42
Peters Hau s
Peters Haus war ein Monstrum aus Glas und Beton. Die Sorte Haus, in die ein Neureicher viel Geld steckte, und in einem Stadtteil gelegen, wo Berufssportler und Internetmilliardäre zu ihrem eigenen Ruhm Paläste errichteten. Natürlich nicht einmal in der Nähe der gediegenen Anwesen, in denen Mary Clark und Tim Fletcher lebten. Aber für Charlie demonstrierte es einen unglaublichen Reichtum, und er konnte keinen Unterschied entdecken.
Peter lag auf dem Sofa, hatte auf einem Kaffeetisch aus Chrom die Beine übereinandergeschlagen und war durch die vorderen Fenster, die beinahe die ganze Wand einnahmen, gut zu sehen. Er hatte den Laptop auf dem Schoß. Sein Dad war nicht in der Nähe. Vielleicht war er bei einer Verhandlung in Atlanta oder Akron, oder er trieb sich mit irgendeiner jungen Blondine auf den Bahamas oder Cozumel herum. Die Gelegenheiten, bei denen er in den letzten Jahren Peters Vater begegnet war, konnte Charlie an einer Hand abzählen. Peter schien es mehr oder weniger egal zu sein. Sein Leben war eben, wie es war.
Er ließ Charlie herein. »Du siehst noch schlimmer aus als beim letzten Mal.«
»Wir müssen reden. Du kommst doch heute Abend, oder?«
»Und ob. Ich hoffe, du bist noch nicht ausgestiegen?«
»Noch nicht.« Charlie wollte nicht zugeben, dass er noch keinen Ausweg gefunden hatte – und dass er wieder einmal Peters Hilfe brauchte, um eine Lösung zu finden .
»Gut. Ich habe nämlich ein Geschenk für dich. Ich glaube, das wird dir gefallen.« Peter drehte den Laptop herum.
»Ich will es nicht sehen.«
»Glaube mir, du willst. Es sind zwei Präsente. Eins für dich und eins für mich.«
Charlie konnte sich nicht beherrschen und spähte auf Peters Bildschirm.
»Das ist nicht das Spiel.«
»Nein, das ist die Kommentarspalte eines Artikels.«
Peters Cursor blinkte unter dem Namen »BarryH«.
»Was machst du da?«
»Ich trolle. Ich brauchte mal etwas Abwechslung. Pass auf.«
Peter tippte: Es ist WIDERLICH wie uns die SYSTEMPRESSE OBAMAS Agenda aufzwingt! Wo ist die FREIHEIT geblieben!!!!! Werft die mOSLEMS raus und VERBRENNT DIE MOSCHEEN EHE ES ZU SPÄT IST.
»Das ist ja schrecklich.«
»Stimmt. Die Schneeflöckchen werden mich noch stundenlang als faschistischen Neandertaler beschimpfen.« Als er Charlies gerunzelte Stirn sah, fügte Peter hinzu: »Keine Sorge, ich spiele auch mit den braunen Socken. Schließlich bin ich ja Chaotisch neutral.« Er scrollte nach unten. »Da, unter IL oveSoros, das bin ich auch.«
Charlie las es: »›Fickt euch selbst, das hilft bei der Inzucht.‹ Jesus. Warum machst du das? Du hetzt doch die Leute gegeneinander auf.«
»Heiliger Charlie, komme zur Erde und erlöse uns von den Sünden.«
Peter schloss das Bildschirmfenster, hinter dem das Gottesspiel geöffnet war. »Ich musste etwas Dampf ablassen.« Als Nächstes holte er Caitlyns Chat mit Mary hervor. »Schau mal, was sie über mich gesagt hat.«
Peter?
J a
Keine Ahnung
Ich dachte du magst ihn
So nebenbei ist er nett, aber K ist beliebt
»Für die sind wir nur zweite Wahl«, sagte Peter.
»Mary ist anders«, wandte Charlie viel zu schnell ein.
»Das denkst du dir so. Du glaubst, mich kratzt das alles nicht, aber das stimmt nicht. Ich muss dauernd an Caitlyn denken. Liebe ist es nicht, aber es ist … ich bin verrückt nach ihr. Und jetzt das hier. Aber das Spiel, Charlie. Es könnte mir helfen …«
»Willst du ihr Gedichte schicken?«
»Habe ich schon gemacht. Sie hat nicht geantwortet.«
»Was dann?«
Peter suchte Charlies Blick und hielt ihn. »Wir legen nach.«
Er drehte den Bildschirm zu Charlie herum. Dort war Peter in seinem eigenen Haus zu sehen, wie er das Spiel spielte. Auf dem Display gingen sie die Treppe hinauf, die sich vor dem Zimmer befand, doch statt der schrecklichen modernen Kunstwerke, die Peters Dad bevorzugte, hing dort ein Gemälde, das Charlie aus dem Internet kannte. Es war The Eye of God , ein Porträt von Xania Dorfman, das den sagenumwobenen Bitcoin-Erfinder Satoshi Nakamoto zeigte, der vielleicht überhaupt nicht existierte.
Nach einem Doppelklick klappte das Bild wie auf einem Scharnier zur Seite, und dahinter kam ein Guckloch zum Vorschein.
»Dann wollen wir mal reinschauen, was?«
Peter wählte auf mehreren Drehknöpfen unter dem Guckloch ein Datum, eine Zeit und einen Ort aus und tippte darauf. Das Guckloch zoomte heran und füllte den ganzen Bildschirm aus, bis ein neues Bild zu erkennen war.
Als es scharf wurde, sahen sie Kurt Ellers, gefilmt durch die kleine runde Videokamera seines Laptops. Das allgegenwärtige kleine Auge war direkt in den Rahmen eingebaut .
Charlie hörte angestrengtes Atmen, langsam zuerst.
Dann schneller.
Kurt umarmte jemanden, aber es war nicht Caitlyn. Der andere Mann hatte Kurt ebenso umschlungen, und die Hände wanderten begierig über die nackten Körper.
»Schalte das ab.« Charlie konnte es nicht fassen. Er hatte Mühe, diesen Anblick mit dem homophoben Schlägertyp in Einklang zu bringen, der andere Leute auf der Mittelschule als Schwuchteln beschimpfte, während er sie gegen die Spinde stieß. Charlies Faszination geriet gegenüber seinem tiefen Unbehagen, als er einen so intimen Augenblick beobachtete, nur geringfügig ins Hintertreffen. Er erinnerte sich, wie ihm einmal jemand gesagt hatte, er solle die Kamera des Laptops überkleben, aber wer dachte schon daran und tat es dann wirklich?
»Lösch das. Sofort.«
Peter schüttelte den Kopf. »Warum? Weil er so ein toller Kerl ist? Weil er wirklich nett ist?«
»Nein, weil es krank ist, so etwas zu haben. Das ist privat.«
Charlie griff nach dem Laptop.
»Nein, nein, nein, lass das.« Peter knuffte Charlie gegen die Brust. »Das ist ein Dienst an der Allgemeinheit. Wie viele Jungs hat er im Laufe der Jahre gequält, weil sie schwul waren?«
»Und zufällig räumt das auch für dich den Weg bei Caitlyn frei. Wie praktisch.«
Peter schüttelte spöttisch den Kopf. »Du hast noch nicht einmal mein Geschenk für dich gesehen. Ich habe etwas über Tim.«
»Ich will es nicht.«
Peter funkelte Charlie an. »So rechtschaffen und ehrlich. Mal sehen, wie du dich fühlst, wenn du weißt, was Mary über dich sagt.«
»Ich will es nicht sehen. «
»Natürlich nicht.« Peter scrollte nach oben. Charlie wollte sich abwenden, aber er schaffte es nicht.
Ich mag ihn wirklich.
Dann tu es doch
Aber T ist T. Es ist schwer, das aufzugeben für … du weißt schon
Für einen Loser?
Hör auf
Du hast es aber gedacht
Es tat weh. »Woher weißt du, dass das echt ist? Das alles hier? Kurt und das da?«
»Es ist vom Spiel zertifiziert. Mach dir ruhig etwas vor, wenn du willst.« Peter machte eine finstere Miene.
In diesem Augenblick sah Charlie zum ersten Mal den hochnäsigen Privatschüler Peter. »Hast du dir eigentlich mal das Bild mit der Konföderiertenflagge angesehen, das wir gepostet haben?«, fragte Peter höhnisch. »Weißt du, was passiert ist? Die Leute haben es geliked . Sie haben Sachen wie ›Weiter so!‹ und ›Südstaatenmann!‹ daruntergeschrieben. Wurden Tim und Kurt suspendiert? Hast du irgendetwas gehört? Nein, weil sie verdammte Royals sind, weil hier Football wichtiger ist als Moral. Die ganze Sache ist gezinkt und läuft gegen uns, Charlie. Glaubst du, diese Leute sind dorthin gekommen, wo sie sind, indem sie fair gespielt haben?«
»Ich habe keine Ahnung, aber so will ich das nicht machen.«
»Dann liebst du sie nicht wirklich.«
Sie starrten einander an.
Peter lenkte als Erster ein. »Verdammt, Charlie, manchmal sorgst du dafür, dass ich mich beschissen fühle.«
»Ich werde heute Abend die Vindicators fragen, ob sie mit mir zusammen aufhören. Ich hoffe, du bist dabei.«
Peter lächelte müde. »Warum sollte ich?«
»Weil wir durch das Spiel verdorben werden. «
Peter lehnte sich auf dem Sofa zurück. Auf einmal sehr müde, rieb er sich die Augen. »Das ist eine Demokratie. Ich werde mich dem anschließen, was die Gruppe entscheidet.«
Charlie nickte. Er hatte das Gefühl, es sei viel zu leicht gegangen.
In ihrem abgedunkelten Zimmer versuchte Vanhi verzweifelt, den magischen Aufsatz nachzuempfinden. Sie hatte sich geweigert, auf SENDEN zu drücken, worauf das Spiel ihn wieder weggenommen hatte. Sosehr sie es auch versuchte, sie konnte es nicht. Wie war das möglich? Der Aufsatz entsprach genau dem, was sie empfand. War das Spiel etwa besser darin, Vanhi zu sein, als sie selbst?
Sie versuchte, die erste Zeile zusammenzubekommen:
»Vanhi« bedeutet »Feuer«, ein Wort aus dem Hindi, das Schöpfung und Zerstörung bedeutet.
Es klang falsch, als hätte sie eine Note in Dur oder Moll gespielt und plötzlich bemerkt, dass es nicht mehr Mozart war, sondern Taylor Swift an einem schlechten Tag. Mozart konnte ein D löschen (die Zensur, nicht die Note), Taylor Swift konnte es nicht. Vielleicht in Yale, dachte sie, und dann verfluchte sie sich. Ich bin noch gar nicht da drin und habe schon die Rivalität verinnerlicht – was für einen Mist mache ich hier eigentlich?
Verdammt noch mal.
Nur an einen bestimmten Abschnitt konnte sie sich sehr genau erinnern, weil er so treffend ihre Freunde beschrieb, auch wenn es der Text nicht ausdrücklich gesagt hatte:
Feuer, Erde, Wasser, Luft und Äther – die fünf Grundelemente der Veden – erschaffen die Formen der Materie, die es gibt. Wir alle bestehen aus ganz unterschiedlichen Bausteinen.
War das nicht Gottes eigene Wahrheit? Fünf Elemente. Fünf Vindicators. Charlie war Erde: der Boden unter ihren Füßen, der jedoch in der Dürre zerkrümelte. Kenny war Wasser: tief und rein, aber tief unten turbulent und voller Ängste. Peter war der Äther: unbekannt, mehr Vakuum als Licht. Alex? Luft: unsichtbar. Und sie selbst war natürlich das Feuer – das sagte ja schon ihr Name. Konnte das ein Zufall sein? Oder war es eine elegante Symmetrie, der Aufsatz vor dem Aufsatz? Sie bezweifelte, dass das Gottesspiel an Zufälle glaubte.
Aber die Entscheidungen, die wir treffen, und die Art und Weise, wie wir unsere Elemente einsetzen und kombinieren, definieren unseren Wert.
Jemand klopfte an die Tür. Da sie annahm, es sei ihre Mutter, fauchte sie: »Lass mich in Ruhe!«
Aber dann hörte sie Vikrams ruhige Stimme, der wissen wollte: »Bist du böse auf mich?«
Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen und öffnete die Tür. »Nein, mein Lieber, nein, natürlich nicht.«
Sie kniete sich vor ihren kleinen Bruder und nahm ihn in die Arme. Der Siebenjährige war im Leben ihrer Eltern eine späte Überraschung gewesen. Wie viele Down-Kinder war auch Vik so sanft und liebevoll, dass alles, was sie ihm als Schwester antat, doppelt so schwer wog.
»Was machst du da?« Seine Frage war so unschuldig, dass es schrecklich wehtat.
Tja, Vik, ich baue einen Aufsatz nach, den ich beim ersten Mal leider nicht raubkopiert habe. »Nur meine Hausaufgaben.«
Er sah sie mit seinen schönen Augen an. »Willst du spielen?«
»Jetzt nicht, Vik. Ich muss das erst zu Ende bringen.«
»Na gut«, sagte er mit einem Tonfall, der ihr das Herz brach. »Wer ist das?«
»Wer ist wer?«
»Der Mann im Fenster.«
Vanhi erschrak und legte instinktiv eine Hand auf Viks Schulter, um ihn hinter sich zu halten, während sie sich umdrehte. Draußen war es schon fast dunkel, doch vor ihrem Fenster war nichts zu entdecken. Nur die Bäume, die sich ein Stück entfernt im Wind wiegten.
»Geh zu Mami«, sagte sie zu ihm. Sie gab sich Mühe, ruhig und unbefangen zu sprechen.
»Ist alles in Ordnung?«
»Aber ja, natürlich, mein Lieber.« Da fiel ihr etwas ein. »Vik, kanntest du den Mann? War es Charlie oder Peter?«
»Nein.«
»Kenny oder Alex?«
»Nee.«
»Na gut, dann geh zu Mom.«
Als er fort war, nahm sie die Schere vom Schreibtisch, hob sie wie ein Messer und ging zum Fenster.