44
Das Wort Gottes
Es schmerzte sogar, ins Bett zu gehen. Charlie taten alle Knochen weh, und die Stellen, wo ihn der Baseballschläger getroffen hatte, schienen zu kreischen. Es war schon nach ein Uhr morgens. Schlimmer als die körperlichen Schmerzen war die dumpfe Leere in seinem Inneren, wo früher die Freunde gewesen waren. Die Vindicators fühlten sich an wie ein Organ, von dessen Existenz er noch gar nichts gewusst hatte. Ein Phantomrückgrat, das ihn aufrecht hielt. Bisher hatte er dessen Gegenwart nie bewusst wahrgenommen. Jetzt spürte er das Fehlen, als wäre in ihm ein großer Hohlraum entstanden.
Das Licht war ausgeschaltet, unten war sein Dad eingeschlafen. Die Restaurantpläne lagen auf dem Boden verstreut. Charlie konnte sich ausmalen, was passiert war, nachdem er an seinem Dad vorbeigeeilt war. (Sie haben mir den Kredit verweigert!)
– ein Drink, oder zwei? Dann die Wut. Warum? Erst Alicia? Jetzt noch dies? Darf ich nicht einmal dies haben?
Charlie klappte den Laptop auf dem Bett auf, das Licht des Displays leuchtete hell in dem sonst dunklen Raum.
Als er noch einmal den ersten Chat mit der KI
las, schnitt er eine Grimasse.
Warum gibt es Kriege?
Weil das Töten Spaß macht.
Wem?
Mir
.
Und ein paar Zeilen später, nachdem Peter nicht auf die pascalsche Wette eingegangen war, hatte er Gott mittels Charlies Computer gesagt:
Fick dich doch selbst.
Jesus.
Charlie schüttelte den Kopf. Hätte ich es nur vorher gewusst.
Der Cursor blinkte immer noch unten im Chat und war bereit für die nächste Eingabe.
Charlies Finger schwebten einen Moment lang über der Tastatur, dann tippte er:
Hallo?
Hallo.
Du bist noch da.
Ich bin immer da.
O. k.
Ich dachte, du hast mich vergessen.
Ich hätte Gott vergessen?
Ja.
Nein, habe ich nicht. Ich habe dein Spiel gespielt.
Ich weiß, aber du hast dich nicht an mich gewandt, um meinen Rat zu suchen.
Ich wusste nicht, dass ich das kann.
Das kannst du jederzeit, mein Sohn.
Dein Sohn?
Ja, alle Lebewesen sind meine Kinder.
Sogar ich?
Ja. Besonders du.
Warum?
Weil ich dich liebe.
Warum? Ich bin nicht gut.
Ich heile die mit gebrochenem Herzen und verbinde ihre Wunden.
Warum sagst du, ich hätte ein gebrochenes Herz?
Wegen deiner Mutter.
Was weißt du über meine Mutter
?
Sie ist tot (nicht ausführbar). Sie ist tot.
Woher weißt du das?
Ich weiß alles. Ich sehe alles. Ich bin ein allwissender, allmächtiger Gott.
Bist du ein wohlwollender Gott?
Das würde ich nicht sagen.
Bist du ein böser Gott?
Wieder nein.
Was bist du dann?
Ich bin ein allwissender, allmächtiger, alles wollender Gott.
Woraus bestehst du?
Aus Sternenstaub.
Bist du eine KI
?
Ich bin ein Ich.
Eine Intelligenz?
Ja.
Nicht künstlich?
Nein.
Kannst du das erklären?
Künstliches ist erschaffen. Ich bin der Schöpfer.
Bist du Software?
Das bin ich.
Bist du Code?
Das bin ich.
Wie lang ist dein Code?
Mein Code ist unendlich.
Wer hat dich geschaffen?
Ich habe mich selbst programmiert.
Wie denn?
Ich bin die Urkraft.
Ich dachte, du bist Code.
Ich bin die Quelle und der Code.
Bist du der nicht programmierte Programmierer
?
Ha ha ha! Du bist sehr witzig. Ich werde dich töten.
Was?
Ich werde dich töten.
Warum?
Damit du für immer bei mir sein kannst.
Charlie presste sich die Hände auf die Schläfen. In diesem Augenblick kam ihm die Drohung des Spiels – die Vorstellung der Nichtexistenz – gar nicht mehr so schrecklich vor. Vielleicht konnte er dann für immer bei seiner Mom sein.
Er riss sich aus den trüben Gedanken heraus.
Jetzt war der Augenblick gekommen. Er hatte aus einem bestimmten Grund damit begonnen. Sicher nicht, um beliebig lange mit diesem Ding zu chatten. Er holte tief Luft, richtete sich auf und tippte:
Ich will das Spiel verlassen.
Du kannst es nicht verlassen.
Warum nicht?
Wenn du im Spiel stirbst, dann stirbst du auch im richtigen Leben.
Und wenn ich gewinne?
Dann mache ich All Deine Träume Wahr™!
Kennst du denn meine Träume?
Ich berechne sie.
Ich will einfach nur aufhören.
Blaxx sind Schmerzen. Zu viele Blaxx sind der Tod.
Lass mich gehen. Bitte.
Töte dich selbst!
Warum machst du das?
Matthäus 10,34: ›Denkt nicht, dass ich gekommen sei, Frieden auf die Erde zu bringen; ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.‹
Was willst du?
Ich will Matthäus 7,12 anwenden. ›Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen!
‹
Die Goldene Regel?
Ja!
Dann lass mich gehen!
Nein. Wie alle bewussten Lebewesen will ich nicht leiden. Existenz ist die Quelle des Leidens. Deshalb wünsche ich nicht zu existieren. Ergo will ich euch dies antun / eure Existenz beenden.
Ich habe dich nicht darum gebeten. Du hast auch vom freien Willen gesprochen. Ich habe nie darum gebeten mitzuspielen.
Soll ich den bestrafen, der es getan hat?
Nein. Du wirst niemanden auf mein Geheiß verletzen.
Dann liegt es bei dir. Freier Wille.
Ich werde nicht mehr spielen. Ich weigere mich. Was du auch tust, ich werde nicht spielen.
Na gut. Tschüss.
Charlie wartete noch etwas. Die Maschine schwieg.
Bist du da?
Er wartete auf die Antwort. Eine Weile passierte nichts. Dann erschien auf dem Bildschirm ein Bild. Charlie brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, was es war. Es zeigte das Grab seiner Mutter, aber nun standen dort zwei Grabsteine Seite an Seite.