KAPITEL 23

Entrümpeln

Am nächsten Morgen verhält es sich genau so, wie Arne vorausgesagt hat. Brigitta hat keinerlei Erinnerung an den gestrigen Tag. Verwundert fragt sie, ob ich wisse, wer den Eimer mit Fischen auf ihre Veranda gestellt hat. Auch hat sie keine Erklärung für den Bluterguss an ihrem Arm.

Um sie nicht zu brüskieren, verliere ich kein Wort über die Geschehnisse und widme mich der Fertigstellung der Plastik.

Brigitta schaut mir über die Schulter. »Hast du wieder Blut geleckt?«

»Lustig, dass du mich das jetzt fragst. Gerade habe ich mir vorgenommen, zu Hause meine kreative Arbeit wiederaufzunehmen.«

Sie streicht mir behutsam über den Kopf. »Schade, dass dein Vater das nicht mehr erlebt. Er hat es sehr bedauert, dass du nach dem Studium nicht weitergemacht hast.«

Hält sie mir gerade vor, dass ich für meinen Paps genau so eine Enttäuschung war wie Madita für sie?

»Ich musste Geld verdienen«, rechtfertige ich mich. »Von meiner Kunst hätte ich nicht leben können.«

»Theo kann von seiner Arbeit leben. Und das nicht schlecht, wie im Internet nachzulesen ist.«

»Er hatte Glück, er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort und hat Kontakte zu den richtigen Leuten geknüpft.«

»Man kann auch sagen, er habe auf seine Fähigkeiten vertraut, während du an dir gezweifelt hast.«

Brigitta plappert genau das nach, was Theo mir auch vorgeworfen hat. Ich kann nicht abstreiten, dass darin ein Funken Wahrheit steckt. Vielleicht wäre ich am Ball geblieben, wenn Marco mich bestärkt und unterstützt hätte.

Ist es fair von mir, ihm die alleinige Schuld an meinem Scheitern zu geben? Wenn mir die Kunst wirklich wichtig gewesen wäre, hätte ich nicht so schnell aufgegeben. Egal, das ist Schnee von gestern. Viel wichtiger ist die Gegenwart, in der ich wieder darauf brenne, mich künstlerisch auszuleben.

Draußen hupt ein Wagen.

»Das ist die Post«, erklärt Brigitta, legt sich eine Jacke über und stiefelt hinaus zur Gartenpforte.

Ich beobachte durch das Fenster, wie sie dem Boten ein Paket abnimmt und es mit betrübter Miene ins Haus schleppt.

»Wow, dieses Mal hat sie keine Zeit verloren und es noch am gleichen Tag zurückgeschickt.«

»Wohin damit?«, frage ich und nehme es ihr ab.

»Stelle es oben in die Kammer zu den anderen.«

In der Abseite stapeln sich mindestens dreißig Kartons. Der Anblick löst pure Wut in mir aus. Rasch begebe ich mich in die Küche, um zu überprüfen, ob Brigitta wieder zu ihren Pillen greift. Sie steht an der Spüle und schabt Möhren.

»Die Kammer ist rappelvoll. Wirst du künftig darauf verzichten, Geschenke zu verschicken, oder hast du vor, anzubauen?«

Sie blickt nur kurz auf und widmet sich wieder dem Gemüse.

»Mal davon abgesehen, dass ich nicht nachvollziehen kann, weshalb du dich immer wieder aufs Neue quälst, begreife ich nicht, warum du die Pakete aufbewahrst. Sie will sie nicht, aber vielleicht könntest du anderen Menschen eine Freude damit machen.«

»Ich soll das, was ich mit Liebe für Madita und meinen Enkel gekauft und gehandarbeitet habe, an fremde Leute verschenken? Nein!«

»Wir können die Sachen auch auf einem Internetportal zum Kauf anbieten.«

»Ich will nicht, dass mir in der Stadt jemand begegnet, der einen Pullover trägt, den ich gestrickt habe.«

»Wäre es dir lieber, dass die Sachen von den Motten gefressen werden? Gib dir einen Ruck. Wir gehen jetzt hinauf und packen die Kartons aus. Dann überlegen wir gemeinsam, was wir mit den Sachen machen. Später verbrennen wir die Pappe im Garten. Am Feuer trinken wir ein Glas Glögg und feiern deinen Entschluss, künftig kein Geld mehr sinnlos zum Fenster hinauszuwerfen.«

Mit großen Augen schaut sie mich an. »Du hältst meine Bemühungen, auf diese Weise wieder mit ihr in Kontakt zu treten, auch für sinnlos?«

»Es hat all die Jahre nicht funktioniert. Warum sollte sich das in Zukunft ändern? Du hast ihr oft genug die Hand gereicht. Sag dir endlich: ›Wer nicht will, der hat schon.‹«

Ich rechne mit ihrem sofortigen Widerspruch, doch zu meiner Überraschung stimmt sie zu. »Ja, du hast recht. Lass uns das Zeug verscherbeln.«

Brigitta reicht mir ein Cuttermesser. »Geh doch schon mal vor. Ich komme nach, sobald ich hier fertig bin.«

Ich nehme mir zuerst den Karton vor, der heute zurückgekommen ist. Bevor ich ihn öffne, fotografiere ich den Paketschein, auf den auch Maditas Absenderadresse gedruckt ist. Nun kenne ich ihre Anschrift. Ich überlege, ob ich ihr schreiben soll. Vielleicht bringt es etwas, wenn ihr eine ›Außenstehende‹ mitteilt, wie sehr sie ihre Mutter mit ihrem Verhalten verletzt.

Angesichts der Mühe, die Brigitta sich mit dem Verpacken gegeben hat, ist es mir nicht möglich, das Geschenkpapier vom ersten Päckchen einfach abzureißen. Behutsam löse ich das Schleifenband und entferne die Klebestreifen. Zum Vorschein kommt ein Kinderbuch, das für ihren Enkel bestimmt war. Zwischen den Seiten steckt eine Karte.

Gern würde ich dir daraus vorlesen. Deine Oma

Jedem Präsent liegt ein Gruß bei. Ich frage mich, wie viele Tränen Brigitta beim Stricken und Nähen vergossen hat. Für eine bessere Übersicht teile ich die Sachen in Kleidung, Spielzeug und Schmuck auf und lege sie aufs Bett.

Beim nächsten Karton fällt mir ein besonderer Briefumschlag in die Hände. Es handelt sich um ein Kuvert, von dem ich weiß, dass es exklusiv für die Papeterie meiner Eltern angefertigt wurde. Die Vorderseite trägt die Handschrift meiner Mutter. Ohne mir etwas dabei zu denken, lege ich den Umschlag zur Seite, als Brigitta sich blicken lässt.

Sie staunt, als sie erkennt, was im Laufe der Jahre alles zusammengekommen ist. Gedankenversunken sitzt sie auf der Bettkante und gräbt ihr Gesicht in einen Pullover, den sie, der Größe nach zu urteilen, für Madita gestrickt hat.

»Der besteht zu hundert Prozent aus Kaschmir und ist federleicht. Den möchte ich nicht verkaufen. Allein das Material hat ein kleines Vermögen gekostet.« Sie schaut mich an. »Hättest du Interesse daran? Dir würde ich das gute Stück gern schenken.«

Ich nehme ihr den edlen Pulli ab und halte ihn mir vor dem Spiegel an. Das Teil ist ein Traum. Ich liebe die Farbe Nude, und das Patentmuster ist zeitlos und kommt nie aus der Mode.

»Wirklich?« Sie nickt. »Mit großer Freude werde ich ihn tragen.« Ich bedanke mich mit einer festen Umarmung.

Danach schnappe ich mir Papier und Pappe, bringe alles in den Garten und werfe es in die Feuertonne.

Nach meiner Rückkehr ist Brigitta dabei, Fotos mit ihrem Handy aufzunehmen. Ich richte ihr derweil einen Account auf dem Portal ein.

Es vergehen Stunden, bis wir den letzten Artikel eingestellt haben. Brigitta bezweifelt, dass sich der ganze Aufwand gelohnt habe. Ich halte dagegen und zeige ihr, dass bereits einige Gebote eingegangen sind.

Angesichts der fortgeschrittenen Zeit verzichten wir darauf, im Garten ein Feuer zu entzünden. Stattdessen setzen wir uns bei einem Glas Wein in die Küche. Während ich der Skulptur den finalen Anstrich mit Klarlack verpasse, bietet sie an, mich morgen zum Bahnhof zu fahren.