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Der Sünder
Die Turner High war nicht wegen ihrer Sicherheit, sondern vornehmlich wegen ihrer bunt gemischten Schülerschaft berühmt. Banden, die Kinder reicher Eltern, Streber, Theaterfreaks und Loser – alle existierten im Grunde friedlich nebeneinander. Die Banden verprügelten andere Banden, die reichen Kinder gaben Geld aus, die Theaterfreaks führten Unsere kleine Stadt
auf und schrieben Gedichte über die Verzweiflung. Die Loser kifften am Embankment, und die Schule ratterte dahin wie ein riesiges ungebärdiges Monstrum.
Charlie war nicht sicher, woher Peter sein Marihuana bezog, aber er wusste, dass es an der Turner mehrere Drogendealer gab, die verschiedene Zielgruppen belieferten. Es war nicht so, dass die Kinder reicher Eltern kein Gras rauchten und keine Pillen nahmen. Sie taten es allerdings lieber in den sicheren Anwesen der Eltern statt auf den Böschungen hinter den Sportplätzen und den provisorischen Bauten. Den anderen bot das Embankment ein wenig Sicherheit vor den Aufsehern und Wachleuten der Schule. Natürlich wussten sie alle vom Embankment. Allerdings pflegten sie es meist einfach zu ignorieren, wenn man von gelegentlichen eher symbolischen Razzien absah. Schließlich konnte man nicht ständig jemanden verhaften.
Auf dem Weg dorthin ging Charlie zwischen den Fertigbauten entlang. Eigentlich lagen sie nicht auf dem Weg, aber irgendetwas beunruhigte ihn. Dieses Graffito, Alles muss …
und die hirnrissige Erklärung. Ein Songtext? Hör doch auf.
Alex spielte in seinem Zimmer Gitarre, meistens Coverversionen von Kurt Cobain, und das ziemlich mies. Aber trotzdem …
Da war das Graffito, immer noch unvollendet. Und da war auch Alex. Er saß allein auf der Treppe vor Anbau B und las Cat’s Cradle
. Seit gestern hatte er den größten Teil des Buchs verschlungen.
»Hallo, Charlie.«
»Hi, Alex.«
»Das war eine klasse Aktion gestern.«
»Ja. Episch. Wir haben Geschichte geschrieben.«
Alex zuckte mit den Achseln.
»Kommst du heute Abend zum Computerlabor?«
»Ich denke schon«, antwortete Alex. »Um Mitternacht?«
»Ja, das war Peters Idee. Natürlich.«
»Natürlich.«
»Hör mal, hast du eine seltsame Nachricht mit einem Link bekommen? Eine Art Einladung?«
»Ja, ich glaube schon.« Das war für Alex’ Verhältnisse eine geradezu überschwängliche Antwort.
Charlie nickte. Also wusste Gott (oder G.O.T.T., wie man jetzt wohl sagen musste) offenbar, dass sie die Tafel gemeinsam gehackt hatten. Aber woher wusste er das? Wurden sie wirklich so genau beobachtet?
»Du hast doch nicht den Link angeklickt, oder?«
»Nein.«
»Gut. Mach das noch nicht.«
»Was ist denn los?«
»Das weiß ich nicht. Peter forscht gerade nach.«
Alex runzelte die Stirn.
»Stimmt was nicht?«, fragte Charlie.
»Alles klar«, wehrte Alex ab.
Als sie mit den Vindicators begonnen hatten, war Alex der Stillste in der Gruppe gewesen. Beinahe ein Außenseiter. Aber
er trieb sich immer im Computerlabor herum. Er hatte es vor allen anderen entdeckt. Dort hatte er sein Mittagessen verdrückt und im Web gesurft oder MOBA
s gespielt. Als sie nach und nach zusammenfanden, war es ganz selbstverständlich, dass Alex mit in die Gruppe hineingezogen wurde. Allerdings war es damals einfacher gewesen, als er noch der harmlose verrückte Alex war.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte Alex auf einmal. Es klang beinahe verärgert.
»Worüber denn?«
»Über mich.«
»Alex, was soll das?«
»Ich spüre es. Du musst es nicht aussprechen. Bei den anderen ist es genauso.«
»Bei den Vindicators?«
»Ihr wollt mich nicht mehr in der Gruppe haben.«
Charlie hätte ihm gern gesagt, dass dies nicht zutraf. Leider war er ein erbärmlicher Lügner. Der harmlose verrückte Alex war dem völlig abgedrehten verstörten Alex gewichen. Oder steckte noch mehr dahinter? Stand Alex am Rande von etwas Schlimmerem? Irgendetwas Namenloses und Tiefes, das Charlie jetzt schlichtweg überfordert hätte? Ihm wurde klar, dass er damit ein mieser Freund gewesen wäre – vielleicht hatte Vanhi recht –, aber es fühlte sich an, als zwängte sich die Wahrheit massiv wie ein Planet in seine Sphäre. Es war zu viel. Kenny hatte jedenfalls vor dem neuen Alex Angst. Peter war kein Heiliger, aber er war wie mit Teflon beschichtet, und bei ihm fühlte Charlie sich sicher, selbst wenn sie in Schwierigkeiten gerieten. Peter wusste genau, wann man vorstoßen und wann man einen Rückzieher machen musste. Er war reich, also würde er am Ende heil davonkommen. Alex dagegen kam ihm vor wie ein Ertrinkender, der sich in einen See gestürzt hatte und jeden mit sich hinabzog, der ihn zu retten versuchte
.
Also ja, verdammt, vielleicht wollte er Alex wirklich nicht mehr in der Gruppe haben. Trotzdem sagte Charlie: »Das ist nicht wahr«, weil er Alex nicht kränken wollte.
Alex zuckte zusammen. Wie lange hatte Charlie gezögert? Eine Mikrosekunde? Anscheinend lange genug, weil Alex in dem kurzen Schweigen alles gehört hatte, was er hören musste.
Charlie fühlte sich mies. Vanhi hatte recht. Im ersten Jahr wäre er der Erste gewesen, der Alex verteidigt und ihn von der Klippe zurückgezerrt hätte. Das war Freundschaft. Man schnitt die Leute nicht nur dann vom Galgen ab, wenn es gerade bequem war. Ob verrückt oder nicht, Alex war ein Vindicator. Charlie versuchte, die Situation zu retten, doch der Schaden war schon angerichtet.
»Ich meine es ernst. Du bist einer von uns.« Er spürte, dass es in die Binsen ging. Der erste Moment war die Wahrheit gewesen, und er hatte versagt. Was danach kam, war ein bloßes Herumgehampel, das alles nur noch schlimmer machte.
»Na gut.«
»Wir machen uns nur Sorgen um dich«, sagte Charlie lahm.
»Nicht nötig, mir geht es gut.« Alex steckte wieder die Nase ins Buch.
»Alex.«
»Ich will jetzt lesen.« Alex’ Stimme brach beinahe.
Charlie schämte sich. »Alex, es tut mir leid, ich wollte doch nicht …«
»Ich will jetzt lesen.« Es klang schärfer als beim ersten Mal.
Charlie nickte. »Okay. Schon gut. Bis heute Abend dann, ja?«
Alex antwortete nicht.
Peter saß draußen am Embankment im kühlen Gras. Das blonde Haar pendelte im Wind. Er bot Charlie den Joint an, doch an dieser Stelle hatte Charlie eine Grenze gezogen. Ab und zu mal ein Zug, aber er wollte kein Kiffer werden, der
schon am helllichten Tag high in der Schule umherlief. Die letzte dünne Verbindung zu seinem alten Leben war noch nicht gekappt. Trotzdem, nach der deprimierenden Begegnung mit Alex war Peter wie ein Hauch frischer Luft, ganz entspannt und sorglos, an einem schönen Tag auf dem Embankment vom Wind umspielt.
»Nein, danke«, antwortete Charlie.
Peter zuckte lächelnd mit den Achseln.
»Ich glaube, ich habe es mir gerade mit Alex verdorben.«
»Alex? Machst du Witze? Wie läuft es denn mit Mary?«
»Sie hat mich geküsst.«
Peter hustete und stieß eine Rauchwolke aus.
»Guter Gott, der Knaller kommt immer ganz zuletzt.«
Charlie erzählte ihm von dem Stelldichein im Wald.
»Und danach ist sie einfach gegangen?«
»Ja. Sie ist geradewegs auf die Lichtung marschiert.«
»Das ist gar nicht so komisch, wie es scheint.«
»Erklär’s mir.«
»Hast du sie seitdem noch einmal gesehen?«
»Nein. Ich glaube, sie geht außen um die Schule herum, um mir nicht zu begegnen.«
»Das unterstellt, dass du ihr wichtig bist. Ich möchte wetten, dass sich die Hälfte davon nur in deinem Kopf abspielt.«
»Du bist ein echter Freund, weißt du das?«
»Hm-hm.« Peter zog gemächlich an seinem Joint. »Also, ich habe heute Caitlyn Lacey wegen des Schulballs gefragt.« Er sah dem aufsteigenden Rauch nach.
»Ist sie nicht mit Kurt zusammen?«
»Stimmt.«
»Warum hast du sie dann gefragt?«
»Warum denn nicht? Du baggerst Mary Clark an. Als Nächstes wird sich noch Vanhi mit Rebecca Moore verloben. Die ganze gesellschaftliche Ordnung geht zum Teufel. Was für ein Durcheinander.
«
»Was hat sie gesagt?«
»Sie hat natürlich Nein gesagt. Sie schläft mit mir in ihrem Auto, aber sie lädt mich nicht zu Mami nach Hause ein.«
»Sie hat mit dir geschlafen?«
Peter nickte.
»Wann denn?«
Er zuckte mit den Achseln. »Mehr als einmal.«
»Das hast du mir nie erzählt.«
»Der Gentleman genießt und schweigt. Ausgenommen jetzt gerade, wie es scheint.« Peters Lächeln wirkte ein wenig bitter. »Ich wusste, dass sie Nein sagt. Das ist kein Problem. Wen kümmert schon ein dummer Tanzabend mit einem Haufen Zombies?«
»Warum hast du sie dann überhaupt gefragt?«
Peter dachte nach. »Ich wollte hören, wie sie Nein sagt. Wie sie ihre Rolle bei der großen Lüge anlegt. Schön, sie kann also beides haben – mit Kurt ausgehen, weil er so beliebt ist, während sie in Wirklichkeit mich will. Aber es soll ihr wenigstens ein bisschen wehtun.«
Charlie schüttelte den Kopf. »Mann, du bist ein krasser Typ.«
Peter lächelte und zog am Joint. »Also heute Abend um Mitternacht im Computerlabor. Komm nicht zu spät.«
»Hast du etwas über die Einladung herausgefunden?«
»Oh ja.«
»Was denn?«
»Das ist ein Geheimnis. Du willst mir doch nicht die Überraschung verderben, oder?«
»Nee.« Charlie hörte die Schulglocke. »Zeit für den Unterricht.«
»Ich glaube, es geht mir besser, wenn ich nicht teilnehme. Formelle Unterweisungen trüben meinen Blick.«
»Auch gut.«
»He, könntest du etwas für Zeke mitnehmen, wenn du sowieso hingehst?
«
Peter wühlte im Rucksack und zog eine verknitterte braune Tüte heraus.
Zeke war auf der anderen Seite des Embankment zu sehen, im Schatten der roten Ziegelmauer der Sporthalle bei den Fertigbauten. Seine schmutzig-braunen Dreadlocks erinnerten an eine Pferdemähne, kratzig und mit eingeflochtenen Perlen. Sein Kopf lag auf Monica Jamesons Schoß, der es anscheinend Spaß machte, die zotteligen Dreadlocks zu flechten und mit ihnen zu spielen.
»Was ist das?«
»Er hat gestern sein Mittagessen mit mir geteilt, weil ich meins vergessen hatte.«
»Klar.« Kaum dass er eingewilligt hatte, fiel Charlie ein, was er stattdessen hätte sagen sollten: Zeig mir den Inhalt.
Andererseits war Peter kein Drogendealer. Abgesehen von ein wenig Marihuana in der Freizeit hatte Charlie noch nie gesehen, dass Peter irgendetwas mit Drogen zu tun hatte. Auf der Privatschule war er früher mit reichen Kindern auf Partys gegangen und hatte Koks und verschreibungspflichtige Medikamente genommen, aber das war damals passiert, und heute sah es anders aus. Man hatte ihn aus jener Welt ausgestoßen, und soweit Charlie es sagen konnte, blickte Peter keineswegs reumütig zurück. Er traf sich nicht einmal mehr mit den ehemaligen Mitschülern. Wie auch immer, Charlie hatte bereits eingewilligt, und das Schlimmste, was man über ihn sagen konnte, war dies: Du hast eine Papiertüte mit unbekanntem Inhalt von A nach B befördert, aber kein Geld dafür erhalten. Du wusstest von nichts, und wahrscheinlich war es sowieso nur ein Fleischwurstsandwich. Also machen wir kein Kapitalverbrechen daraus.
Außerdem war es ein schöner sonniger Tag auf dem Embankment. Weit und breit kein Erwachsener zu sehen. Nur die Ruhe, Charlie,
sagte er sich selbst. Du bist nicht der Nabel der Welt
.
Er schnappte sich Peters Frühstücksbeutel und wanderte zum Klassenzimmer.
Als er Zeke erreichte, sagte er: »Schöne Grüße von Peter.«
Zeke hob kaum den Kopf, nahm aber den Beutel entgegen. »Danke, Mann.«
»Keine Ursache.«
Damit war es erledigt. Charlie lief im Schatten der roten Turnhalle weiter zum Klassenraum.