sprechen. Ich klemme mir das Telefon unters Kinn und betätige die Spülung.

»Bist du etwa auf Toilette?«, fragt sie amüsiert.

»In einer ohne Heizung.«

»Wie kalt ist es bei dir?«

»Ich weiß es nicht. Saukalt!«

»Es war ein Fehler, dass du uns nicht begleitet hast. Ohne dich ist es hier nicht nur stinklangweilig, es herrscht seit heute übelste Stimmung. Sollten die Männer sich nicht schnellstens wieder einkriegen, reise ich ab.«

»Wieso? Was ist denn passiert? Haben sich Marco und Paul mal wieder beim Skat in die Wolle bekommen? An deiner Stelle hätte ich die Karten vor ihnen versteckt.«

»In weiser Voraussicht habe ich gar keine mitgenommen. Wir wissen doch beide, dass unsere Kerle nicht verlieren können.«

Das verstehe ich nicht. Hatte Marco unser gestriges Telefonat nicht mit der Begründung beendet, Johanna und Paul hätten ihn zum Kartenspielen gerufen?

»Weshalb sind sie denn aneinandergeraten?«

»Ich habe keine Ahnung. Paul mauert, wenn ich ihn danach frage. Fakt ist, dass sie kein Wort mehr miteinander wechseln.«

Das klingt nicht gut. »Soll ich mal mit Marco reden?«

»Ja, bitte. Vielleicht hast du mehr Glück als ich.«

Ich verspreche, ihn sofort anzurufen, und lege auf.

Freizeichen. Es klingelt bereits zum vierten Mal, als ich weggedrückt werde. Ich bin außer mir.

»Rutsch mir doch den Buckel runter«, schimpfe ich, stelle den Ofen aus und verlasse die Sauna, die zwischenzeitlich für angenehme Temperaturen gesorgt hat.

Raus aus der Wärme, hinein in die klirrende Kälte. Ich laufe zurück, als ich plötzlich schräg über mir einen blassgrünen Schimmer am Himmel entdecke.

Wie von Sinnen stürme ich ins Haupthaus und schreie: »Theo, wach auf! Es geht los! – Nun komm schon«, sporne ich ihn an und flitze wieder hinaus.

Erwartungsvoll richte ich meinen Blick in den sternenübersäten Nachthimmel. Das Grün wird intensiver, und ich frage mich, wo Theo bleibt.

Als er endlich neben mir erscheint, flammt das grüne Band auf und tanzt wie ein breiter Vorhang, der im Wind flattert, direkt über uns.

»Hast du schon einmal etwas so Schönes gesehen?«

»Es ist faszinierend, einfach magisch«, stimmt er mir zu.

Wortlos stehen wir nebeneinander im Schnee und genießen das Naturspektakel, das sich direkt vor unseren Augen abspielt. Leider ist das Schauspiel nach wenigen Minuten vorbei. »Schade«, seufze ich und kehre, von Theo gefolgt, ins Haus zurück.

»Es ist gut, dass es nicht länger gedauert hat. Sonst wärst du noch Gefahr gelaufen, zu erfrieren.« Mit beiden Händen umrahmt er mein eisiges Gesicht. »Hast du die Kälte gar nicht gespürt?«

»Nein, ich war viel zu aufgeregt.«

»Falsche Antwort.«

»Welche Antwort wäre dir lieber?«

»Zum Beispiel, dass dir in meiner Gegenwart stets warm ums Herz ist. Denn so ergeht es mir mit dir.«

In mir erhärtet sich der Verdacht, dass Theo mit mir flirtet und sich mehr von mir erhofft als nur einen fachlichen Rat. Ich hole tief Luft und nehme meinen ganzen Mut zusammen, um ihm zu sagen, dass wir uns keine romantischen Gefühle erlauben dürfen. Schließlich bin ich gebunden. »Bitte sag so etwas nicht zu mir. Du weißt, ich bin …«

»Müde? Das bin ich auch. Entscheide du, wo ich schlafen soll.«

Meine Idee, dass einer von uns im Pavillon übernachtet, kann ich aufgrund der nicht vorhandenen Heizung vergessen.

»Such dir was aus. Mir ist es egal.«

»Gut, dann bleibe ich auf dem Sofa.«

Er nimmt sich eine Decke vom Bett und legt sich hin. Ich warte darauf, dass er ›gute Nacht‹ sagt, doch der schönste Tag, den ich seit Langem erlebt habe, endet schweigend.