22
Leviathan
Sie konnten die zweite Phase kaum erwarten.
Als die Sonne aufging, verließen sie ungekämmt und mit roten Augen nach der durchwachten Nacht den Keller und hatten Mühe, während der ersten Stunde wach zu bleiben. Charlie betrachtete die seltsame neue Nachricht von Gott:
Komm zur South Wayland Street 8710.
Komm allein und sag es niemandem, sonst ist es weg.
Soziale Kontrolle – du hast sie dir verdient.
Sag es niemandem, sonst ist es weg.
Warum wollte ihn das Spiel von seinen Freunden trennen?
Er suchte in Google nach der Adresse. Nur eine ebenerdige Geschäftszeile. Nichts weiter.
Als es schellte, wanderten sie nervös, aber begierige Blicke wechselnd, zum Erdkundeunterricht. Nur Vanhi hatte Kunst und kam nicht mit.
Als Kurt Ellers hereinschritt, sich neben Caitlyn Lacey setzte und ihr besitzergreifend eine Hand auf den Po legte, ohne sich umzuschauen, lächelten sie.
Vielleicht lächelte Peter ein wenig breiter als die anderen, weil er wusste, wie gern Caitlyn sich in den entlegenen Feldern hinter dem Meadow Drive mit ihm traf, auch wenn sie ihn bei anderer Gelegenheit ansah, als hätte er den Verstand verloren, nur weil er mit ihr zum Ball gehen wollte. Caitlyn war das genaue Gegenstück zu Mary: ebenso beliebt, aber boshaft, während Mary freundlich war, und grausam, während Mary neugierig und offen war, wenngleich eine Gefangene
.
»Na gut«, sagte Peter leise. »Jetzt geht es los.«
»Nicht den Plan vergessen«, mahnte Charlie.
»Jo.«
Der Unterricht begann, Mrs. Harlingen sprach über die vulkanischen Kräfte, die tief unter der Erde entstanden und das Meer zum Kochen brachten. Kenny dachte an etwas Dunkles und Urtümliches wie den Leviathan, das alte Meeresungeheuer aus der Bibel. Genau wie die Kraft, die sie entfesseln wollten.
Die Lehrerin klickte sich durch die PowerPoint-Folien, die vorne auf dem großen Bildschirm erschienen:
Raucher.
Schwarze Raucher.
Bartwürmer und Napfschnecken – Meeresschnecken, die Zähne auf den Zungen haben.
Heißes Feuer und Tiefseewesen!
Kenny flüsterte: »›Kannst du den Leviathan ziehen mit dem Haken und seine Zunge mit einer Schnur fassen?‹«
Unauffällig tippte Peter unter dem Pult den Code für den Hauch Gottes ins Telefon – eine Fähigkeit, die inzwischen jeder Jugendliche auf der Erde perfekt beherrschte.
Anscheinend schrieb auch Kurt Ellers irgendetwas, denn wenige Sekunden später blickte Caitlyn Lacey auf ihr Handy und kicherte grausam.
Voller Stolz erinnerte Charlie sich daran, wie er Kurts letztes Handy zertrümmert hatte, ehe er das Bild von Alex mit heruntergelassener Hose, dem vor Weinen der Schnodder im Gesicht herablief, an die ganze Welt senden konnte.
Kurt schob das Handy wieder in die Hosentasche.
Peter tippte weiter und blickte rasch auf und ab.
»›Kannst du mit Spießen füllen seine Haut und mit Fischerhaken seinen Kopf?‹«, zitierte Kenny leise.
Peter befolgte gewissenhaft und Zeile für Zeile die Anleitung, die ihnen das Feuer gezeigt hatte
:
x = getPosX()
y = getPosY()
Bald würde es beginnen, und es würde nicht lange dauern.
»›Wer tat die Pforte seines Angesichts auf? Der Kreis seiner Zähne ist ein Schrecken.‹«
size = getOldSize() + 1
»›Sein Niesen strahlt Licht aus, und seine Augen sind gleich den Wimpern der Morgenröte.‹«
def transmit(z):
»›Sein Hauch entzündet Kohlen, und eine Flamme fährt aus seinem Rachen.‹«
sendLocation(x,y,z,size)
Peter schickte nacheinander die Anweisungen ab.
Jetzt mussten sie nur noch auf den richtigen Augenblick warten, um den Code auszuführen.
Sein Finger schwebte über dem Knopf.
Noch einmal zitierte Kenny aus dem Buch Hiob: »›Er sieht allem ins Auge, was hoch ist; er ist König über alle Stolzen.‹«
In diesem Moment spürte Kurt Ellers etwas Warmes in der Hosentasche, ganz in der Nähe seines Schritts. Es war nicht unangenehm, nur seltsam. Wie konnte er wissen, was die unendliche Signalschleife gleich tun würde?
Dann ging es sehr schnell. Der Lithium-Ionen-Akku in Ellers’ Handy überhitzte, und das expandierende Gas baute in dem winzigen metallenen Kästchen einen ungeheuren Druck auf.
Sie hatten einander geschworen, es nur zu tun, wenn Ellers das Handy in der Hand hielt oder auf den Tisch legte. Vielleicht würde er sich erschrecken. Wenn das Timing stimmte, schrie er vielleicht vor der ganzen Klasse auf. Wie auch immer, es würde ihn noch einmal 700 Dollar kosten, das zweite kaputte Handy binnen zwei Tagen. Das war Gerechtigkeit. Er hätte Schlimmeres verdient, aber sie wollten sich nicht auf seine Ebene herablassen
.
Nur lag das Telefon nicht auf dem Pult. Es steckte in seiner Tasche.
Die chemische Reaktion war schnell und heftig. Kurt Ellers’ Hose fing Feuer. Er sprang hoch, alle drehten sich um und sahen, wie er hektisch hüpfte, stürzte, aufschrie und sich hin und her rollte, um die Flammen zu ersticken. Die Schüler rissen die Augen weit auf. Einige schoben ihre Tische zurück, einige schrien auch. Zwei hoben die Handys und filmten alles.
Mrs. Harlingen schnappte sich den Feuerlöscher von der Wand und lief zu Ellers, doch die kleinen Flammen waren bereits erstickt. Sie bemerkte es nicht, sondern deckte ihn mit weißem Schaum ein.
Er stand auf.
Eine seltsame Ruhe legte sich über den Raum.
Er sah sich mit seinen gemeinen Augen um.
Er war verletzt, aber es war nicht schlimm. Es hätte viel schlimmer kommen können. Ein versengtes Loch in der Hose, durch das man seinen Oberschenkel und den verkohlten Rand der gepunkteten Boxershorts sehen konnte. Die Haut war gerötet, aber nicht verletzt. Er zuckte vor Schmerzen zusammen und beherrschte sich. Doch als die Scham wuchs, lief er rot an.
Die Schüler lachten. Nicht alle stimmten ein. Nicht einmal die meisten. Aber es waren genug, die ihn da stehen sahen, mit Schaum bedeckt und dem versengten Loch in der Hose. Vielleicht erinnerten sie sich an die verschiedenen Grausamkeiten, mit denen er andere bedacht hatte. Nicht nur Alex, sondern Dutzende andere. Er hatte sie gegen Spinde geschleudert, sie Schwuchteln und Loser genannt. Begonnen hatte es schon auf der Grundschule.
Einige lachten nervös, während andere schwiegen, bis Mrs. Harlingen einen so grimmigen Blick durch das Klassenzimmer wandern ließ, dass alle auf der Stelle verstummten.
Sie half ihm zur Tür. Es war ein komischer Anblick, wie dieser riesige Lineman humpelnd einen Arm um Mrs. Harlingen legte, die Frau mit den hässlichen Pullovern und der Frisur aus den Achtzigern.
Sie stützte ihn bis zur Tür, als wäre er der zarteste Schüler auf der Welt, und ihr letzter vorwurfsvoller Blick sagte den anderen: Keiner rührt sich.
Dann bugsierte sie ihn weiter zum Sprechzimmer der Schulkrankenschwester.