Hunderttageplan
Nichts ahnend betrete ich am Montagmorgen das Firmengebäude. Karina vom Empfang nickt nur kurz, als ich ihr »Guten Morgen« wünsche. Nach wochenlanger Abwesenheit hätte ich von meiner Kollegin eine herzlichere Begrüßung erwartet.
Ich lasse mir nichts anmerken und begebe mich an meinen Arbeitsplatz. Doch am Schreibtisch im Vorzimmer des Chefbüros sitzt bereits jemand. Die junge Frau reicht mir förmlich die Hand.
»Sie müssen Frau Kohler sein.«
»Sag Rieke. Wir duzen uns hier«, erwidere ich und lege meine Handtasche auf die Tischplatte. »Du bist bestimmt meine Vertretung.«
Sie setzt ein falsches Lächeln auf und macht keine Anstalten, den Stuhl für mich freizugeben.
»Wärst du bitte so freundlich und lässt mich an meinen Platz?«
»Vielleicht sprichst du erst mit Herrn Kuhn«, erwidert sie, ohne mich anzusehen.
Was geht denn hier ab?, frage ich mich und stelle meinem Boss Sekunden später genau diese Frage.
Er bittet mich um Verständnis. »Ich hatte keine andere Wahl, als den Posten neu zu besetzen. Deine Nachfolgerin hat sich erstaunlich schnell in den Aufgabenbereich eingearbeitet. Außerdem kostet sie mich deutlich weniger als du.«
»Sag mal, kündigst du mir gerade?«
»Natürlich nicht. Es wird sich im Unternehmen schon etwas Passendes für dich finden. Bis es so weit ist, kannst du Karina am Empfang unterstützen.«
»Ist heute der erste April?«
»Was erwartest du von mir? Du bist fast drei Monate ausgefallen.«
»Ich habe dir angeboten, früher zurückzukommen. Du hast darauf bestanden, dass ich meinen Urlaub nehme.«
»Es ist, wie es ist. Finde dich damit ab oder …«
Dieser Feigling hat noch nicht einmal den Mut, seinen Satz auszusprechen. Aber damit lasse ich ihn nicht durchkommen.
»Oder was?«
»Es steht dir frei, selber zu kündigen. Ich wäre bereit, auf die Einhaltung der Frist zu verzichten.«
Für wie dumm hält er mich? Ich hatte eine Knie-, aber keine Kopfverletzung. »Du willst mich loswerden? Kein Problem. Zahle mir eine angemessene Abfindung, und ich stimme einem Aufhebungsvertrag zu.«
Ich räume ihm Bedenkzeit ein. »Bis du dich entschieden hast, nehme ich meinen gewohnten Posten ein.«
Hocherhobenen Hauptes verlasse ich sein Büro. Mit einer List vertreibe ich die Neue von meinem Arbeitsplatz.
»Der Boss hat nach dir gefragt.«
Flink huscht sie ins Chefbüro. Ich setze mich auf meinen Drehstuhl und nehme mir fest vor, mich nicht zum Nulltarif ausbooten zu lassen.
Eine Stunde später unterzeichne ich den Aufhebungsvertrag. Neben einer stattlichen Abfindung, die ich ausgehandelt habe, erhalte ich meine schriftliche Freistellung.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du mich derartig teuer zu stehen kommst«, beklagt sich mein ehemaliger Arbeitgeber.
Grinsend zwinkere ich ihm zu. »Ich habe schließlich vom Besten gelernt.«
Versöhnlich reichen wir uns zum Abschied die Hand.
Dieser denkwürdige Montag, an dem ich meine doppelte Freiheit erlange, schreit danach, gefeiert zu werden. Für meine berufliche Eigenständigkeit belohne ich mich mit einem ausgiebigen Frühstück im Elbcafé. Wenn ich am Nachmittag im Besitz von Marcos Schlüssel bin, werde ich meine private Ungebundenheit mit einer Flasche Champagner zelebrieren. Dafür kehre ich auf dem Nachhauseweg in meine Lieblingsvinothek ein. Doch beim Blick auf das Preisschild packt mich der Geiz. Ich entscheide mich für den günstigeren Crémant von der Loire.
Gut gelaunt komme ich zu Hause an. Gerade öffne ich den Briefkasten, um nach Post zu schauen, als meine Nachbarin aus dem ersten Stock die Stufen hinuntersteigt. Ich sehe ihr an, dass sie mich liebend gern fragen würde, was der gestrige Krach im Treppenhaus zu bedeuten hatte. Da sie sich offensichtlich nicht traut, komme ich auf das Thema zu sprechen.
»Es tut mir leid, dass es gestern Abend laut geworden ist. Gewöhnlich tragen wir unsere Differenzen hinter verschlossenen Türen aus. Ich kann Ihnen versichern, dass es nicht wieder vorkommen wird.«
»Ach, Frau Kohler. Machen Sie sich bloß keine Gedanken. So ein Streit hat doch eine reinigende Wirkung. Ich vergleiche es gern mit einem Gewitter. Erst blitzt und donnert es, aber danach ist die Luft wieder rein, und die Sonne scheint.«
Nachdem wir uns gegenseitig einen schönen Tag gewünscht haben, trennen sich unsere Wege. Sie verlässt das Haus, ich gehe hinauf.
Ungeduldig schließe ich die Wohnungstür auf. Ich kann es kaum erwarten, nachzusehen, ob Marco schon mit dem Packen begonnen hat. Ein Blick in den Kleiderschrank verrät, dass er damit noch gar nicht angefangen hat.
Obwohl es mir in den Fingern juckt, ihm die Arbeit abzunehmen, lasse ich es. Stattdessen rufe ich im Zahnlabor an und stelle ihn zur Rede.
»Habe ich mich gestern nicht klar ausgedrückt? Ich sagte ›spätestens 17 Uhr‹. Du hast noch nicht einmal damit begonnen, dein Zeug zusammenzuräumen.«
»Woher willst du das wissen? Bist du nicht in der Firma?«
»Antworte mir nicht mit einer Gegenfrage. Sag, wann du herkommen wirst, damit ich vorzeitig verschwinden kann.«
»Beabsichtigst du, ständig vor mir davonzulaufen?«
Er hat es schon wieder getan und mich damit zur Weißglut gebracht. »Alles, was du bis 17 Uhr nicht abgeholt hast, landet auf der Straße. Ab 17.01 Uhr hast du keinen Zutritt mehr zur Wohnung. War das deutlich genug?«
Wutschnaubend lege ich auf.
Wenn ich eine Sache von meiner Mutter gelernt habe, dann ist es das Gebot, niemals leere Drohungen auszusprechen. Deshalb sollte ich mich schleunigst auf den Weg machen und ein neues Türschloss besorgen, damit ich meiner Ankündigung Taten folgen lassen kann.
Als ich eine Stunde später vom Heimwerkermarkt zurückkehre, stelle ich überrascht fest, dass Marco zwischenzeitlich eingetroffen ist.
»Warum nicht gleich so«, murmle ich leise vor mich hin. Da ich keinen einzigen Umzugskarton entdecken kann, will ich wissen, wie er gedenkt, seine Sachen zu transportieren.
»Ich ziehe nicht aus«, erwidert er in einer Tonlage, die an Arroganz grenzt. »Das ist unsere gemeinsame Wohnung. Du kannst mich nicht einfach rauswerfen.«
»Willst du, dass ich gehe?«
»Nein, ich möchte, dass du mir zuhörst. Du sollst wissen, dass ich das, was ich getan habe, zutiefst bereue. Aus heutiger Sicht begreife ich selber nicht, was mich geritten hat. Vielleicht war das ›verflixte siebte Jahr‹ daran schuld.«
»Das ist deine Erklärung? Du bemühst diesen Mythos, um deinen Betrug zu rechtfertigen? Das ist wirklich armselig.«
»Wenn es in einer Beziehung kriselt, ist es nie die Schuld eines Einzelnen.«
»Das ist das erste gescheite Wort aus deinem Mund.«
»Rieke, ich liebe dich immer noch, und ich will dich nicht verlieren. Das ist mir in Tirol bewusst geworden. Nur deshalb bin ich früher abgereist.«
»Du beleidigst meine Intelligenz. Du bist früher zurückgekommen, weil dein Zahnarzt damit gedroht hat, eure Zusammenarbeit zu beenden, solltest du nicht umgehend auf der Matte stehen.«
Er widerspricht sofort. »Das ist absoluter Unfug. Es ist so, wie ich gesagt habe. Mich hat die Reue gepackt, und ich habe dich unendlich vermisst.«
Sollte Marco nur einen Funken Ahnung von Körpersprache besitzen, wird er erkennen, dass ich ihm kein Wort glaube.
»Lass uns Tacheles reden. Ich weiß, dass dir das Wasser bis Oberkante Unterlippe steht und du dir die Miete allein nicht leisten kannst.«
»Wie kommst du auf die Idee? Die Auftragslage im Labor ist prächtig. Ich kann mich vor Arbeit kaum retten.«
»Sicher. Deshalb musstest du den Wagen unverzüglich zurückgeben.«
»Der Leasingvertrag war ausgelaufen. Ich wollte ihn nicht verlängern und habe den Wagen fristgerecht abgegeben. Du hast die Kutsche nie gemocht. Ich dachte, wir suchen das nächste Auto gemeinsam aus.«
Ich gebe klein bei. »Also gut, wenn du bleiben willst, werde ich ausziehen. Zwar kann ich mir etwas Schöneres vorstellen, als in meinem Alter vorübergehend bei meiner Mutter unterzukriechen. Aber wenn du dich stur stellst, habe ich keine andere Wahl.«
»Doch, die hast du. Gib mir die Möglichkeit, dir zu beweisen, dass es sich lohnt, an unserer Beziehung festzuhalten. Jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient.«
»Ist dir mal in den Sinn gekommen, dass ich an dieser Beziehung gar nicht festhalten will? Glaubst du, dass ich die letzten Monate glücklich an deiner Seite war? Du hast mir ein Leben aufgezwungen, das ich nie wollte.«
»Und trotzdem hast du um mich geweint, als du dachtest, ich sei verunglückt. Streite es nicht ab. Paul hat mir erzählt, wie sehr du gelitten hast. Das beweist doch, dass du noch Gefühle für mich hast.«
Er greift nach meinen Händen. Ich ziehe sie sofort zurück.
»Wage es nicht, mich zu berühren!«
»Okay, schon gut. Ich fasse dich nicht an. Ich habe nur eine Bitte an dich. Gib mir einhundert Tage. Danach ziehen wir beide Bilanz. Sollte es mir innerhalb dieser Zeit nicht gelingen, dich von meiner Aufrichtigkeit zu überzeugen, werde ich gehen.«
»Du erwartest, dass ich mir hundert Tage die Wohnung mit dir teile?«
Er verspricht hoch und heilig, mir nicht nahezukommen. »Wenn du willst, schlafe ich auf dem Sofa.«
»Das wäre die Grundvoraussetzung, um deinem Vorschlag überhaupt zuzustimmen. – Ich werde weder für dich einkaufen noch für dich kochen. Um deine Wäsche kümmerst du dich selber. Du wirst dich an der Hausarbeit beteiligen.«
»Einverstanden. Aber an einem Abend pro Woche gestattest du mir, dich auszuführen. Du bestimmst Zeit und Ort.«
Ich habe meine Zweifel, ob das funktionieren wird. Andererseits bin ich bereit, es zu versuchen. Marco weiß, dass der Deal beim ersten Regelverstoß platzt.
Mein Freedom Monday endet anders als erwartet. Dennoch köpfe ich die Flasche Crémant.
Sichtlich erleichtert über meine Zusage, holt Marco zwei Gläser aus dem Schrank.
»Was wird das?«, frage ich ihn. »Getrennt von Tisch und Bett bedeutet, dass du von meinem Sekt keinen Tropfen abbekommst.«
»Im Ernst? Ich besorge morgen eine neue Flasche.«
Na, das fängt ja gut an, denke ich und schenke uns ein.