15
Am Anfang
Es begann mit einem leeren Raum. Wie eine Bühne vor der Aufführung.
Ein schwarzer Bildschirm mit leerem Inventarverzeichnis auf der linken Seite. Dazu etwas, das wohl eine Geldbörse sein sollte. Mit 800 Goldz, wie versprochen. Null Blaxx. Ein kleiner Punkt in der Mitte des Bildschirms und der Name Charlie
.
Als er sich setzte und versuchte, die Maus zu bewegen, erschienen vier Linien. Der Umriss eines Raums. Es war eine angedeutete 2D-Landschaft, die er von oben sah. Doch wenn er die Maus bewegte, schälten sich die Einzelheiten des Raums heraus. Hier ein Schreibtisch, dort ein weiterer Tisch. Alles sehr eckig und retro. So ein Spiel programmierte man als Kind in BASIC
.
Im Halbkreis der Terminals in der Mitte des Raumes starrten die Vindicators die Monitore an. Peter war bereits, wie Charlie, im Spiel angelangt und erkundete die Umgebung.
Als Vanhi auf die Einladung klickte, konnte Charlie sehen, was er seitdem verpasst hatte. Die Eidechse hob schläfrig den Kopf und lupfte den Zylinder. Dann verneigte sie sich ein wenig und streckte die andere Hand zum Schlitz zwischen den roten Vorhängen aus.
Sie gingen auf. Die Animation war plump.
Dahinter war es dunkel, das Zelt rückte näher heran, bis der schwarze Spalt zwischen den Vorhängen den ganzen Bildschirm füllte, und schließlich erschien auch Vanhis Avatar, ebenfalls nur ein kleiner Punkt, mitten auf der Fläche. Charlie
war weiter oben auf der linken Seite. Peter bewegte sich rechts oben. Die Möbel und Einzelheiten, die sie schon entdeckt hatten, waren auch für Vanhi sichtbar.
Also spielten sie gemeinsam. Sie mussten im Team arbeiten.
Gut,
dachte Charlie.
Gleich danach erschienen Kenny und Alex. Zu fünft erkundeten sie im Handumdrehen das Spielfeld.
Sie blickten auf die Welt hinunter und legten nach und nach eine Art Grundriss frei, den zweidimensionalen Plan eines großen Bereichs.
»Das mutet an wie ein altes Konsolenspiel«, sagte Peter.
»Ja, wie Pyro 2
.«
»SubSpace Continuum.«
»Klassisch!«
»Oder Bolo
!«, warf Kenny ein.
»Nein, wie Bolo
ist es nicht«, widersprach Vanhi ein wenig herrisch.
»Schnauze.«
»Es scrollt weiter, ich habe eine Tür entdeckt. Jetzt bin ich auf dem Flur.«
Als sie weitergingen, wanderte auch das Spielfeld und lud aus einer unbekannten Datenbank neue Sektoren nach.
»Mann!«, rief Alex. Alle sahen ihn an.
»Was ist?«
»Dreht mal das Mausrad rückwärts.«
Es wurde Charlie fast schwindlig, als das 2D-Spielfeld ruckte und kippte und zu einer 3D-Ansicht wechselte, die jedoch nur aus Linien und leerem Raum bestand.
»Oh, ich weiß, das ist wie Knight Lore
!«
»Little Big Adventure!«
Jetzt war sein kleiner punktförmiger Avatar ein Vieleck wie ein Diamant, unter dem der Name Charlie
schwebte.
Vanhi war eine Kugel.
Peter war ein Kegel
.
Alex war ein Parallelogramm.
Auf einmal lachte Peter.
»Was ist los?«, fragte Alex, der annahm, der Scherz ginge auf seine Kosten.
»Kenny ist ein Klotzkopf.« Peter lachte noch lauter. »Wie treffend.«
»Bin ich nicht«, fauchte Kenny. »Ich meine, ich bin hier ein Quadrat, aber ich bin noch lange kein Klotzkopf.« Er knuffte Peter gegen den Arm. »Außerdem ist das ein altmodisches Wort«, schob er halblaut hinterher.
»Folgt mir, ich laufe den Gang hinunter.«
Sie verteilten sich, die schwarzen und weißen Linien enthüllten nur wenige Schritte vor ihnen die Spielfläche. Stück für Stück baute sich vor ihnen eine neue Welt auf, immer gerade rechtzeitig, damit der Fuß auf etwas Festem und nicht in der Leere landete.
»Ich bekomme Goldz«, berichtete Vanhi nach einem Blick in ihr Inventar. »Je mehr ich aufdecke, desto mehr bekomme ich.«
»Wie viele hast du schon?«
»Fünfundzwanzig. Und es werden mehr.«
»Ich habe zwölf«, sagte Kenny.
»Das liegt daran, dass du keine Ahnung hast«, gab sie zurück.
»Dieses Spiel bringt das Schlimmste in euch zum Vorschein.« Kenny schüttelte den Kopf.
Charlie betrachtete seinen Kontostand. Er hatte mit dem heutigen Kampf bereits 800 Goldz verdient, wollte Alex allerdings nicht in Verlegenheit bringen und es näher erklären müssen. Hoffentlich bemerkte es niemand.
»Warum sind die Blaxx eigentlich die Schlechten?«, fragte Vanhi. »Was ist das für ein rassistischer Dreck?«
»Das ist wahr.« Peter bewegte seinen Avatar in einen neuen Raum. »Goldz sollten schlecht sein. Blaxx sollten die Belohnung sein.
«
»Was für reizende Herzchen ihr doch seid«, sagte Kenny.
»Leute, ich unterbreche eure faszinierende Unterhaltung nur ungern, aber seht euch mal das hier an.« Charlie zeigte auf seinen Bildschirm.
Bei der Erkundung des Raumes war Charlie etwas aufgefallen: im Halbkreis aufgestellte Tische, an der Wand ringsherum weitere Tische. Einzelheiten wie Geräte und Drucker fehlten, aber sie betrachteten einen genauen Plan des Computerlabors.
»Das kann doch nicht sein, das ist unser Raum.« Kenny machte eine ausholende Geste. »Dieser Raum hier.«
»So was sieht man nicht in Bolo
«, erklärte Vanhi.
Sie ließen ihre Figuren durch den Flur in das virtuelle Computerlabor laufen. Während sie es erkundeten, erschienen mehr und mehr Einzelheiten.
Bis etwas Fantastisches passierte.
Wie von einem unsichtbaren Pinsel gemalt, zog ein Streifen »Realität« über ihre Bildschirme und füllte die schwarze Fläche einer Wand mit einer Reihe weißer Zementblöcke – die reale Oberfläche der Wände, die sie umgaben. Und dann sahen sie auch den Grund.
Kenny war aufgestanden, er wirkte gleichermaßen aufgeregt und schockiert. »Ich hätte nicht gedacht, dass es funktioniert.« Er hielt sein Handy hoch. »Ich habe noch mal im Handy die Nachricht aufgerufen und auf den Link geklickt.« Er zeigte es ihnen. »Ich bin im gleichen Spielfeld wie ihr. Aber statt meine Figur auf dem Bildschirm zu bewegen, bin ich im Realraum zu der betreffenden Wand gegangen. Ich habe das Handy gehoben, um die echte und die virtuelle Wand überlappen zu lassen. Und jetzt seht mal her!«
Wieder zog er sein Telefon in einem Halbkreis herum.
Die anderen blickten sofort auf ihre Bildschirme. Tatsächlich, dort erschien abermals ein Streifen der realen Welt, der die Wand weiter ergänzte
.
»Das kann doch nicht sein.« So glücklich hatte Charlie Alex seit Jahren nicht mehr gesehen.
Sie setzten sich in Bewegung und tasteten den Raum ab, indem sie aufgeregt die Handys schwenkten und das Drahtgitternetz der Bildschirmwelt mit den Details der echten Welt füllten. Das Spiel übertrug die realen Oberflächen in die 3D-Polygone auf dem Display. Je mehr Ecken und Blickwinkel dazukamen, desto feiner wurde die Darstellung des Spiels, bis die Polygone gefüllt waren und sich dem Anblick der Wirklichkeit anpassten. Es erinnerte an die Folie einer altmodischen Popcornpackung, die beim Erhitzen zu einer Kuppel heranwuchs.
»Das ist echt krank
«, stellte Vanhi fest. Es war das stärkste Kompliment, das ihr überhaupt zur Verfügung stand. Sie legte Charlie lächelnd und kopfschüttelnd eine Hand auf die Schulter, als sie sich begegneten. »Cool. Das ist megacool.«
Das war es.
Sie sammelten weiter Goldz, ob es nun rassistisch war oder nicht.
»Wie bist du auf die Idee gekommen, das auszuprobieren?«, wollte Peter, sichtlich beeindruckt, von Kenny wissen.
Kenny war auf eine ganz andere Weise brillant als sie, er war der Philosoph unter den Physikern. Genau deshalb war er darauf gekommen.
»Es gibt ein Buch, das ich sehr mag«, erklärte Kenny. »Es heißt Ich bin eine seltsame Schleife
und dreht sich um das Bewusstsein und wie es aus unbelebter Materie entstehen kann. Der Autor spricht da über unendliche Selbstbezüge – wie etwa, wenn man eine Kamera das eigene Bild von einem Bildschirm noch einmal erfassen lässt. Dieser Aufbau hier hat mich an das Buch erinnert.«
Charlie erinnerte sich, dass Kenny ihm das Buch im ersten Jahr geliehen hatte. Er hatte das Gefühl, sein ganzes Leben sei eine einzige Schleife
.
»Wie viele Goldz hast du?«, flüsterte Vanhi ihm ins Ohr.
»Wahrscheinlich ungefähr so viel wie du«, antwortete er ausweichend. »Komm weiter.«
Sie setzten die Erkundung des Raumes fort.
Unterdessen fragte er sich, wie viele Goldz er tatsächlich besaß, und entfernte sich ein Stück von den anderen, um zu seinem Rechner zurückzukehren. Auf dem Bildschirm nahm der Raum Konturen an. Er minimierte die Ansicht und rief sein Inventarverzeichnis auf. Es war leer, aber er hatte jetzt zwölfhundert Goldz. Als er die Zahl anklickte, erschien ein Textfenster:
Du hast 1200 Goldz. Was möchtest du kaufen?
2>>Einführung soziale Kontrolle
Charlie dachte darüber nach. Anonymität war gut im Web, aber verglichen mit sozialer Kontrolle schien das ein wenig introvertiert. Soziale Kontrolle klang ein bisschen faschistisch, und auch das war ihm nicht geheuer. Andererseits fand er es verlockend. Ach was, warum eigentlich nicht? Es war doch nur die »Einführung« in den Faschismus.
Charlie tippte:
Du hast 1200 Goldz. Was möchtest du kaufen?
2>>Einführung soziale Kontrolle
Dann drückte er auf »Enter«.
Einen Augenblick lang geschah gar nichts.
Auf einmal war das Spielfeld wieder da, aber der Blickwinkel hatte sich verändert
.
Er betrachtete eine Reihe von Rechnern.
Der in der Mitte war seiner.
Er betrachtete seinen eigenen Hinterkopf und seinen Bildschirm, und auf dem Bildschirm wiederholte sich das Bild, in der Wiederholung gab es wieder einen kleinen Bildschirm … und so weiter und so weiter … als hätte das Spiel Kennys Erklärung gehört und beschlossen, sich über sie lustig zu machen. Oder, dachte Charlie, den dieser Gedanke ausgesprochen nervös machte, es war ein Zufall. Ganz egal, was Kenny gesagt hatte, wenn man sich einen unendlichen Selbstbezug vorstellte, dann sah er genauso aus wie dies.
Ockhams Rasiermesser. Wir wollen doch nicht verrückt werden.
Doch als er auf den Monitor im Monitor klickte, verwandelte er sich in etwas Einfacheres: ein Schachbrett. Vierundsechzig Quadrate. Zweiunddreißig Figuren, die Hälfte weiß, die Hälfte schwarz. Eine einfache 2D-Grafik.
Das schönste Symbol für den Sieg der Maschine über den Menschen, das Schachbrett. Schach sollte der zeitlose Kampf zwischen menschlichen Geistern sein, aber wie sich herausstellte, war es nur ein mathematisches Problem, das die Schöpfungen viel schneller lösen konnten als die Schöpfer selbst.
Charlie klickte das Schachbrett an.
Es flackerte, und dann …
Auf einmal war der Bildschirm voller Fenster, die so schnell wechselten, dass Charlie die Darstellungen kaum noch erkennen konnte. Nur wenige Dinge blieben hängen – seine Seiten in den sozialen Medien, Profile, Vorschaubilder von ihm selbst, von seinen Freunden und deren Freunden, von deren sozialen Medien. Das ganze weite Netz der ausgetauschten Nachrichten, dazu Kommentare, Pings, Fotos, Fragen, Suchläufe. (War da nicht auch seine Google-Suche nach Mary, die ein Foto von ihr im Bikini zutage gefördert hatte, das er eines Abends, schuldbewusst im Dunkeln und hinter verschlossener Tür, verlegen angeschaut hatte?) Alles war
verschwommen, aber die Anzeige der Daten schien einem bestimmten Rhythmus und einer Gesetzmäßigkeit zu folgen. Es erinnerte an eine Spinne, die von innen nach außen ihr Netz wob. Im Dreieck angeordnete Punkte überdeckten fotografierte Gesichter (wussten Sie, dass man mit 98-prozentiger Sicherheit jedes Gesicht anhand von lediglich drei Punkten erkennen kann?), silberne Fäden verknüpften Freunde von Freunden von Freunden von Freunden, genau wie auf dem klassischen Poster, das vor Geschlechtskrankheiten warnte: Du schläfst nicht nur mit einem Menschen, sondern mit allen, mit denen dein Partner geschlafen hat und mit denen diese geschlafen haben und so weiter – aber warum war es dann so verdammt schwer, die Jungfräulichkeit zu verlieren? Es war hypnotisierend, wie die Spinne die ganze Welt verband, bis die Welt irrelevant wurde und nur noch das Netz zählte.
»Oh Mann«, stöhnte Alex, der auf einmal hinter Charlie stand. Charlie riss sich aus der Trance, drehte sich um und sah auch die anderen.
Alle standen hinter ihm.
»Wie hast du das gemacht?«
»Keine Ahnung«, log Charlie lahm.
Auf dem Bildschirm hatte die Wühlarbeit im Universum von Charlies sozialen Medien aufgehört. Das Schachbrett war wieder da, die zweiunddreißig Figuren füllten den Bildschirm aus.
Aber jetzt hatten sie Gesichter.
Mary war die weiße Königin.
Tim der König.
Kurt Ellers war der Läufer.
Joss Iverson der Springer.
Auf der anderen Seite des Spielfelds standen zum Kampf bereit: Vanhi, Peter, Alex, Kenny – Springer, Läufer und Türme.
Und Charlie als König, ganz in Schwarz.