10
Gute Taten
Beim kreativen Schreiben kehrte Mary ihm den Rücken zu. Er fürchtete, sein Starren könnte ihr ein Loch in den Hinterkopf brennen. Schließlich riss er sich zusammen und konzentrierte sich auf den Unterricht.
Mr. Burklander redete über Faulkner und die Erzählperspektive. Die Schüler sollten eine Geschichte aus dem Blickwinkel eines Menschen schreiben, dem sie nie begegnet waren und den sie überhaupt nicht leiden konnten. Charlie wollte über Liebe auf den ersten Blick aus der Perspektive von Donald Trump schreiben – bis er herausfand, dass es eine Projektion wäre –, aber dann sah er, dass die halbe Klasse über Trump schrieb.
Als es läutete, verschwand Mary so rasch durch die Tür, dass Charlie nicht einmal in ihre Nähe kam. Sie würdigte ihn keines Blickes. Er versuchte, sie auf dem Flur einzuholen, musste jedoch abrupt anhalten, weil ihm jemand die flache Hand auf die Brust legte. Er zuckte zusammen.
»Hallo, Charlie«, sagte Tim Fletcher.
Charlie wappnete sich innerlich. Wenn es jetzt passieren sollte, na gut. Er würde nicht vor einem eins neunzig großen, wütenden Zombie einknicken. Wenn der ihn vermöbeln wollte, bitte. Wenigstens würde er nicht kampflos untergehen.
»Hallo, Tim«, sagte er heiser.
»Wie war der Unterricht? Hast du Mary gesehen?«
»Habe ich. Den Hinterkopf aus drei Reihen Entfernung. Es war faszinierend.
«
»Ich habe gehört, dass du sie gestern Abend mitgenommen hast.«
»Richtig.« Charlie wartete. Er hatte nichts weiter zu sagen.
»Das war nett von dir.«
»Keine Ursache.«
»Und jetzt spielst du den Klugscheißer?«
»Ich habe sie mitgenommen. Was soll ich sonst sagen? Es war kein Abendessen und kein Kinobesuch.«
Tim lächelte. Es war das sorglose Lächeln eines reichen, privilegierten Lieblingssohns, den nichts erschüttern konnte. Auf die eine oder andere Weise würde es laufen, wie er wollte. Er hatte eine Mannschaft. Er hatte eine Legion bewundernder Footballfans in einem Staat, wo Football knapp unterhalb der Religion angesiedelt war. Er konnte jeden belästigen und einschüchtern und hatte nichts zu befürchten. Da der Schulball bevorstand und da sein Team hervorragend abgeschnitten hatte und wieder bei den Landesmeisterschaften mitmischen durfte, war Tim absolut immun. Charlie dagegen, der ehemalige Musterschüler und Sohn eines Buchhalters, war ein Niemand.
»Vielleicht solltest du sie wirklich zum Abendessen und zu einem Film einladen«, sagte Tim freundlich. »Vielleicht solltest du das versuchen. Was meinst du?«
»Ich glaube, Mary kann tun, was immer sie will.«
In Tims braunen Augen veränderte sich etwas. Sie wurden dunkler, und er zog die Brauen hoch. »Soll ich Mary fragen, was sie will?«
Da fiel Charlie ein, dass er zwar für sich selbst tapfer war, aber möglicherweise Mary und nicht sich selbst in Gefahr brachte. Du kennst ihn nicht,
hatte sie gesagt. Als Charlie Tim in die kalten Augen sah, fand er die Bemerkung auf einmal auf eine Art und Weise einleuchtend, an die er bisher noch nie gedacht hatte. Fieberhaft überlegte er, wie er kitten konnte, was er möglicherweise gerade kaputtgemacht hatte.
»Drohst du ihr?
«
»Nein.« Tim lächelte. »Mach dich nicht lächerlich«, sagte er in einem Ton, der genau dies überhaupt nicht lächerlich erscheinen ließ.
»Wenn du ihr auch nur ein Härchen krümmst …«
»Charlie, Charlie.« Tim legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Immer mit der Ruhe. Du regst dich wegen nichts und wieder nichts auf. Wie lange sind Mary und ich schon zusammen? Und was bist du für sie? Nichts, nicht wahr? Ihr seid nicht einmal befreundet. Also, warum machst du dir Sorgen?« Tim trat zur Seite und breitete die Arme aus. Es war die Erlaubnis für Charlie, einfach wegzugehen, frei und ungehindert, und sich in das Gedränge der Schüler zu mischen, die durch die Flure liefen.
Charlie machte einen Schritt auf Tim zu, was dessen überlegene Größe noch beeindruckender erscheinen ließ.
»Ich meine es ernst. Wage es nicht, ihr auch nur ein Härchen zu krümmen.«
»Charlie.« Tim lächelte liebenswürdig. Der Footballstar. Der König des Schulballs. »Ich könnte keiner Fliege etwas zuleide tun.«
Die Computerwissenschaften waren Charlies liebstes Schulfach, nicht zuletzt weil er dort zwischen Vanhi und Kenny saß. Außerdem programmierte er gern und war den einfachen Projekten, an denen sie im Unterricht arbeiteten, meilenweit voraus. Doch so gut Charlie auch war, Vanhi war um Lichtjahre besser. Sie hatte eine besondere Begabung für das Programmieren. Als Charlie sie einlud, sich den Vindicators anzuschließen, hatte sie gesagt: »Warum sollte ich mich von einem Haufen dummer Jungen ausbremsen lassen, die mit Robotern spielen?« Das war ein berechtigter Einwand. Trotzdem war sie am nächsten Tag erschienen, hatte ihre Tasche auf den Tisch geworfen und gesagt: »Dann lasst uns mal mit diesem Mist anfangen.
«
Der Rest war Geschichte.
Charlie richtete sich zwischen Kenny und Vanhi am Terminal ein. Sie schlug ihn kräftig auf die Schulter.
»Was soll das?« Er rieb sich den Arm.
»Du betrügst!«
»Was denn, wen denn?«
»Mich!«
»Äh, soweit ich mich erinnere, hast du mich abblitzen lassen.«
»Mag sein. Aber das heißt nicht, dass du mir nicht mehr mich anbetend zu Füßen liegen sollst. Schließlich bin ich eine sagenhafte Naturgottheit.«
»Na gut, du bist die Göttin von irgendetwas. Die Hauptgöttin des blühenden Unsinns.«
Der nächste Schlag war sogar noch kräftiger.
»Es gibt hier Leute, die sich konzentrieren wollen.« Kenny seufzte übertrieben und überwand sich, um mit der Programmierarbeit zu beginnen. Im Gegensatz zu den anderen Gruppenmitgliedern war Kenny kein mathematisch begabter Nerd, sondern eher Philosophiejunkie und klassischer Gelehrter. Seine Eltern waren strenggläubige Katholiken, und er hatte schon als kleiner Junge Griechisch und Hebräisch gelernt. Seit er zwölf geworden war, las er Bücher über Theologie, Mythologie und Philosophie aus dem College-Lehrplan.
»He, übrigens, kommt ihr heute Abend auch?«, fragte Charlie.
»Ah, meinst du Peters geheime mitternächtliche Versammlung?«, fragte Kenny. »Klar, warum nicht?«
»Ihr habt doch die Einladung noch nicht angeklickt, oder?«
»Nein«, antwortete Vanhi. »Auf Spam reagiere ich grundsätzlich nicht.«
»Sehr gut. Peter hat etwas nachgeforscht.«
»Das ist beruhigend. Ich will sicher sein, dass es nichts Dubioses ist.
«
»Wenn Peter damit zu tun hat, ist es mit ziemlicher Sicherheit dubios«, warf Vanhi ein.
Charlie ignorierte die Bemerkung. Vanhi dachte über Peter immer nur das Schlimmste.
Vanhi zeigte ihnen ihren Code. »Seht mal, das habe ich gestern Abend gemacht.«
Sie startete das Programm. Oben auf dem Bildschirm erschien eine Kugel. Vanhi hatte das Drahtgitternetz und die 3D-Darstellung von Grund auf selbst in C++ geschrieben. Die Kugel folgte auf dem Bildschirm den Gesetzen der Schwerkraft und sank nach unten, wo sie abprallte und wieder nach oben schwebte. Dann entstanden oben weitere Kugeln, die sich gegenseitig ablenkten, bis sie in alle Richtungen davonflogen.
»Ich nenne es ›Bälle‹.«
»Hübsch«, sagte Kenny. Er befasste sich lieber mit Textstrings.
Als es im Klassenraum ruhig war und alle programmierten, beugte Charlie sich zu Vanhi hinüber. »Musst du nicht bald deine Bewerbung abschicken?«
»Ja, bis nächsten Dienstag. Bist du jetzt meine Mom?«
Charlie lachte, obwohl es ihm ernst war. »Ich habe gerade über unseren letzten Streich nachgedacht.«
»Trump! Trump! Trump!«
»Ja, das war witzig, aber …«
»Aber was?« Sie seufzte gereizt.
»Eine Straftat? Was haben wir uns nur dabei gedacht? Du könntest bald in Harvard sein. Willst du das alles wegwerfen für ›Trump ist eine gestaltwandelnde Eidechse‹? Oder für das, was heute Abend herauskommt?« Charlie hatte nichts mehr zu verlieren, seine Zukunft war sowieso im Eimer. Aber soweit er es sagen konnte, stand Vanhi noch die ganze Welt offen.
Vanhi errötete. »Warum tust du so gönnerhaft? Liegt es daran, dass ich ein Mädchen bin? Sagst du auch Kenny, dass er sein Leben nicht vergeuden soll?
«
Jetzt wurde Charlie rot. »Darum geht es nicht. Wir haben doch immer gesagt, wir würden zusammen nach Harvard gehen. Das kann ich jetzt nicht mehr. Ich will dich nicht mit runterziehen.«
Vanhi kochte innerlich. Sie konnte Charlie nicht sagen, dass sie genauso erledigt war wie er. Sie konnte ihre geheime Schande nicht offenbaren, das Versagen im AP
-Kurs. Es war, als würde sich der ganze Vanhi-Pullover aufribbeln, wenn man an diesem einen Faden zog. Also ging sie in die Offensive. Statt ihn und sich selbst als Verlierer zu sehen, wollte sie lieber so tun, als könnten sie beide noch gewinnen.
»Hör mal, hier ist mein Vorschlag. Du schickst möglichst bald eine Bewerbung nach Harvard, und das mache ich auch. Wenn du nicht angenommen wirst, steige ich ebenfalls aus.«
»Das ist dumm. Warum willst du deine Zukunft wegwerfen?«
»Wenn du da nicht landest, will ich auch nicht mehr hin.«
»Das ist doch nicht dein Ernst.«
»Und ob.« Sie klopfte Charlie auf die Schulter. »Charlie, wir sind Freunde. Ich passe auf dich auf. Also versprich mir, dass du es schaffst, und dann muss ich nicht meine Zukunft wegwerfen, nur um Wort zu halten.«
Charlie wurde nicht schlau aus ihr. Meinte sie es wirklich ernst? Er würde sich auf keinen Fall in Harvard bewerben. Der einzige Weg, der ihm jetzt noch offenstand, beruhte darauf, mit dem Tod seiner Mutter auf die Tränendrüsen zu drücken und zu erklären, dass er deshalb vom Musterschüler zum Versager herabgesunken war. Und selbst dann hätte er einen Ausweg aus der Misere aufzeigen müssen. Wie war das möglich, wenn er immer noch so tief im Schlamassel steckte? Das schied völlig aus. Aber warum wollte Vanhi unbedingt mit ihm zusammen untergehen? Also log er.
»Na gut, meinetwegen, warum nicht. Ich bewerbe mich.
«
»In Ordnung.« Vanhi versuchte, es beiläufig klingen zu lassen.
Sie beäugten einander misstrauisch und waren nicht sicher, wer gerade wen hinters Licht führte.
Sie programmierten eine Weile. Die Aufgabe bestand darin, eine Softwareverwaltung für ein Logistikunternehmen wie Amazon zu erstellen. Sie musste überall in der Welt ausliefern und die Auslieferung so schnell wie möglich einleiten. In dieser Simulation gab es wenigstens keine Zombies.
Sie flüsterte ihm ins Ohr: »Du hast mich wirklich betrogen.«
»Wirklich?«
»Mary Clark, Charlie. Oder nicht?«
»Ich habe sie mitgenommen.«
»Du hast sie geküsst.«
Charlie drehte sich um und sah sie verblüfft an. »Woher weißt du das?«
»Das weiß jeder.«
»Hat sie es herumerzählt?«
»Das bezweifle ich. So etwas würde Mary Clark nicht öffentlich zugeben. Das hübscheste Mädchen auf der Schule küsst einen nerdigen Außenseiter?«
»Aber woher weißt du es dann?«
»Charlie, du hast sie sechs Meter von einer wilden Meute entfernt geküsst. Dachtest du wirklich, das merkt keiner?«
»Wir waren im Wald.«
»Mann, weißt du denn nicht, dass immer jemand zusieht?«
Mit flammend roten Wangen wandte er sich ab. Dann wusste es sicher auch Tim. Auf dem Flur hatte er nichts gesagt, aber die kalte Wut in seinen Augen …
»Charlie, du musst vorsichtig sein.«
»Tim?«
»Ja. Aber er wird dich nicht direkt angreifen. Er wird Kurt Ellers oder Joss Iverson schicken.
«
Kurt war ein besonders sadistischer Dreckskerl. Ungehobelt und dreist, während Tim aalglatt und kultiviert war. Der offensive Lineman, der den Quarterback Tim unterstützte. Joss war ein tumbes Muskelpaket, ein Linebacker, der immer bereit war, auf alles einzuschlagen. Man musste ihm nur sagen, wo das Ziel war.
»Du wirst ihr nie genug sein«, prophezeite Vanhi. Auf einmal klang es, als sei ihr sein Wohlergehen sehr wichtig. »Sie will einen reichen Kerl haben, der ihr teure Sachen kauft. Hast du den Armreif gesehen, den Tim ihr geschenkt hat? Das war Rotgold. Wahrscheinlich hat er tausend Dollar gekostet.«
»Ist es so verrückt, dass sie mich mag?«
»Nein. Aber es ist verrückt zu glauben, dass sie sich jemals für dich entscheiden wird.«
Sie sprachen leise, und Kenny tat geflissentlich so, als hörte er es nicht.
»Du bist ein echter Kumpel«, sagte Charlie zu ihr.
»Das bin ich.« Als es schellte, sammelte sie ihre Sachen ein. »Weißt du, was ein Freund ist? Das ist jemand, der dir die Wahrheit sagt, auch wenn du sie nicht hören willst.«
Beim Mittagessen bekam er eine Textnachricht:
Komm zu den Fertigbauten.
Es war Marys Nummer, was er für verrückt hielt. Die letzte Nachricht in diesem Chat war zwei Jahre alt. Damals war es um ein Anti-Graffiti-Projekt der Schülervertretung gegangen. Sie wollten die südlichen Wände neu streichen. Charlies Herz machte einen Sprung, aber als er dort eintraf, war Mary nirgends zu sehen. Dafür entdeckte er im Schatten eine kleine Gruppe, die sich zwischen den Gebäuden versammelt hatte. Charlie gab Mary noch zwei Minuten, dann ging er hinüber, um zu sehen, ob sie in der Gruppe war. Als er Kurt Ellers erkannte, den leitenden Sadisten, hielt er inne. Auf einmal fiel
ihm wieder Vanhis Warnung ein – du küsst Mary, Tim erfährt es, Kurt erledigt die Schmutzarbeit. Doch die Meute interessierte sich nicht für Charlie. Dort war bereits etwas anderes im Gange. Er wagte sich näher heran, dann rutschte ihm das Herz in die Hose. Sie hatten Alex eingekreist.
»Na los«, befahl Kurt fröhlich.
Er hob ein kleines Handy und war bereit, irgendetwas zu filmen.
»N-n-nein«, stotterte Alex verängstigt. Zwei Footballspieler hatten ihn in die Zange genommen und hielten seine Arme fest.
Kurt versetzte ihm einen kräftigen Stoß. Alex ließ den Kopf hängen, die Haare fielen ihm vor die Augen.
»Glaubst du wirklich, wir lassen dir das durchgehen? Ich meine, was soll das überhaupt? Ich dachte, Asiaten wären so klug.«
»Lass mich in Ruhe.«
»Von jetzt an werde ich dich ›dummer Asiate‹ nennen«, versprach Kurt ihm mit einem hässlichen, gemeinen Lächeln.
»Fahr zur Hölle.«
Kurt versetzte ihm so schnell eine Ohrfeige, dass Alex zuerst erschrak, ehe die Schmerzen einsetzten. Mit leichter Verzögerung erschien auf der Wange ein hellroter Fleck. Er schloss die Augen und gab sich Mühe, nicht zu weinen.
Die Ohrfeige riss Charlie aus der Benommenheit. Er hatte wie gebannt zugesehen. Jetzt war er hellwach. Er musste sich entscheiden. Keine der Möglichkeiten war angenehm.
Was hatte Alex überhaupt angestellt? Glaubst du wirklich, wir lassen dir das durchgehen?
Was wollten sie ihm nicht durchgehen lassen? Welche verrückten Dinge hatte Alex getan, dass er jetzt in dieser Gefahr schwebte? Schieb es nicht dem Opfer in die Schuhe,
sagte Charlie sich selbst. Das verdient niemand. Du bist nur ein Feigling, der nach einer Ausrede sucht, damit er nicht hineingezogen wird
.
»Macht es«, sagte Kurt zu den Typen, die Alex festhielten.
Was hatten sie vor?
Alex war verängstigt und strampelte wild.
Es waren mindestens fünf. Auf keinen Fall konnte Charlie loslaufen und rechtzeitig Hilfe holen. Selbst wenn er jemanden anrief, käme die Hilfe zu spät.
Vorher hatte Alex auf seine Weise Charlie um Unterstützung gebeten, um zu hören, dass er nicht allein war. Charlie hatte es furchtbar vermasselt. Ohne zu zögern, hatte er Alex nur noch tiefer in das einsame Loch geschickt.
Da stieg die Wut in ihm auf. Er war wütend auf Kurt, auf Tim, der nicht einmal dabei war, obwohl er der Anführer dieser königlichen Sadistentruppe war. Auf Alex, den einzigen Vindicator, der sie von liebenswerten und sogar beliebten Nerds in etwas anderes verwandeln konnte. Auf sich selbst, weil er diese Gedanken hegte.
Die Typen, die links und rechts neben Alex standen, packten seine Hose und zerrten sie herunter. Er schrie: »Nein!«
Einer zog auch die Unterhose herunter. Verdammt auch, dieser siebzehnjährige Bursche trug Superhelden-Boxershorts. Nun war er entblößt, sein Schwanz hing heraus, dass alle ihn sehen konnten, weder besonders groß noch klein, einfach ein normaler Schwanz. Die Kerle lachten und johlten, und Kurt zückte sein Handy und machte eine Aufnahme.
Charlie rannte los. Er rannte so schnell wie noch nie im Leben, überbrückte im Handumdrehen die Distanz und sprang Kurt so schnell an, dass ihn keiner dieser faschistischen, grausamen Ärsche kommen sah, weil sie so sehr damit beschäftigt waren, den Jungen vom Mars mit seinem ganz normalen Schwanz zu quälen. Charlie hatte sich noch nie geschlagen, aber irgendwann war es eben immer das erste Mal.
Das Adrenalin rauschte durch die Adern, er sprang Kurt Ellers an, warf ihn zu Boden und versetzte ihm einen ordentlichen Hieb in das grinsende Gesicht, ehe Joss ihn wegzog. »
Lösch das«, rief er und packte Kurts Telefon, noch während Joss ihn wegzerrte. Das Telefon fiel ein paar Schritte entfernt auf den Boden. »Lasst ihn in Ruhe!«
»Vergiss es.« Kurt stand auf und wischte sich mit dem Handrücken den Dreck aus dem Gesicht. »Hast du ihm gesagt, dass er das machen soll?« Kurt kniff böse die Augen zusammen.
»Ich habe keinen Schimmer, wovon du redest«, entgegnete Charlie hitzig.
Alex sah ungläubig zu. Er wich vor den Kerlen zurück, die inzwischen allesamt Charlie zugewandt waren, und zog sich die Hose hoch.
Direkt bevor der erste Hieb ihn traf, dachte Charlie: Oh, na gut, früher oder später wären sie sowieso auf mich losgegangen.
Jetzt geschah es wenigstens zu seinen eigenen Bedingungen.
Charlie spürte das Brennen, sein Hinterkopf prallte gegen Joss’ Kinn.
Dessen Griff löste sich einen Moment lang.
Charlie trat mit der Hacke gegen Joss’ Schienbein. Als der Bursche hinter ihm aufschrie, riss Charlie sich sofort los, ehe sich der Rüpel wieder gefasst hatte. Kurts Telefon lag auf dem Asphalt. Charlie stürzte sich darauf und traf es mit voller Wucht mit der Hacke. Der Bildschirm splitterte, das Gehäuse ging entzwei. Als nun die ganze Gruppe gegen ihn vorrückte, wich Charlie zu einem Fertigbauschuppen zurück. Von dem Stapel mit Baumaterial, der daneben aufgetürmt war, nahm er einen Ziegelstein und schleuderte ihn den Typen entgegen. Das hielt sie einen Moment auf. Sofort schnappte er sich einen weiteren Stein und drosch ihn immer und immer wieder auf das Telefon, bis es völlig zerschmettert war.
»Das war neu«, klagte Kurt.
»Lasst ihn in Ruhe«, sagte Charlie und nickte in Alex’ Richtung, während er den Ziegelstein, zum Angriff bereit, hochhielt. Seine Lippe schmerzte, er schmeckte das Blut. Trotzdem
fühlte er sich beschwingt. Zum ersten Mal seit einem ganzen Jahr fühlte er sich lebendig und hatte ein Ziel.
»Du bist tot«, sagte Kurt, überhaupt nicht mehr fröhlich, zu Charlie.
»Früher oder später muss jeder abtreten.« Charlie gab sich Mühe, tapfer und ritterlich zu antworten, obwohl er ein Loch spürte, wo sein Magen war.
Chris Everett, der Ersatzquarterback, stürmte auf ihn los. Charlie schwang den Ziegelstein und traf Chris’ Schulter.
Der Footballspieler taumelte zurück. »Du bist vollkommen verrückt.«
»Komm mit«, sagte Charlie zu Alex.
Unsicher blickte Alex zwischen den Folterknechten hin und her, doch aller Augen ruhten auf Charlie. Alex stellte sich neben ihn.
Dann wichen sie zurück, bis sie hinter einer Ecke verschwinden konnten. Dort ließ Charlie den Ziegelstein fallen, und sie rannten los. Alex war schon immer überraschend flink gewesen. Er lief ein Stück voraus und wurde wieder langsamer, damit sie gemeinsam fliehen konnten. Die Footballmannschaft folgte ihnen nicht. Was sie sich auch für Charlie ausgedacht hatten, es sollte später geschehen.
Sobald sie wohlbehalten auf der anderen Seite des Schulgeländes angekommen waren, sagte Charlie: »Geht es dir gut?«
Alex war mürrisch und schämte sich.
»Ich habe überhaupt nichts gesehen«, versuchte Charlie zu beschwichtigen. Es klang unecht. Also probierte er es mit Humor. »Ich meine, außer deinem Schwanz, und der war beeindruckend.«
Alex schüttelte nur den Kopf.
»Zu früh für Witze?«, fragte Charlie.
»Ich hasse diese Arschlöcher.«
»Alex, es ist vorbei, dir ist nichts passiert. Wir haben das Telefon zerstört.
«
»Sie werden es allen erzählen.«
»Was wollen sie denn erzählen? Dass sie kranke Wichser sind? Dass du aussiehst wie alle anderen Jungs im Umkleideraum? Es gibt nichts zu erzählen.«
Da fiel Charlie etwas ein. »Was hast du überhaupt angestellt?«
»Das habe ich nicht verdient.«
»Ich weiß. Natürlich nicht. Trotzdem, was sollte das?«
»Es war nichts weiter.« Alex’ Blick wanderte kurz zu seinem Rucksack. Er bemerkte, dass Charlie es gesehen hatte, und sank noch mehr in sich zusammen.
Charlie nahm den Rucksack. Alex versuchte nicht einmal, ihn aufzuhalten.
Drinnen steckten Hunderte ausgedruckte Flugblätter, die Tim Fletchers einkopierten Kopf auf dem Körper einer Comicfigur mit einem winzigen Schwanz zeigten.
Das Flugblatt war aufgemacht wie ein Konzertplakat, und der Titel lautete: GEPRIESEN
SEI
KÖNIG
KLEINSCHWANZ
.
»Hast du die gemacht?«
Alex zuckte mit den Achseln. »Das war nicht so schwer«, antwortete er sarkastisch.
»Ja, ich weiß. Aber warum
hast du das gemacht?«
Wieder ein Achselzucken. »Der Typ ist ein Arschloch.«
»Die Welt ist voller Arschlöcher. Tim ist schon seit Jahren so, wie er eben ist. Warum hast du das gemacht?« Da kam Charlie ein Gedanke, bei dem ihm schwindlig wurde: der Kuss, der Zusammenstoß mit Tim auf dem Flur. »Hast du das etwa für mich
gemacht?«
»Spiel dich nicht so auf. Die Welt dreht sich nicht um dich allein.«
»Das habe ich auch nicht gesagt«, setzte Charlie an, beließ es aber dabei. »Hast du schon welche aufgehängt?«
Alex schüttelte den Kopf. »Einer seiner Fans hat gesehen, wie ich sie in der Bibliothek ausgedruckt habe.
«
Tollkühn und nachlässig. Vielleicht hatte Kenny doch recht. Vielleicht weihte Alex sie alle dem Untergang.
Alex sagte: »Du hättest das nicht tun müssen.«
»Oh doch«, widersprach Charlie. Aber in seinem Innersten war er alles andere als sicher.
Alex wollte sich trollen, doch Charlie hielt ihn am Arm fest. Alex schnitt eine Grimasse.
»Geht es dir nicht gut?«
»Es ist nichts weiter.«
»Lass mal sehen.«
Charlie zog Alex den Ärmel hoch. Der ganze Unterarm war voller Prellungen, die jedoch schon älter waren.
»Verdammt, was ist das?«
Alex befreite sich mit einem Ruck.
»Haben sie dich schon einmal verprügelt?«
»Nein.« Alex’ Wangen glühten.
»Alex …«
»Wir sehen uns später.«
»Alex.
Heute Abend, ja? Um Mitternacht?«
Alex zuckte mit den Achseln. »Ich hab sowieso nichts weiter vor.«
Charlie ließ ihn los. Gern hätte er ihm nachgerufen: Du bist einer von uns,
aber er wusste nicht, ob es beruhigend oder herablassend klänge. Oder unaufrichtig. Alex wollte am Abend kommen. Das war für den Augenblick genug.
Alex wanderte davon, den Rucksack voller Bosheit über die Schulter geschlungen.
Als er fort war, summte Charlies Telefon in der Hosentasche.
Er betrachtete den Text.
Du hast ein gutes Werk getan, und Gott hat es gesehen.
800 Goldz!