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Das Auge Gottes
Peter dachte über Macht nach.
Sein Dad hatte niemals Macht besessen. Er hatte sich als erfolgloser Verkäufer fünf Jahre lang mit einem Halbtagsjob über Wasser gehalten, um Jura zu studieren. Seine Hochschule verlieh keine allgemein anerkannten Abschlüsse. Die feinen Anwaltskanzleien wollten nichts von ihm wissen. Deshalb verlegte er sich darauf, Firmen zu verklagen und zu erpressen. Darin war er wirklich gut. Er verdiente einen Haufen Geld, verlor alles wieder und verdiente einen neuen Haufen Geld.
Peters Mom war eine tiefreligiöse, eigenartige Frau, die immer dachte, sie hätte etwas Besseres verdient. Sie war mit Dads Vorgesetztem durchgebrannt, während sein Vater noch als Verkäufer gearbeitet hatte, was Peter und seinen Vater sehr gedemütigt hatte.
Früher war Peter ein dicker Junge gewesen, ein linkischer Strebertyp, was er aber niemandem verriet. Damals hatten sie noch in Arizona gelebt, und die anderen Kinder hatten ihn erbarmungslos gehänselt. Oft war er mit blutiger Nase und aufgeschürften Händen nach Hause gekommen, weil die anderen Kinder ihn zu Boden gestoßen hatten. Er schmeckte heute noch den Kies im Mund. Als seine Mom sie im Stich ließ und Peter und sein Dad als Loser dastanden, hatte sein Dad beschlossen, ein neues Leben zu beginnen. Er meldete sich auf seiner miesen Hochschule für die juristischen Abendkurse an. Seinem Sohn trug er auf, bis zum zehnten Geburtstag zwanzig Pfund abzunehmen, oder er würde all seine Spielsachen verkaufen. In Peters Zimmer hängte er sogar ein Schild an die Wand, auf dem das Wort »FETT « stand. Sein Dad war zu der Ansicht gelangt, ihre Schwierigkeiten seien Symptome ein und desselben Problems: Die Welt war grausam, also musste man in sich hineingreifen und den Loser herausreißen, sonst ging man unter. Das lernte man am besten so früh wie möglich.
Als sie nach Texas umzogen, war Peter schlank und sein Dad reich. Die Mädchen fanden Peter geheimnisvoll und bezaubernd. Sein Dad erfand eine neue Hintergrundgeschichte: eine tote Ehefrau, ein schon immer schlanker Junge und schon immer ein Leben im Reichtum.
Es war anstrengend, allen Leuten vorzugaukeln, nichts könnte einen erschüttern.
Peter verstand sich immer noch darauf, nur eine halbe Portion zu nehmen und das Essen auf dem Teller umherzuschieben, damit es niemand bemerkte.
Die Leute dachten, er hätte sich entschieden, sich nicht auf die anderen einzulassen, aber die Wahrheit war, dass er es gar nicht konnte.
Sogar Caitlyn, Mary Clarks dunkles Gegenstück, fand Peter interessant. Deshalb verabredete sie sich heimlich mit ihm, während sie offiziell mit Kurt Ellers zusammen war.
Doch was Peter jetzt sah, schmerzte ihn mehr, als er jemals zugegeben hätte.
Er war auf dem Embankment und hatte das Mittagessen ausgelassen, um tiefer ins Spiel einzudringen. Eigentlich wollte er sich mit Charlie treffen, doch der war verstimmt weggelaufen und hatte wohl sogar das Schulgelände verlassen. Charlie und Vanhi glaubten ihm nicht, dass er Kurts Telefon nicht in dessen Hosentasche in die Luft gejagt hatte. Wie konnte er ihnen vorwerfen, dass sie misstrauisch waren, wenn sein ganzes Leben eine einzige Lüge war? Nun ja, er hatte sich die Lügen nicht ausgedacht, aber er lebte schon so lange mit ihnen, dass er sich nichts anderes mehr vorstellen konnte.
Er klickte auf sein Inventar. Mit seinen Goldz hatte er etwas gekauft, das sich »Das Auge Gottes« nannte. Es war nur die erste Stufe, er konnte lediglich Textnachrichten sehen, aber trotzdem, so hatte er es sich vorgestellt. Es war sicher lustig zu verfolgen, was die anderen einander schrieben. Als er jetzt die abgefangenen Nachrichten betrachtete, war er nicht mehr ganz so sicher.
Früher an diesem Tag hatte Caitlyn ihn gebeten, sie in einem leeren, dunklen Klassenraum zu treffen. Sie hatte ihn gegen einen Tisch gedrückt und eine Hand unter sein Hemd geschoben. Wenn Mary Sonnenschein und Rosen war, dann war Caitlyn Arsen und Quitte. Peter mochte ihre Härte, wie sie sich immer genau das nahm, was sie brauchte, auch wenn sie dafür Kurt hintergehen und Peter verstecken musste, was ihm wehtat. Was er nicht wusste, war, dass Caitlyn schon früh gelernt hatte, sich in der Welt zu behaupten. Mit zwölf hatte sie im Baumarkt ein Schloss gekauft und damit die Schlafzimmertür gesichert. Manchmal lebten die bösen Menschen im eigenen Haus.
»Magst du das?«, flüsterte sie jetzt und biss ihn ins Ohr.
Er schob sie sanft weg, immer distanziert, immer über den Dingen stehend.
Dann zuckte er mit den Achseln und lächelte leicht.
Reine Verstellung. Aber gekonnt.
»Willst du Sex in der Schule haben?«, fragte er.
»Komm schon, das macht Spaß.«
»Ich bin müde.«
»Das werde ich dir schon austreiben.« Sie griff nach seinem Gürtel.
Er war es leid, benutzt zu werden, und hielt sie auf. »Ich habe gestern bei dir vorbeigeschaut, aber du warst nicht da. Warst du bei ihm? «
In Wirklichkeit war sie bei Careloft gewesen, wo sie einmal in der Woche ehrenamtlich aushalf. Niemand wusste davon. Es war Marys Ding, die gute Seele zu spielen. Das kam für Caitlyn nicht infrage. Wenn irgendjemand erfuhr, was sie jeden Dienstag tat, würden alle nur denken, sie äffte das überlegene Sozialverhalten ihrer Freundin nach. Inzwischen arbeitete sie dort seit drei Jahren und hatte gelernt, auf die Menschen einzugehen, die ums nackte Überleben kämpften. Dabei fühlte sie sich heil und ganz. Doch es passte überhaupt nicht zu ihr, weil sie das Miststück war. Das wussten alle, darauf baute ihr Ruf auf, und man konnte binnen Sekunden seinen Status verlieren. Man konnte förmlich von der Bildfläche verschwinden. Also sagte sie: »Ja, ich war bei ihm. Und?«
Peter schüttelte den Kopf und sagte nichts. Er wollte sich mit dem begnügen, was er bekam. Er streichelte ihre Wange.
Doch nun war es an ihr, ihn zu unterbrechen. »Was du heute gemacht hast, darf nicht noch einmal passieren.«
»Was?« Er lächelte. Es gefiel ihm, dass sie es wusste.
»Nicht, wenn du mich jemals wiedersehen willst.«
»Hast du Angst, ich könnte deinem Freund wehtun?«
»Ich habe Angst, du lässt uns auffliegen.«
»Wäre das denn so schlimm?«
»Oh Peter«, flüsterte sie und küsste seinen Hals. Draußen ging jemand vorbei, sie hielten inne. Doch die Tür blieb geschlossen. Die Schritte verhallten. Sie legte ihm die Lippen ans Ohr. »Wer, wenn nicht ein Hacker, wüsste, dass man manche Dinge besser im Dunklen lässt?«
Daran dachte er jetzt, als er Mary und Caitlyn in Echtzeit beim Tippen zusah:
Er ist wirklich nett
Genau wie Mutter Teresa, aber die würde ich auch nicht vögeln
Ich mag ihn wirklic h
Dann tu es doch
Ich habe Angst. Was macht er dann?
Wer, T?
Schon gut. Und du?
Peter?
Ja
Keine Ahnung
Ich dachte du magst ihn
So nebenbei ist er nett, aber K ist beliebt
Und?
Es wäre übel, wenn mir K jetzt durch die Finger rutscht, wo ich schon so weit gekommen bin
Peter las den Austausch noch einmal. Und noch mal und ein weiteres Mal. Jedes Mal setzte es ihm mehr zu. Caitlyn hatte ihm gesagt, sie hätte eine Affäre mit ihm, weil er ihr mehr Spaß machte. In Wirklichkeit betrog sie Kurt mit ihm, weil er ein Loser war. Genau wie sein Dad – alles Geld der Welt, aber der alte Geldadel nahm ihn nicht in seine Kreise auf. Ein riesiges Haus in der Pampa, aber trotzdem ein König ohne Land.
Er würde niemandem anvertrauen, wie sehr ihn das verletzte. Diese Lektion hatte er schon vor langer Zeit gelernt. Der dicke Junge wird zum geheimnisvollen Fremden. Lass niemanden an dich heran, dann sieht auch niemand den dicken Jungen, der noch in dir steckt.
Aber die letzte Bemerkung machte ihn neugierig. Was hatte das zu bedeuten?
Er musste es herausfinden.
Mary saß in der psychiatrischen Praxis.
Wenn es nach ihrer Mutter ging, war mit Mary alles in Ordnung, also existierten diese Termine überhaupt nicht.
Ihre Mutter hatte ihr sogar verboten, sie wahrzunehmen, als Mary darum gebeten hatte. Deshalb hatte sie sich jemanden gesucht, den sie selbst bezahlen konnte. Das nötige Geld verdiente sie mit einem Bürojob, von dem niemand wusste, weil auch das viel zu peinlich wäre. Die Clark-Frauen arbeiteten nicht, weil sie es nicht mussten.
Dr. Rocardi hatte ihre kleine Praxis mit Diplomen und Nippes aus aller Welt dekoriert: Winkekatzen und lächelnde Totems. Die Ärztin rollte auf ihrem Stuhl nach vorne, während Mary zwischen viel zu vielen Meditationskissen kerzengerade auf dem Polstersofa saß.
»Er hätte heute Geburtstag«, sagte Dr. Rocardi. Es war keine Frage und keine Aussage, sondern irgendetwas dazwischen.
»Richtig.«
»Wie alt wäre er jetzt?«
»Zwanzig.«
»Wie fühlen Sie sich?«
»Geht so.« Mary versuchte, ruhig und gleichmütig zu antworten. Es gelang ihr nicht. Ihre Stimme klang angespannt und gepresst. Sie fragte sich, ob Dr. Rocardi es merkte.
»Wie kommen Sie mit dem Venlafaxin zurecht?«
»Ich mag es nicht. Ich fühle mich komisch.«
»In welcher Hinsicht?«
»Aufgekratzt. Nervös.«
»Das kann passieren. Hellt es denn Ihre Stimmung auf?«
»Nein.« Mary gab sich Mühe, ehrlich zu antworten, ohne sich selbst zu bemitleiden. »Ich bin ziemlich traurig.«
»Genau wie vorher?«
Sie nickte. »Vielleicht noch schlimmer, weil … es ist die Jahreszeit. Aber im Grunde genauso.«
Dr. Rocardi beugte sich vor. »Sagen Sie mir den Grund. Gibt es da noch mehr?«
Da war es. Mary staunte, wie Dr. Rocardi es immer genau spürte, wenn sie etwas zurückhielt. So verhielt sich die ganze Familie – immer hielten sie etwas zurück. Alle litten, niemand hinterfragte es. In dieser Starre konnte man sein ganzes Leben verbringen. Nicht so die Therapeutin. Sie war gut in ihrem Job. Sie hob die Steine hoch und schaute darunter.
Mary dachte an ihren Bruder. Das Wunschkind, der Held der Schule, der Kapitän des Footballteams, Aussicht auf eine Karriere beim Militär. Er war Tim, bevor Tim zu Tim wurde. Aber Tim war kleinkariert und gemein, während Brian großmütig und freundlich gewesen war. Seine Beliebtheit war eine Bürde, die er mit Anmut zu tragen gewusst hatte.
Brian war fort, und Tim war das Nächstbeste, wonach sie greifen konnte. Und Tim wusste es. Er wusste das, was Dr. Rocardi hören wollte. Was unter dem Stein verborgen war.
Dr. Rocardi wartete darauf, dass Mary etwas sagte. Die Zeit dehnte sich, bis sie zu zerreißen schien.
Sie wollte irgendetwas sagen.
»Nein«, antwortete sie schließlich.
Dr. Rocardi nickte und rollte mit dem Stuhl ein wenig zurück. »Wir schleichen uns aus dem Venlafaxin heraus. Sie können es nicht auf einen Schlag absetzen. Aber wir können behutsam zu einem anderen Mittel wechseln, das Sie vielleicht besser vertragen.«
»Gut.« Mary hatte das Gefühl, sie müsste weinen, und sträubte sich dagegen.
Sie würde später in der Schule weinen, auf der Toilette, auf dem Weg zur fünften Stunde, kurz bevor Tim sie abfing. Aus langer Erfahrung wusste sie, in welchen Toiletten sie am besten allein weinen konnte, außer Sicht, wenn sie die Tränen trotz aller Bemühungen einfach nicht mehr zurückhalten konnte.