Das Video
Meine Jungs erhalten die finale Schicht Klarlack. Obwohl ich einen Mund-Nasen-Schutz trage, steigen mir die Dämpfe zu Kopf. Ich öffne die Ladentür, um frische Luft hereinzulassen. Es dauert nur wenige Minuten, bis der erste neugierige Passant hereinschaut und fragt, ob das Geschäft wiedereröffnet wird.
»Wow«, staunt ein älterer Herr und tritt ungefragt näher. »Haben Sie diese lustigen Gesellen selber gemacht?«
Ich nicke und bitte ihn, die Figuren nicht zu berühren. »Die Versiegelung ist noch nicht getrocknet.«
»Verstehe. Sie machen sie wetterfest, damit sie auch draußen stehen können und dem Regen strotzen.«
Das ist der Plan. Ich hoffe inständig, dass er aufgeht, andernfalls war die ganze Arbeit umsonst.
»Was kostet so eine Figur?«, will er wissen.
Ich bin dankbar, dass just in diesem Moment mein Handy klingelt und ich ihm nicht antworten muss. Noch habe ich keine Ahnung, welchen Preis ich verlangen werde.
»Entschuldigen Sie mich. Aber da muss ich rangehen.«
Ich warte, bis er den Laden verlassen hat. Erst dann schaue ich auf das Display. Der Anrufer ist Lovis. Fast täglich schickt er mir Bilder von ›meiner Nichte‹, auf die ich mit lächelnden Emojis antworte. Ich will nicht mit ihm sprechen. Aber weil ich ihn nicht wegdrücken möchte, stelle ich mein Handy lautlos.
Um in Ruhe weiterarbeiten zu können, schließe ich die Tür. Keine Minute später erscheint der nächste Störenfried. Mutter betritt den Raum durch die Verbindungstür und ruft mich zum Essen.
»Puh, stinkt es hier.«
Ich widerspreche nicht. Der Geruch ist wirklich eine Zumutung. »Das Beste wird sein, ich fahre sofort zum Baumarkt und besorge einen anderen Lack.«
»Und was ist mit dem Mittagessen?«
»Dafür habe ich jetzt keine Zeit. Ich wärme es mir später auf.«
Beleidigt zieht sie wieder ab. Dass Mutter nicht erkennt, wie sehr ich unter Zeitdruck stehe, ärgert mich. Letztendlich ist sie dafür verantwortlich, dass ich auf der Home & Garden mit sechs Exponaten teilnehmen werde. Eigentlich wollte ich der Blumenhändlerin absagen. Auch sie vertritt die Meinung, dass ich keine Figur verkaufen werde. Allerdings soll es ein großes Presseaufgebot geben, das beste Werbung verspricht.
Nach zwei Stationen mit dem Bus erreiche ich den Heimwerkermarkt. Der Fachberater aus der Farbenabteilung rät mir dringend davon ab, die Marke zu wechseln. »Für den Außenbereich ist dieser Lack der beste.«
»Das nützt mir wenig, wenn ich bei der Anwendung bewusstlos werde.« Ich schlage seine Empfehlung in den Wind und greife zu einem Produkt mit Öko- und Umweltsiegel. Jetzt nur noch zwei Rollen Luftpolsterfolie besorgen und dann ab zur Kasse, sporne ich mich an.
Mir klappt das Visier herunter, als ich die ellenlange Schlange sehe.
»Hallo!«, ruft eine Frau ungeduldig hinter mir. »Ist es vielleicht möglich, eine zweite Kasse zu besetzen? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«
Die Stimme kenne ich doch. Ich drehe mich auf der Stelle um. Tatsächlich handelt es sich bei der Meckerziege um Alina. Sie hat keinen Einkaufswagen dabei und hält nur einige Tüten Kräutersamen in der Hand. Schnell ziehe ich den Kopf ein, um nicht von ihr erkannt zu werden.
»Entschuldigung, würden Sie mich vorlassen? – Ich habe es wirklich eilig. – Danke. – Darf ich vor Ihnen zahlen? Ich habe nur wenige Sachen eingekauft. – Danke.«
Es ist ihr gelungen, sich nach und nach vorzudrängeln. Jetzt spricht sie mich an. »Verzeihung, darf ich … Rieke? Was machst du denn hier?« Sie inspiziert meine Einkäufe. »Klarlack und Verpackungsfolie? Was hast du damit vor?«
»Das brauche ich für meine Arbeit.«
»Es hat sich schon herumgesprochen, dass du wieder kreativ bist.«
Während ich meine Einkäufe aufs Laufband lege, reicht sie der Kassiererin die Saattüten.
»Wir sollten uns mal unterhalten. Heute bin ich allerdings in Eile. Ich muss schnellstens nach Hause. Die Kinder wollen mit ihrem Vater ein Gemüsebeet anlegen. Hast du vielleicht morgen Zeit?«
»Das ist ganz schlecht. Ich bin total im Stress. Bis zur Messe bleiben mir nur noch wenige Tage, und ich habe noch unendlich viel zu tun.«
»Welche Messe? Sag bloß, du nimmst an der Home & Garden-Ausstellung teil?«
Ich habe das Gefühl, dass sie mich belächelt.
»Ich mache nur mit, weil ich einer Freundin einen Gefallen tun will«, behaupte ich und zahle. Vor ihr verlasse ich im Laufschritt den Baumarkt.
»Die Kinder wollen mit ihrem Vater ein Gemüsebeet anlegen«, äffe ich sie nach. Dann wird Theo wohl in Hamburg sein. Was geht es mich an? Wieso denke ich überhaupt noch an ihn?
Als ich zu Hause ankomme, ist Mutter in großer Aufregung. In ihrer Küche riecht es schlimmer als bei mir im Laden.
»Was ist passiert? Ist dir etwas angebrannt?« Der Topf im Spülbecken lässt diesen Rückschluss zu.
»Ich habe telefoniert und dabei völlig vergessen, dass noch die Kartoffeln auf dem Herd stehen.«
»Das ist doch kein Weltuntergang und gewiss kein Grund, um zu weinen.«
»Ich heule doch nicht wegen des Missgeschickes. Es sind Freudentränen. Sieh nur, was Brigitta mir geschickt hat.«
Mutter reicht mir ihr Smartphone, auf dem ein Video läuft. Es zeigt Brigittas Garten. Jemand filmt den Weg zur Stuga. Dort, wo vor wenigen Monaten noch hoher Schnee gelegen hat, blüht auf saftigem Gras der Löwenzahn.
»Wo ist mein Engel?«, höre ich Lovis rufen.
»Hier! Wir sind auf der Veranda.«
Nächste Einstellung. Brigitta sitzt im Schaukelstuhl und hält ein Baby in ihren Armen. Kurz darauf erscheint Madita neben ihr, legt den Arm um die Schultern ihrer Mutter und winkt freudestrahlend in die Kamera. »Viele Grüße nach Hamburg.«
Lovis wechselt die Einstellung. Jetzt ist auch er zu sehen. Der stolze Papa strahlt über das ganze Gesicht. Ein Junge kommt ins Bild. Er ist der Einzige, der nicht lächelt.
»Nun sag es, wie wir es geprobt haben!«, fordert Lovis ihn auf.
»Am Wochenende feiern wir ›Midsommar‹.«
Plötzlich kreischen alle simultan. »Aber nicht ohne euch!«
Ich finde keine Worte und schaue Mutter verdattert an.
»Ist das zu fassen?«, quietscht sie. »Brigitta ist überglücklich. Gestern ist Madita mit Lovis und ihren Kindern völlig unerwartet bei ihr aufgetaucht.«
Das erklärt, warum er mich vorhin angerufen hat. Sein Bestreben, die Familie zu versöhnen, hat tatsächlich geklappt. Ich würde gerne erfahren, wie es ihm gelungen ist.
»Wir brauchen Geschenke. Mit leeren Händen können wir nicht bei ihnen aufschlagen. Schließlich ist die kleine Ebba das Enkelkind deines Vaters und deine Nichte. Schau doch, was für ein niedlicher Wonneproppen sie ist.«
»Geh mal vom Gas, Mama. Ich kann nicht zu Brigitta reisen. Am Wochenende findet die Messe statt.«
»Mist! Und ich habe versprochen, dir zu helfen.«
»Fahre ohne mich. Ich finde schon jemanden, der mir beim Auf- und Abbau zur Hand geht.«
Meine Freundin Johanna wird mir gewiss keinen Korb geben, wenn ich sie frage, ob sie mich unterstützen wird. Ich schicke ihr eine Nachricht und bitte sie um Rückruf.