KAPITEL 8

Büttenpapier

Theo, der eigentlich Langschläfer ist, hat das Haus bereits in der Morgendämmerung verlassen. Vielleicht ist er im Bad, mutmaße ich und stehe auf, um den Wasserkessel aufzusetzen.

Als ich den Frühstückstisch für uns vorbereite, entdecke ich eine Notiz von ihm.

Bin unterwegs und besorge Benzin für das Snowmobil. Habe die Sauna für dich angestellt, damit du es warm hast. Frühstücke ohne mich. Ich besorge mir unterwegs einen Kaffee. Gruß, Theo.

Ich bin gerührt, denn so viel Umsicht und Fürsorge bin ich nicht gewohnt. Mit dem Vorsatz, mich später für die schöne Zeit zu bedanken, die er mir beschert hat, beschmiere ich eine Scheibe Knäckebrot mit Butter und Marmelade.

Ein schnödes Dankeschön wird kaum ausreichen, mahnt meine innere Stimme. Für eine angemessene Wiedergutmachung muss ich mir mehr einfallen lassen. Ich weiß auch schon, wie ich mich erkenntlich zeigen kann, und rufe meine Mutter an.

Als sie sich meldet, komme ich ohne Umschweife auf den Punkt. »Fällt dir spontan der Name des Herstellers aus der Eifel ein, von dem wir früher handgeschöpfte Büttenpapiere bezogen haben?«

»Meinst du Gruber?«

»Genau den. Hast du seine Telefonnummer zur Hand?«

»Wozu brauchst du die?«

»Ich frage für einen Freund, der händeringend Büttenpapier benötigt.«

»Aber von Gruber wird er nichts bekommen. Der hat sich schon vor Jahren zur Ruhe gesetzt.«

»Mist. Kennst du noch ein anderes Unternehmen?«

»Ad hoc fällt mir nur Brigitta ein.«

Ich fasse mir an den Kopf. Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen? Sie ist eine Institution, was Büttenpapier angeht. Die Frau, bei der wir viele Sommer Urlaub gemacht haben, arbeitet seit Jahrzehnten in der ältesten Handpappersbruk Schwedens. Ich bitte meine Mutter, mir Brigittas Kontaktdaten zu schicken.

»Und sonst, Mäuschen? Ist es schön am Nordpol?«

Ich schmunzle. »Ob es am Nordpol schön ist, kann ich dir nicht sagen, aber hier am Polarkreis gefällt es mir ausgesprochen gut. Ich werde dir ausführlich berichten, wenn ich wieder in Hamburg bin.« Wir legen auf.

Ich habe bereits gefrühstückt und meine Morgentoilette erledigt, aber Theo ist noch immer nicht zurück. Statt im Haus auf ihn zu warten, ziehe ich mich an und unternehme einen Spaziergang auf dem See.

Schon nach wenigen Minuten kreuzt ein Schneemobil meinen Weg. Dreihundert Meter von mir entfernt kommt das Gefährt zum Stehen. Ich beobachte, wie der Fahrer absteigt und einen riesigen Bohrer aus seinem Anhänger nimmt. Noch bevor ich den Eisfischer erreiche, fräst er ein Loch durch die dicke Eisschicht.

»Hej«, begrüße ich ihn und frage, auf welche Fische er es abgesehen habe.

»Hecht«, antwortet er einsilbig und bückt sich, um das Loch von Schnee und Eis zu befreien. Danach lotet er die Tiefe aus, um die Schnurlänge zu bestimmen. »Willst du das übernehmen?«, fragt er und reicht mir einen kleinen Fisch. Ich überlasse es ihm, den Köder am Haken zu befestigen. An einem Stöckchen lässt er die Schnur ins Loch gleiten. »Mal sehen, ob ich heute Glück habe«, grummelt er, befestigt den Angelstock mit Schnee und setzt sich auf seinen Motorschlitten.

»Wie? Du wartest nicht, bis einer anbeißt, sondern fährst weiter?«

»Ich will noch weitere Fallen auslegen«, erklärt er und düst davon. Eisfischen habe ich mir anders vorgestellt.

Ich kehre auch um und erkenne Rauch, der aus dem Schornstein der Kota steigt. Ich zähle eins und eins zusammen. Theo muss zurück sein und ein Feuer entzündet haben.

»Du warst aber lange fort«, rufe ich, als er sich mir auf Sichtweite nähert.

»Hast du mich vermisst?«

»Ich habe dich sehnlich erwartet, denn es gibt gute Neuigkeiten.«

Bevor ich ihm von meinem Gespräch mit meiner Mutter berichte, schaue ich mir an, was er für uns mitgebracht hat. Fisch, Kartoffeln und Alufolie. Ich muss nicht fragen, was er damit vorhat, sondern lobe ihn begeistert für die Idee, unser Abendessen heute im Grillhäuschen zuzubereiten.

»Wie kommen wir von hier am schnellsten nach Växjö?«, frage ich bei einer Tasse Tee.

»Das liegt in Småland, richtig?« Er nimmt sein Smartphone zu Hilfe. »Hui. Das ist eine stattliche Entfernung von rund 1650 Kilometern. Mit dem Auto braucht man mindestens achtzehn Stunden, wenn nicht sogar länger.«

Ich rücke näher an ihn heran. »Dort möchte ich mit dir hin.«

»Warum? Gefällt es dir hier nicht mehr?«

»Das ist es nicht. Ich möchte dich mit Brigitta bekannt machen. Sie ist die Lösung für unser Problem.«

Verwundert schaut er mich an. »Wir haben ein Problem?«

»Büttenpapier! Klingelt da was bei dir? Brigitta arbeitet in einer Manufaktur, die seit über dreihundert Jahren nach altem Prinzip handgeschöpfte Papiere herstellt. Für interessierte Besucher hält sie sogar Kurse ab. Ich bin mir absolut sicher, dass wir bei ihr an der richtigen Stelle sind.«

»Wir?«

So irritiert, wie er mich anschaut, scheine ich mit meinem Eifer übers Ziel hinausgeschossen zu sein. Peinlich berührt rudere ich zurück. »Natürlich kann ich dir auch nur ihre Adresse geben und du verhandelst allein mit ihr.«

»Nein, bitte nicht. Ich reise tausendmal lieber mit dir dorthin als ohne dich.«

»Wirklich? Dein konsternierter Gesichtsausdruck hat etwas anderes gesagt.«

»Ich war überrascht, dass du bereit bist, mich zu begleiten. Glaub mir, ich freue mich wie ein Schneekönig über dein Angebot und nehme es dankend an.«

Nachdem das geklärt ist, möchte ich von ihm wissen, was wir bis zum Essen unternehmen wollen. Er schmunzelt und betrachtet mich mit seinen stahlblauen Augen. »Ich hätte eine Idee, aber ich befürchte, du würdest meinen Vorschlag ablehnen.«

Um seinen Vorschlag abzulehnen, müsste ich zunächst wissen, worum es sich dabei handelt. »Spuck es aus! Was schwebt dir vor?«

Er grinst. »Was mir wirklich vorschwebt, behalte ich besser für mich. Stattdessen frage ich dich, wann du das letzte Mal einen Schneemann gebaut hast.«

»Das ist so lange her, dass ich mich kaum daran erinnern kann.« Woran ich mich allerdings genau erinnere, ist, dass ich Marco im vergangenen Winterurlaub angebettelt habe, einen mit mir zu bauen. Er hat mir einen Vogel gezeigt und erklärt, dass er für solch einen Kinderkram nicht zu haben sei.

»Dazu hättest du wirklich Lust, Theo?« Er nickt. »Dann lass uns keine Zeit verlieren.«

Begeistert über seine Idee, begebe ich mich mit ihm nach draußen. Wir einigen uns auf einen Platz zwischen der Kota und dem Haupthaus. Gerade bücke ich mich, um die erste Kugel zu formen, als ich auf dem Rücken von einem Schneeball getroffen werde.

»Hey«, empöre ich mich und richte mich wieder auf. Schon fliegt mir der nächste entgegen. »Na warte! Das hat ein Nachspiel«, drohe ich und räche mich mit einem gezielten Wurf auf den frechen Angreifer. Doch Theo weicht geschickt aus.

Während wir uns jagen und versuchen, uns gegenseitig zu erwischen, lache und kreische ich vor Freude. Auch Theo scheint Gefallen an diesem Spiel zu haben. Bei jedem seiner Treffer jubelt er und feiert sich wie ein Fußballstürmer, der gerade ein Tor geschossen hat.

Nach einer gefühlten Viertelstunde geht mir die Puste aus. Ich lasse mich rücklings in den Schnee fallen und gebe mich geschlagen.

»Du hast gewonnen. Ich kapituliere«, rufe ich, breite meine Arme und Beine aus und forme einen Schnee-Engel.

Theo beobachtet mich dabei und gesteht, selten so viel Spaß gehabt zu haben wie gerade mit mir.

»Geht mir auch so«, erwidere ich, strecke ihm meine Hand entgegen und bitte darum, mir vorsichtig aufzuhelfen, damit der Abdruck, den ich im Schnee hinterlassen habe, nicht zerstört wird.

Es hat geklappt. Stolz bewundere ich meinen ersten SchneeEngel.

Nach einer kurzen Verschnaufpause machen wir uns ans Werk. Ich staune über seine Kondition. Geschickt rollt er die erste Kugel über den Boden, bis sie die richtige Größe für den Unterbau erreicht hat. Meine ist deutlich kleiner ausgefallen und eignet sich deshalb für den Bauch des Mannes, dem wir noch einen Namen geben wollen. Während Theo sich um den Kopf kümmert, suche ich die Umgebung nach Verzierungen ab, die unserem Gemeinschaftsprojekt den letzten Schliff geben sollen. Ich finde Steine, die wir für Augen, Mund und Nase einsetzen können. Doch Theo ist noch nicht zufrieden.

»Das reicht noch nicht, Rieke. Der arme Kerl braucht auch noch Arme.«

»Was? Ein Schneemann hat doch keine Arme«, widerspreche ich.

»Jeder Mann braucht Arme. Wie sonst kann er seine Herzensdame packen und sie durch die Luft wirbeln?«

Ehe ich mich versehe, umgreift er meine Taille, hebt mich in die Höhe und dreht sich so schnell im Kreis, dass mir schwindelig wird.

»Bitte, Theo, hör auf damit. Ich bin doch viel zu schwer.«

Er zeigt Erbarmen und lässt mich wieder runter. Als meine Füße den Boden erreichen, stehen wir so eng beieinander, dass sich unsere eiskalten Nasen berühren. Es knistert gewaltig zwischen uns, und ich spüre, dass ein Kuss in der Luft liegt. Doch so weit lasse ich es nicht kommen und trete einen Schritt zurück. Um den Moment der Versuchung zu überspielen, stelle ich ihm eine Frage. »Was meinst du, wie wollen wir Mister Frosty nennen?«

»Warum nachdenken? Mister Frosty klingt doch gut.«

Mit einer Kopfbewegung deute ich zur Kota rüber, aus deren Schornstein kaum noch Rauch entweicht.

»Ich glaube, das Feuer ist ausgegangen.«

»Keine Sorge. Du wirst weder frieren, noch musst du den Fisch roh essen. Ich lege Holz nach und heize uns ein, damit wir es später gemütlich haben.«

Abends knistert und knackt es im Grillhäuschen. Die flackernden Flammen erhellen die Dunkelheit um uns herum. Der Geruch von verbranntem Holz liegt in der Luft, und ich kann die Hitze auf meiner Haut spüren.

Während wir lecker essen, sprühen Funken aus dem Feuer. Sie fliegen hoch in die Luft. Es scheint fast so, als würden kleine Feuerwerke explodieren, bevor sie auf den Boden fallen und erlöschen. In mir macht sich ein Gefühl von Frieden und Freiheit breit. Ich bin mir sicher, dass auch dieses Erlebnis für lange Zeit in meiner Erinnerung bleiben wird.

Erst als das Lagerfeuer heruntergebrannt ist und nur noch glühende Kohlen übrig geblieben sind, kehren wir ins Haupthaus zurück und legen uns schlafen.

Der heutige Tag endet nicht schweigend. Theo wünscht mir eine gute Nacht und angenehme Träume.

»Ich dir auch«, du guter, fürsorglicher und liebenswerter … Freund.