KAPITEL 9

Gastfreundschaft

Am nächsten Mittag verlassen wir bei knackigen neunzehn Minusgraden und leichtem Schneefall Europas letzte Wildnis. Bisher ist es mir nicht gelungen, Brigitta telefonisch zu erreichen. Auf meine Nachrichten, die ich ihr hinterlassen habe, hat sie noch nicht geantwortet. Trotzdem geben wir den Mietwagen am Flughafen in Kiruna zurück und marschieren über das vereiste Rollfeld zum Flieger, der uns nach Stockholm bringen wird.

Ich gebe mich zuversichtlich. »Sie wird sich schon melden«, rede ich mir und Theo beim Start ein.

Nachdem sie nach der Landung noch immer nicht geantwortet hat, verlässt mich mein Optimismus. »Es ist zwanzig Jahre her, dass ich sie das letzte Mal gesehen habe. Vielleicht wohnt sie gar nicht mehr dort. Oder es ist noch schlimmer, und sie ist wie mein Vater bereits verstorben. Meines Wissens waren sie im gleichen Alter.«

Theo wirkt auf mich ein. »Hör auf, schwarzzusehen. Es ist bestimmt alles in Ordnung. Andernfalls hättest du nicht auf ihren Anrufbeantworter sprechen können.«

Er sollte recht behalten, denn auf dem Weg zum Parkhaus, in dem sein Wagen steht, ruft sie an.

»Was für eine Frage, Rieke? Natürlich erinnere ich mich an dich. Ihr seid mir herzlich willkommen. Ich werde sofort alles für euch herrichten.«

Damit kann sie sich getrost Zeit lassen, denn wir werden frühestens in sechs Stunden bei ihr eintreffen.

Heilfroh, dass meine schlimmsten Befürchtungen nicht eingetroffen sind und Brigitta nach wie vor unter den Lebenden weilt, lege ich auf. Nun kann ich mir sicher sein, dass unsere Mission von Erfolg gekrönt wird.

Bevor Theo und ich ins Auto steigen, legen wir unsere dicken Jacken ab. Dennoch sind wir angesichts der vorherrschenden Plusgrade viel zu warm angezogen.

Als er auf der Autobahn den ersten Rastplatz anfährt, um zu tanken, nutze ich die Gelegenheit und suche die Waschräume auf. In Windeseile entledige ich mich der Thermounterwäsche und stopfe sie in meine Handtasche. Nur mit Jeans, Shirt und einem Pulli fühle ich mich gleich viel wohler.

Ich rate Theo, es mir gleichzutun, doch er lehnt ab.

»Dein Handy hat geklingelt«.

Ich gucke aufs Display und erkenne, dass Marco versucht hat, mich zu erreichen. Nachdem er mich dreist weggedrückt hat, kommt es für mich nicht infrage, mich bei ihm zurückzumelden.

»Das war nicht wichtig«, erkläre ich und lege mein Telefon ins Handschuhfach.

Besser, ich hätte es ausgestellt, denn wenig später ruft er erneut an. Ich lasse es bimmeln.

»Warum gehst du nicht ran?«

»Ich will jetzt nicht mit ihm reden.«

»Wenn ich ungestört sein will, schalte ich das Gerät stumm.«

»Gute Idee.«

Wir sind bereits eine Weile unterwegs, als mir auffällt, dass es noch immer hell ist. »Hier geht die Sonne deutlich später unter als in Lappland.«

»Das stimmt. Dennoch sind mir die Tage im Winter viel zu kurz. Auf Dauer komme ich mit der Dunkelheit nicht zurecht. Es wird Zeit für mich, die Zelte wieder abzubrechen.«

»Und dann? Wo treibt es dich hin?«

Er zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. In den letzten Jahren habe ich viele Orte besucht, aber nirgendwo hat es mir so gut gefallen, dass ich bleiben wollte.«

Er zählt die Stationen auf, die er bisher bereist hat. In ›A‹ wie Andorra bis ›Z‹ wie Zypern hat er versucht, Wurzeln zu schlagen.

»Du bist ein Weltenbummler.«

»Bitte sag nicht, dass du mich beneidest. Das kann ich nicht mehr hören.«

Das erwidere ich gewiss nicht, denn ich sehe in Theo keinen passionierten Abenteurer, sondern einen Mann, der verzweifelt auf der Suche ist. Ihn zu fragen, was ihm zu seinem Glück fehlt, traue ich mich nicht. Das wäre doch zu persönlich. Stattdessen erkläre ich, dass ich mich in Hamburg rundum wohlfühle und ich mir ein Leben ohne meine Mutter und meine Freunde nicht vorstellen kann.

»Glückwunsch. Ich habe keinerlei Bindungen. Leute, die mich umgeben, wollen sich nur in meinem Ruhm sonnen. Ich bin ihnen als Mensch völlig egal.«

»Mir bist du nicht egal.«

Er schlägt einen höhnischen Ton an. »Ja, ganz bestimmt. Deshalb bedurfte es dem Zufall, dass wir uns nach all den Jahren wiedergetroffen haben.«

»Ich habe oft an dich gedacht und mich gefragt, wie es dir wohl geht.«

»Aber dabei hast du es belassen.«

Sein Vorwurf ärgert mich. »Was wirfst du mir vor? Ich bin doch hier! Ist das nicht Beweis genug?«

Sein Gesicht entspannt sich und formt sich zu einem Lächeln. Er greift nach meiner Hand und drückt sie ganz fest. »Es tut mir leid. Ich hätte dir keine Vorhaltungen machen dürfen. Letztendlich war es auch meine Schuld, dass wir uns aus den Augen verloren haben.«

Ich hole tief Luft. »Lass die Vergangenheit ruhen.«

Ein Blick auf das Navi zeigt, dass noch eine weite Strecke vor uns liegt. Wir werden deutlich später als gedacht bei Brigitta ankommen. Ich halte es für ratsam, sie darüber zu informieren, und rufe bei ihr an.

»Wir haben es erst bis Jönköping geschafft. Bitte warte nicht auf uns und lege den Schlüssel wie früher einfach unter die Fußmatte.«

»Kein Problem. Den kleinen Imbiss, den ich für euch vorbereitet habe, deponiere ich im Kühlschrank. Fahrt vorsichtig! Wir sehen uns morgen.«

Zum wiederholten Mal bemerke ich, dass Theo gähnt. Ich biete ihm an, den Platz mit ihm zu tauschen.

»Du willst fahren? Was ist mit deinem Knie?«

Bei all den Unternehmungen der letzten Tage habe ich nicht ein Mal an mein fragiles Knie gedacht. Hätte ich es getan, wäre ich niemals zu Svenja in den Hundeschlitten gestiegen, geschweige denn mit dem Schneemobil über den See gerast. Ich staune über mich selbst. Wie kann es sein, dass ich, die stets auf Vorsicht bedacht ist, binnen weniger Tage zu einer waghalsigen Person mutiert bin?

»Dein Wagen verfügt über ein Automatikgetriebe. Ich schaffe das. Oder vertraust du mir nicht?«

Theo fährt rechts ran. Wie sehr er mir vertraut, beweist er, indem er sofort neben mir einschläft.

Neunzig Minuten später sollen wir angeblich unser Ziel erreicht haben. Ich bin mir sicher, dass sich das Navi geirrt hat. Hier sieht alles ganz anders aus, als ich es in Erinnerung habe. Früher war Brigittas Haus das einzige in der Straße. Jetzt gibt es mehr Nachbarn, als ich Finger an den Händen habe.

Theo ist aufgewacht und reibt sich die Augen. »Sind wir angekommen?«

»Ich glaube, wir sind hier falsch. Bleib noch sitzen, ich werfe erst einen Blick auf das Türschild.«

Nach kurzer Überprüfung wird klar, dass wir richtig sind. Ich nehme den deponierten Schlüssel an mich und winke Theo heran. Er steigt aus und deutet auf den Kofferraum.

»Lass das Gepäck im Wagen. Darum kümmern wir uns später«, rufe ich ihm zu, als sich die Außenbeleuchtung anstellt. Gleich darauf öffnet Brigitta die Haustür und tritt heraus. Im Schein der Lampe erkenne ich eine ältere Frau, die ihre langen grauen Haare offen trägt. Mit ausgebreiteten Armen kommt sie auf mich zu.

»Rieke, wie schön. Lass dich ansehen. Ganz ehrlich, ich hätte dich nicht wiedererkannt.«

So wäre es mir auch ergangen, wenn wir uns auf der Straße begegnet wären. In meiner Vorstellung ist sie nicht gealtert und trägt ihr strohblondes Haar zu einem Zopf gebunden. »Hier hat sich auch einiges verändert«, antworte ich und lasse mich von ihr umarmen.

Als Theo sich nähert, lässt sie von mir ab und begrüßt ihn. »Herzlich willkommen. Fühlt euch ganz wie zu Hause. Wenn ihr etwas braucht, dann zögert nicht und meldet euch.«

Wir nicken wie die Wackeldackel und stiefeln zur Stuga, dem kleinen Ferienhaus in ihrem Garten, das Brigitta an Feriengäste vermietet.

Ich schließe auf und knipse das Licht an.

»Immerhin ist es hier noch so wie früher«, stelle ich zufrieden fest, als ich das Mobiliar in Augenschein nehme. Auf den Stühlen und Sesseln habe ich schon als Kind gesessen. Ich öffne alle Türen. »Das war früher mein Zimmer.« Dass das Bett nicht bezogen ist, fällt mir sofort auf. Brigitta hat nur das Elternschlafzimmer für uns hergerichtet. Vermutlich ist sie davon ausgegangen, dass wir ein Paar sind.

»Meine Güte, ist das nett von ihr«, höre ich Theo in der Küche jubeln. Er stellt eine Platte mit Schnittchen und zwei Flaschen Light Bier auf den Tisch und greift beherzt zu. Ich halte mich zurück, denn ich mag keine Tiefseekrabben.

»Hast du gar keinen Hunger?«

Und ob ich den habe. Für ein Stück Käse oder Wurst würde ich eine meiner Nieren spenden. Aber bei rohen Garnelen, die in fetter Mayonnaise schwimmen, schließt sich mein Magen schon beim Anblick.

»Ich lasse mal eine Mahlzeit ausfallen«, erkläre ich und durchforste die Schublade nach einem Flaschenöffner.

»Skol«, salutiere ich und proste ihm zu.