27
Verfolgt
Triumphierend marschierte Charlie nach Neiman Marcus hinein. Das war nach der heruntergekommenen Geschäftsmeile ein anderes Universum.
Er suchte die Frau, die am Vortag skeptisch die Augenbrauen hochgezogen hatte. Sie war nicht da, und eine viel freundlichere Dame mit einem indigofarbenen Halstuch freute sich, weil sie ihm den Armreif für 900 Dollar verkaufen konnte. Auf die Genugtuung, der gemeinen Dame zu zeigen, wie sehr sie sich in ihm geirrt hatte, musste er verzichten, doch immerhin hatte er eine fast exakte Kopie des Armbands erstanden, das Mary Clark neuerdings an ihrem anmutigen Handgelenk trug. Das gleiche Rotgold, der gleiche zierliche Verschluss. Auf irgendeiner Ebene begriff er, wie verrückt es war, ihr den Armreif zu schenken, den sie sowieso schon besaß, doch er wusste, warum er es tat. Warum das Spiel es vorgeschlagen hatte. Er konnte es kaum erwarten, sie zu treffen.
Charlie zückte sein Telefon und schrieb ihr eine Nachricht.
Ich muss dich sehen.
Die Antwort kam recht schnell.
Jetzt nicht. Tim ist da.
Charlie schnitt eine Grimasse. Er fühlte sich aber nicht wie der unwichtige Nebenbuhler. Ihre Nachricht klang für ihn ängstlich: Vorsicht, er passt auf.
Ganz sicher konnte er natürlich nicht sein. Ohne die menschliche Stimme konnte man eine Textnachricht leicht missverstehen. Tippte sie vom Bett aus mit offenem Kleid? Oder hinter verschlossener Tür aus dem Wandschrank?
Alles in Ordnung?
Ja. 18 Uhr See o. k.?
Da wurde Charlie leicht ums Herz. Aber warum versteckte sie ihn im Wald? Er empfand eine Mischung aus Hoffnung und Scham. Er entschied sich für die Hoffnung und tippte:
O. k.
Falls es ihn beobachtete, dann hoffte er, das Spiel sei stolz auf ihn. Er hatte das Geld genommen und den goldenen Armreif gekauft, um Tims Fesseln zu ersetzen und Mary zu befreien. Er würde ihn der Prinzessin schenken. Er würde das Untier erschlagen, den dunklen Prinzen. Das Wortspiel aus dem neuronalen Netz, den witzigen Hinweis, hatte er ganz genau verstanden. Armreif – Kreis – Ring. Ein Ring, sie zu knechten.
Und dann sollte er der König werden?
Nein, das war ihm nicht wichtig.
Oder?
Charlie verließ den Juwelierladen und betrat die gut besuchte Mall. Es war schön, anonym zu sein und sich frei im Gedränge der Kunden zu bewegen.
Da summte sein Handy wieder, aber es war nicht Mary.
Als er es mit seinem Daumenabdruck entsperrte, zeigte es ihm etwas, das er nicht angefordert hatte. Es war eine Übersichtskarte des Einkaufszentrums. Er sah sich selbst als kleinen pulsierenden blauen Punkt in der Mitte des Bildschirms. Die Geschäfte ringsum waren links und rechts neben den Gängen als hellbraune Kästchen dargestellt. Dann erschien ein roter Punkt, was er in dieser Form noch nicht bei Google Maps gesehen hatte. Der rote Punkt bewegte sich auf ihn zu.
Charlie wusste nicht, was dies zu bedeuten hatte. Aber irgendein uralter Instinkt sagte ihm: Blau gut, rot schlecht. Wenn ein roter Punkt auf dich zukommt, solltest du in Bewegung bleiben .
Rot war schließlich auch die Farbe aller bösen Lichtschwerter.
Er ging weiter, der rote Punkt folgte ihm.
Ich habe getan, was das Spiel wollte, dachte Charlie. Warum verfolgt mich jetzt jemand?
Charlie lief an Wetzel’s Pretzels vorbei und beobachtete den Punkt, der immer im gleichen Abstand hinter ihm blieb. Als er vor Sbarro innehielt, zögerte auch der rote Punkt hinter ihm. Sobald er weiterging, folgte ihm der rote Punkt einige Sekunden später.
Ist das eine Strafe?, überlegte Charlie. Habe ich eine falsche Entscheidung getroffen?
Er dachte an die Blaxx, die bedrohlichen Strafpunkte. Hatte er sie sich irgendwie verdient?
Er sah sich um, entdeckte aber nichts außer dem üblichen abendlichen Gedränge im Einkaufszentrum. Leute in guter Kleidung, die nach der Arbeit einkauften, Familien mit Kinderwagen, Powerwalker mit Juicy-Sweatshirts, gelangweilte Angestellte, die auf den Feierabend warteten. Der rote Punkt fiel etwas zurück. Charlie konnte nicht erkennen, wer es war.
Er ging weiter.
Hätte ich das Geld nicht nehmen sollen?
Hätte ich den Armreif nicht kaufen sollen?
Bei Macy’s bog er scharf rechts ab, ging an den Lebensmittelgeschäften und am Kino vorbei. Poster warben für einen Horrorfilm über einen Serienkiller, der einer tauben Frau auf den Fersen war, einen Zeichentrickfilm für die ganze Familie über elfenähnliche Wesen, die »Hoppers« hießen, und einen Film über Rache mit Mark Wahlberg.
Der rote Punkt folgte ihm.
Vielleicht habe ich mich richtig entschieden, dachte er.
Vielleicht ist es eine Belohnung. Eine Warnung, dass jemand kommt.
Andererseits: Wer kann das nur sein? Ein Wachmann?
Er sah sich über die Schulter um .
Da war kein Wachmann.
Ein Vindicator, der gegen mich spielt?
(Nein – wir sind ein Team.)
Er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken.
Ist der Punkt überhaupt real?
Die Entfernung war noch recht groß. Charlie hielt an, hob das Handy und scannte die Menge hinter ihm durch den Bildschirm. Auch damit fand er nichts Neues.
Als er beschloss, quer durch Macy’s zu laufen, erschien aus genau dieser Richtung ein weiterer roter Punkt und schnitt ihm den Weg ab. Die beiden Punkte kamen gleichzeitig aus entgegengesetzten Richtungen auf ihn zu. Jetzt bewegten sie sich sogar weiter, wenn er stehen blieb.
An einer Kreuzung bog Charlie nach links ab. Sollten die beiden Roten doch gegeneinanderprallen, während er seitlich auswich. Er kam an der Erntedankdekoration von Pottery Barn vorbei. Die roten Punkte waren jetzt zusammen und folgten ihm durch den Seitengang. Inzwischen war noch ein weiterer erschienen, der sich ihm von der anderen Seite des Bildschirms aus näherte.
Wer sind diese Leute?
Sein Ausweichmanöver hatte ihn in einen weniger belebten Flur des Einkaufszentrums geführt, wo einige billige Geschäfte angesiedelt waren – ein Laden für herabgesetzte Tonträger und Filme namens »Entertainz«, ein Spencer’s Gifts für allerlei Geschenkartikel, ein billiger »Skater«-Laden für Poser, die Shorts suchten.
Da fiel ihm ein, dass er einen 900 Dollar teuren Armreif in der Hosentasche hatte. In diesem Teil der Mall wollte er sich nicht am Treffpunkt von drei roten Punkten befinden. Hier war es fast menschenleer. Die wenigen Jugendlichen sahen aus, als würden sie sich eher an einem Raubüberfall beteiligen, als ihn zu verhindern. Es roch stark nach Haschisch, und aus einem Kopfhörer in der Nähe dröhnten so laute Rhythmen, dass er es noch mehrere Schritte entfernt hören konnte. Die Jugendlichen starrten alle ihre Handys an und tippten. Niemand schien sich um ihn zu kümmern.
Charlie beschloss, ins Zentrum des Gebäudes zurückzukehren, wo mehr Kunden unterwegs waren.
Die roten Punkte auf der Karte kamen näher und verschwanden auf einmal.
Er zog das Handy hin und her und zoomte heraus.
Nichts.
Die Karte war noch da, und er war als blauer Punkt im Zentrum zu erkennen.
Die roten Punkte waren schon sehr nahe gewesen, als sie verschwunden waren.
Sein Zeitgefühl sagte ihm, dass sie ihn jeden Moment erreichen mussten, wenn sie sich mit gleichbleibender Geschwindigkeit bewegten.
Charlie ging weiter. Er sah nach vorn und hinter sich und versuchte, in der Menge jemanden zu finden, der im Einkaufszentrum einem Jugendlichen auflauern mochte. Als die Menschen vorbeiströmten, beobachtete er sie wieder durch das Handy. Eine Frau mit einem Kinderwagen rempelte ihn fast an, als sie an ihm vorbeiging. Das Kind starrte ihn an. Im Telefon hatte es rote Augen.
Eilig ging er weiter und suchte den Ausgang zum Parkhaus. Er hatte keine Zeit, über das Dämonenbaby im Handy zu staunen. Der Ausgang war noch zehn Meter entfernt. Er sah sich durch das Handy um. Einen Moment lang war ein Kopf in der Menge höher als alle anderen, und er sah anders aus. Es war ein Minotaurus mit Augen wie Blutorangen, einem Ring in der Nase, Schaum vor dem Maul und Haaren auf dem Kopf. Der Stierkopf mit den Hörnern wippte im Takt zu den Schritten eines realen Menschen auf und ab.
Jemand rempelte Charlie von vorne an, oder er war gegen den Betreffenden geprallt, der ihm sagte, er solle doch aufpassen. Er gab irgendetwas über dumme Kinder von sich. Charlie entschied sich für eine gemurmelte Entschuldigung und sah sich um. Da er das Telefon hatte sinken lassen, konnte er jedoch nicht mehr erkennen, wer der Stiermann war oder ob er überhaupt noch näher kam.
Charlie erreichte den Ausgang und schöpfte neue Hoffnung.
Vielleicht ist das gar keine Strafe oder Belohnung.
Vielleicht ist es nur ein Test, ein Hindernis, das der Held überwinden muss.
Er ging zu seinem Auto. Der zweite Stock des Parkhauses war verlassen. Er blickte zurück und sah niemanden, der ihm folgte, keinen Stiermann, keinen Zentauren und keinen geflügelten Ikarus. Am Auto angelangt, fummelte er mit den Schlüsseln herum, bis er endlich den richtigen ins Schloss schieben konnte. War er wirklich der letzte Mensch auf der Erde, der für sein Auto noch einen richtigen Schlüssel benutzte? Auf einmal schoss unter dem Wagen eine Hand hervor, genau wie in den Geschichten alter Frauen über die Gefahren der Parkhäuser, die in den Vororten aufgeregt weitergetragen wurden.
Jemand hatte ihn völlig überrumpelt und fest am Fußgelenk gepackt. Er taumelte, stürzte zurück und prallte gegen das Auto hinter ihm. Die Hand zog kräftig, der Angreifer wollte ihn unter das Auto zerren. Charlie konnte sich losreißen und kam wieder auf die Beine. Als die Hand ihn erneut packen wollte, trat er mit dem anderen Fuß, so fest er konnte, auf das Handgelenk des Angreifers. Es knackte hässlich, unter dem Auto heulte jemand auf, die Finger erschlafften und wurden zurückgezogen. Charlie griff nach seinen Schlüsseln, während er hörte, wie der Angreifer unter dem Auto hindurch auf die andere Seite rutschte und um den Wagen herumkam. Endlich war die Tür offen. Er sprang hinein, schlug die Tür zu und verriegelte das Auto von innen. Dann ließ er es an und tastete mit der freien Hand nach der kleinen Schachtel mit dem Armband in der Hosentasche. Er holte tief Luft und machte, dass er wegkam.
Das war kein Wachmann.
Das war auch kein Vindicator.
Verdammt, wer spielt denn sonst noch dieses Spiel?
Und warum haben sie es auf mich abgesehen?
»Ich habe dir doch gesagt, dass noch andere Leute spielen«, erklärte Peter ruhig. Er lag im Embankment auf dem Rücken im Gras. »Ich chatte mit ihnen. So bin ich doch erst auf das Spiel aufmerksam geworden.«
»Ich dachte, sie sind in Japan. Oder in Deutschland oder in der Ukraine, aber nicht hier.«
»Charlie, ich habe keine Ahnung. Alle sind anonym. Es gibt Milliarden Menschen auf der Erde, die Online-Spiele spielen. Ein paar davon sind sicher auch hier in der Nähe.«
»Aber ich dachte, das ist ein Untergrund-Spiel.«
»Ist es auch!« Peter seufzte, als müsste er einem beschränkten Zuhörer etwas Schwieriges erklären. »Ich glaube, du hast keine Vorstellung von den Ausmaßen der verteilten Netzwerke.«
»Was meinst du damit?«
»Ich rede über die nackten Zahlen. Weißt du, wie wahrscheinlich es ist, vom Blitz getroffen zu werden? Das ist sehr unwahrscheinlich, oder? Eins zu dreihunderttausend. Sagen wir, die Wahrscheinlichkeit, das Gottspiel zu finden, ist hundertmal geringer. Das sind trotzdem noch zwanzig Leute im Umkreis einer Autostunde von hier. Ganz zu schweigen von den Leuten, die das Spiel nicht spielen, aber trotzdem dazu manipuliert werden, irgendetwas zu tun.«
»Wie sollte das möglich sein?«
»Erpressung. Fake News. Sozialtechniken.«
»Jesus, wo hast du uns da hineingezogen?«
Peter grinste. »Worauf haben wir uns da bloß eingelassen? «
Charlie warf resigniert die Hände hoch. Peter hatte recht, er konnte es nicht abstreiten.
»Ich habe im Handy vor der Einkaufsmeile noch andere Leute gesehen. Sie hatten weiße Masken. Kapuzen. Sie kamen mir satanistisch vor.«
»Beobachter.«
»Was?«
»Spieler auf dem nächsten Level. Mach dir ihretwegen keine Sorgen.«
»Sag mir nicht, worüber ich mir Sorgen machen soll.«
»Hör mal«, lenkte Peter ein. »Ich verstehe es ja, du bist aufgewühlt.«
»Ich habe dem Burschen richtig wehgetan.«
»Ja, aber er hat dich angegriffen.«
»Vielleicht. Oder er war nur ein armes Schwein, genau wie wir.«
»Oder es war ein Gauner, der das Einkaufszentrum abgegrast hat, und das Spiel hat ihm einen Tipp gegeben, dass ein Trottel mit einem tausend Dollar teuren Armband in der Tasche vorbeikommt.«
»Das gefällt mir nicht. Ich will anderen Leuten nicht wehtun.«
»Das will ich natürlich auch nicht. Es war sicher nur ein dummer Zufall. Eigentlich liegt das sogar auf der Hand. Entschuldige die Wortwahl. Ich will damit nur sagen, dass man sich auch beim Basketball das Handgelenk brechen kann. Du solltest nicht einfach unterstellen, dass das Spiel böse ist.«
»Ein dummer Zufall? Genau wie das Handy, das zu früh ausgelöst hat?«
»Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich es nicht war.«
»Ich weiß. Aber wenn du es nicht warst, dann war es das Spiel.« Charlie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, was es von uns will. Welches Ziel verfolgt es damit? Was bedeutet es überhaupt zu gewinnen? «
»Ich weiß, aber es macht doch Spaß, oder?« Peter zwinkerte ihm zu. »Gottes Wege sind unergründlich.«
Auf dem Flur begegnete Charlie Mr. B., der ihn in sein Klassenzimmer winkte.
»Ich habe dich schon gesucht.« Mr. B. schloss die Tür. »Das bleibt jetzt unter uns, ja? Ehrlich, sie könnten mich dafür feuern.« Er schien sehr selbstzufrieden. Charlie war nach dem Erlebnis im Einkaufszentrum immer noch erschüttert, und hier fühlte sich alles viel zu normal an. Geradezu irreal. »Du musst es mir versprechen, ja?«
»Na gut.« Charlie wartete auf das kündigungsreife Vergehen.
»Also …« Mr. B. sperrte eine Schublade in seinem Pult auf und zog einige Papiere heraus. »Ich dachte, der Anfang fällt dir schwer. Es ist gewissermaßen nicht leicht, wieder aufs Pferd zu steigen. Deshalb habe ich es mal mit denen hier probiert.« Er breitete sie auf dem Schreibtisch aus. »Das ist nichts Besonderes, und es sind nur fünf. Heutzutage gewinnt man vermutlich, indem man auf Facebook die genaue Zielgruppe anspricht oder so. Mir ist bewusst, dass dies ein wenig altmodisch ist. Außerdem bin ich nicht sehr gut darin. Aber …« Er legte die Hand auf eines der fünf Plakate.
Sie waren schlicht und einfach gehalten. STIMMT FÜR CHARLIE LAKE . CHARLIE LAKE MUSS VORSITZENDER WERDEN . Und dann das Schlimmste: CHARLIEDER RICHTIGE FÜR TURNER !
Sie waren, um eine Redewendung des Lehrers aufzugreifen, ausgesprochen lahm.
»Das ist nur eine symbolische Geste. Es müssen auch nicht diese Plakate hier sein. Aber ich will, dass du irgendetwas aufhängst. Bis morgen. Sonst ist unsere Abmachung hinfällig.«
Charlie wollte fluchen. Er wusste die Geste zu schätzen, aber er konnte die Plakate direkt vor Burklanders Augen verbrennen, und die Abmachung wäre wahrscheinlich trotzdem nicht erledigt. Burklander war möglicherweise der einzige Mensch auf der Erde, der immer noch vorbehaltlos auf Charlies Seite stand. Sogar sein eigener Vater hatte ihn aufgegeben und beschlossen, ihr schrumpfendes Vermögen für ein bescheuertes Restaurant statt für Charlie auszugeben. Anscheinend war das die bessere Investition. Nur, dass Burklander es nicht einsah. Charlie wusste nicht, ob er den Lehrer umarmen oder einen Dummkopf schelten sollte.
Charlie rieb sich die Augen. Nach dem nächtlichen Einsatz und den Erlebnissen im Einkaufszentrum war er müde.
»Geht es dir nicht gut?«
»Alles klar, ich bin nur müde. Bin spät ins Bett gekommen.«
»Schläfst du nicht gut?«
»Ja, kann man so sagen.«
Mr. B. nickte, als wüsste er Bescheid. Charlie fragte sich, auf wessen Sofa Mr. B. geschlafen hatte, nachdem ihn seine Frau hinausgeworfen hatte. Er war trotzdem jeden Tag frisch geduscht zur Arbeit gekommen, um ein völlig unbegründetes Vertrauen in seine Schüler zu setzen.
Charlie nahm die Plakate und versprach, sie aufzuhängen. Er war zu müde, um sich zu sträuben.
Als er fast an der Tür war, hielt Burklander ihn noch einmal auf. »Hast du gehört, was Kurt Ellers passiert ist?«
Charlie erschrak. Er bemühte sich, äußerlich ruhig zu bleiben.
»Ja …«
»Es gibt wohl doch noch so etwas wie Gerechtigkeit auf der Welt«, erklärte Mr. B. lächelnd. »Sag ja niemandem, dass ich das gesagt habe. Wahrscheinlich könnten sie mich auch dafür feuern.«
Alex starrte sein Ebenbild im Spiegel an.
Er wollte tun, was das Spiel verlangte. Und fünfzigtausend Goldz waren ein Vermögen. Das war in der Kryptowährung viel Geld, und was er damit kaufen konnte, war krass. Die Vindicators würden ihn für einen knallharten Typen halten. Aber sie durften nicht erfahren, wie er es bekommen hatte. Besonders Charlie nicht. Wie sollte er es dann erklären?
Er würde lügen. Sie hielten ihn sowieso für meschugge. Er hatte schon so oft gelogen. In Bezug auf die Websites, die er besuchte. Die Drogen, die er genommen hatte. Die Dinge, die sein Dad tat. Er konnte auch in diesem Punkt lügen.
Jemand klopfte an seine Tür.
Alex öffnete die billigen Sicherungen, die er eingebaut hatte, die Sperrkette wie in einem Hotel, den Riegel aus dem Baumarkt. Draußen stand sein Dad, der gerade von der Arbeit nach Hause gekommen war. Er war wütend. Er hielt etwas in der Hand. Einen braunen Umschlag mit sauber gedruckten Buchstaben auf dem Etikett, adressiert an Mr. und Mrs. Dinh.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«, wollte sein Vater wissen. Es klang erschöpft.
In dem Umschlag lag eine Kopie der letzten Physikklausur.
Das rote F jagte ihm einen Schauder über den Rücken.
Alex nahm seinem Dad das Blatt ab. Er wusste, wo es eigentlich sein sollte. In seinem Spind. Wie war es hierhergelangt?
»Wer hat das geschickt?«
»Wann ist die nächste Klausur?«, fragte sein Dad, ohne auf ihn einzugehen.
Wann war der nächste Termin? Donnerstag? Und was war heute? Mittwoch? Oh, verdammt, er hätte längst lernen sollen. Aber dann war das Spiel dazwischengekommen. Und es war um Welten besser.
Im Gegensatz zu Physik war er in dem Spiel wirklich gut. Das sagte ihm das Spiel selbst.
»Erst in zwei Wochen«, log er seinen Dad an.
Aber dann fiel ihm etwas ein – was, wenn der Betreffende auch das nächste Prüfungsergebnis nach Hause schickte? Dann wäre er völlig im Eimer. Die schlechte Note und dazu die Lüge. Er wusste, was das bedeutete. Er spürte es jetzt schon. Phantomschmerzen. Nein, das Wort betraf die Geister der Vergangenheit. Dies war der Geist einer schmerzlichen Zukunft.
»Ich habe dir gesagt, was passiert, wenn du noch einmal einen Kurs nicht schaffst.«
»Ich weiß.«
»Ich will deine nächste Note sehen. Und du musst bestehen.«
»Alles klar.«
»Ich meine es ernst. Du wirst versetzt, oder es wird Konsequenzen geben.«
»Na gut, ich mach’s. Ich schaffe das.«
Sein Dad zögerte. »Bitte.« Es klang jünger und sehr traurig. »Bitte fall nicht durch.«
Alex konnte nicht antworten. Er biss sich auf die Unterlippe und nickte.
Als sein Dad gegangen und die Tür wieder dreimal verschlossen war, betrachtete er die Physikaufgaben auf dem Schreibtisch, dann wieder das Spiel im Computer und entschied sich für das Spiel.
Die Vindicators waren das einzig Gute in seinem ganzen Leben. Im ersten Schuljahr waren sie eine Zuflucht gewesen, weil es so viele gab, die ihn von der Mittelschule noch als den Jungen vom Mars kannten. Aber dann war Peter aufgetaucht, alle mochten ihn sofort und beteten ihn geradezu an – auch Alex, weil Peter der charmante Gauner war, der Alex so gern gewesen wäre. Doch was Peter anstellte, ging immer schief, sobald Alex es nachmachte, und dann war er erst recht ein einsamer Sonderling. Sie hatten Alex immer irgendwie mitgeschleppt, aber als Peter auftauchte, rutschte Alex in der Hierarchie der Vindicators noch weiter nach unten, bis er sich entbehrlich fühlte. Schon wieder .
Welche Rolle spielte Charlie bei alledem? Im ersten Schuljahr hatte er Alex davor bewahrt, völlig in Vergessenheit zu geraten, und ihn in die Gruppe geholt: Ja, du bist so still, und alle halten dich für einen Freak, aber du bist einer von uns. Er wünschte, dieser Charlie existierte noch, aber der war in ein schwarzes Loch voller Schmerzen gefallen, und jemand anders war wieder herausgekommen. Tief in seinem Inneren hasste er Charlie sogar – den alten und den neuen –, weil er ihn so sehr brauchte.
Er würde es tun. Er würde tun, was das Spiel verlangte. Es würde Spaß machen. Und seine Belohnung würde die anderen beeindrucken. Aber im Moment war er eher darauf aus, das Spiel zu beeindrucken.
Er schloss sich im Bad ein, sein Telefon summte, und eine Textnachricht von einem anonymen Absender traf ein.
Er musste sie zweimal lesen und hatte schlagartig ein riesiges Loch im Bauch.
Wer sagt so etwas?
Und warum?
Es kann doch nicht das Spiel sein. Das Spiel sagt immer nur gute Dinge.
Oder ist es doch das Spiel?
Habe ich irgendwo Mist gebaut?
Habe ich mich unbeliebt gemacht?
Er geriet in Panik. Er fiel in dem Spiel zurück, was ein Grund mehr war, diese Aufgabe anzugehen, um wieder aufzuholen. Er hatte keine Angst.
Er las die Nachricht noch einmal und blickte in den Spiegel.
Tiefe Ringe unter verloren blickenden Augen.
Er starrte sich an und spielte im Kopf immer wieder die Nachricht ab:
Niemand mag dich.