16
Isometrisch
»Warum darf Charlie der König sein?«, fragte Alex mürrisch.
»Ich weiß nicht«, antwortete Charlie. »Vielleicht, weil ich es als Erster angeklickt habe.«
»Der Versuch mit der Kamera war meine Idee«, warf Kenny gereizt ein.
»Das wird niemand vergessen«, versprach Peter ihm. »Es wird in allen Büchern stehen, die hierüber geschrieben werden. Du wirst schon sehen.«
Kenny ignorierte ihn. »Was soll’s, es ist ja nur ein Spiel.«
»Das ist wahr«, stimmte Charlie zu. Aber tief in seinem Inneren war er doch sehr aufgeregt. Er war der König! Schließlich hatte er damals die Vindicators gegründet. Nicht, dass das heute noch irgendjemandem wichtig gewesen wäre. Jetzt war Peter der strahlende Adonis. Fand er es nun aufregend, der König zu sein und Peter als Läufer an seiner rechten Seite zu wissen? Und ob.
Wie sich herausstellte, spielte das alles aber sowieso keine Rolle.
»Versuch mal, eine Figur zu bewegen«, sagte Kenny.
Charlie klickte seine Figuren an. Nichts rührte sich.
»Vielleicht muss Weiß anfangen.«
»Blödsinn«, widersprach Vanhi.
Vielleicht. Oder Charlie hatte die Geheimnisse und Möglichkeiten der Einführung in die soziale Kontrolle noch nicht ausgelotet. Er verschwieg den anderen den Einkauf, weil er ihn nicht erklären konnte, ohne Alex in Verlegenheit zu bringen .
Im Zweifelsfall wechselte man einfach das Thema.
»Los«, sagte er. »Wir müssen die ganze Schule erfassen.«
Angetrieben von Adrenalin und Ehrfurcht, verbrachten sie die nächsten drei Stunden damit, wie eroberungswütige Barbaren durch die leeren Flure der Turner High zu laufen, die Telefone zu schwenken und auch noch den letzten Feuerlöscher und Trophäenschrank einzufangen.
Es war ein dekadenter Nervenkitzel – die Schule gehörte ihnen! Nach Mitternacht war alles verlassen und still – ihre Schritte und Jubelrufe hallten laut durch die Flure und wurden von den Spinden und Kacheln zurückgeworfen. Tagsüber war die Schule voller Gefahren – ein Meer von Schülern, die einander anrempelten und knufften, lachten, zankten, knutschten und sich stritten – aber jetzt gehörte das ganze Gebäude ihnen allein.
Charlie sprang hoch und schlug gegen das Schild mit der Aufschrift »TIGERS VOR !«, dass es heftig hin und her pendelte.
Er stieß einen Schrei aus und fühlte sich so frei wie seit Jahren nicht mehr. Draußen vor den Fenstern war es pechschwarz und still wie in einer Gruft.
Sie rannten, bis ihnen kein Ort mehr einfiel, zu dem sie rennen konnten.
Auf einmal summte Charlies Telefon.
Auch die anderen Handys schlugen an.
Alle bekamen die gleiche Textnachricht:
Gelände erkundet! Zeit für den nächsten Level!
Und dann ging es los.
Auf ihren Handys wurde das Spielfeld inzwischen als absolut realistische Simulation der Schule dargestellt, alle Oberflächen und Objekte der realen Welt waren vorhanden. Doch dann bemerkte Charlie etwas. Es kroch vom Rand des Bildschirms heran. Eine Art Kräuseln, ausgelöst durch animierte Ranken und Risse, die sich über Wände, Decken und Boden zogen. Die Oberflächen verformten sich und bekamen einen hyperrealen Schimmer wie in einem Spiel. Ranken, die zu einem Schloss im Mittelalter oder einem verwunschenen viktorianischen Landsitz passen mochten, wanden sich durch die Türen und die Flure hinunter, drangen in die Schlitze der Spinde ein und ringelten sich um die Uhr mit den römischen Ziffern. Im Boden und in den Zementblöcken der Wände taten sich virtuelle Spalten auf, die zu dem düsteren Ambiente beitrugen. An den Wänden flackerten Fackeln. Das immer beleuchtete Schild über dem Notausgang glühte am Ende des Flurs in einem dunkleren Rot und pulsierte langsam wie der Eingang einer Vampirhöhle.
Sobald sie die Handys bewegten, sahen sie, wie die Wirklichkeit von der Spielwelt überlagert wurde, die eine alternative Dimension mit Unkraut, Nebel, Eisentoren und glühenden Hieroglyphen darstellte und die Realität der Turner High durch etwas Neues und Besonderes ergänzte.
Peter griff an dem Handy vorbei zu einem Spind. Sie sahen seine Hand auf dem Bildschirm, wie er den Schrank eines Fremden berührte und den Riegel anhob.
Im echten Leben blieb der Spind verschlossen.
Auf dem Bildschirm schwang er auf. Drinnen lag ein kleiner Haufen Goldz.
»Tja.« Peter nickte erfreut. »Das läuft ja gut.«