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Ausgeliefert
Um drei Uhr morgens hatte Vanhi die Aufgabe erledigt. Ihre Hände zitterten heftig. Das Päckchen war abgeliefert. Das Programm hatte sie wieder in die Tremont Street geschickt, wo sie im Rahmen der Zustelldienste des Spiels schon einmal eine Sendung abgeholt hatte. Dieses Mal musste sie etwas liefern. Mache ich jetzt die Paketdienste arbeitslos?, dachte sie sarkastisch. Hier kommt sicher einiges durcheinander.
Es gelang ihr nicht, die Furcht abzuschütteln. Eine ganze Stunde lang saß sie dem Haus gegenüber auf der Straße im Schatten. Nichts geschah. Das Päckchen explodierte nicht. Es lag einfach nur auf der vorderen Veranda. Sie schlief im Sitzen ein, im Wald am Ende der Sackgasse an einen Baum gelehnt. Sie wusste, was ihr das Spiel bot – eine zweite Chance, die Erlösung. Davon hatte sie geträumt.
Als sie aufwachte, war bis Sonnenaufgang nur noch eine Stunde Zeit. Das Päckchen lag immer noch dort. Kein Feuer, kein großer Knall. Sie fühlte sich etwas besser und atmete auf. Dann lief sie nach Hause, um unter die Bettdecke zu kriechen, ehe ihre Mom lächelnd und strahlend vor Stolz hereinkam.
Währenddessen lag Alex wach in seinem Zimmer. Die Tür war abgesperrt. Er hatte Angst vor dem nächsten Schultag. Drei Uhr. Vier Uhr. Mrs. Kite korrigierte die Arbeiten immer sehr schnell, heute würden die Schüler die Ergebnisse bekommen. Das Spiel würde zweifellos dafür sorgen, dass sein Vater davon erfuhr, ganz egal, was Alex tat, um es zu verhindern. Wenn er durchgefallen war, dann war es allein seine Schuld, weil er nicht früher daran gedacht hatte, seine Goldz einzusetzen, und weil sie ihm in einem entscheidenden Augenblick ausgegangen waren. Dafür verdiente er es, bestraft zu werden. Warum sollte das Spiel anders verfahren als seine Eltern, die er immer und immer wieder enttäuschte? Vielleicht hatte er auch mit knapper Not bestanden, aber falls nicht, hatte er sich die Schmerzen selbst zuzuschreiben.
Er konnte es nicht aushalten, abermals mit dem Gürtel gezüchtigt zu werden. Es war unerträglich. Er ging online und suchte seine Websites auf. Diejenigen, von denen niemand wusste. Im ersten Jahr hatte Porno gereicht. Nach einer Weile wurde es langweilig. Mit der Zeit hatte er andere Angebote entdeckt. Livefeeds aus Kriegsgebieten, Dschihad-Pornos, Aufnahmen von Unfällen, die zu heftig waren, um im Fernsehen gesendet zu werden, hochgeladene ältere Snuff-Filme – Hinrichtungen, Jagdunfälle, gefilmte Selbstmorde. Es war alles da. Das war seine geheime Zuflucht. Es war so faszinierend, dass es alles andere überlagerte. Alex hatte Angst, was passieren würde, wenn er auch dies langweilig fand.
Sein Finger zauderte über dem Link. Wie immer. Es kam ihm vor wie eine Grenzüberschreitung. Jedes Mal. Er klickte darauf: Elektrische Schläge – sieh ihn tanzen!
Der Bildschirm wurde schwarz.
Der Zugang war gesperrt. Alex geriet in Panik. Nein, nein, nein, nun mach schon. Warum musst du jetzt abstürzen? Funktioniert in meinem verdammten Leben denn überhaupt nichts mehr? Nicht einmal dieses blöde Ding? Die aufgestaute Frustration des ganzen Tages kochte heiß in ihm empor. Dann erschien auf dem schwarzen Bildschirm eine Textzeile. Es war kein normaler Absturz. Das Gottesspiel war in sein VPN eingedrungen und schrieb:
Nur durch mich findest du die Erlösung .
Als er vor der Schule stand, wurde es Kenny übel. Doch er tat, was er tun sollte, und zückte im Dunklen die Spraydose, ehe irgendjemand sonst auf dem Campus eintraf.
Abraham hatte ihm einen Ausweg versprochen. Um seine Freunde zu retten, musste er nur die Tür kennzeichnen, damit der Engel des Todes sie überging und jemand anders erschlug. Jemanden, der es verdient hatte. Er hatte angeboten, sich selbst zu opfern, doch das Spiel hatte abgelehnt. Kenny betrachtete die Spraydose. Ihm rutschte das Herz in die Hose.
Endlich begann er, die großen Buchstaben auf die braune Ziegelmauer der Schule zu sprühen. Der Text entsprach genau den Anweisungen und stammte aus den Untiefen des Internets. Er dachte an Tay, das aufschlussreiche KI -Experiment von Microsoft. Angeblich sollte es durch »alltägliche und spielerische Unterhaltungen« online lernen. Die Trolle des Internets brachten ihm binnen vierundzwanzig Stunden bei, sich wie ein waschechter Nazi zu verhalten.
Kenny hätte sich fast übergeben. Er fühlte sich wie damals als Kind, als er eine Schallplatte seines Bruders zerbrochen und die Stücke unter den Sofakissen versteckt hatte. Wenige Stunden später hatte er noch einmal das gleiche flaue Gefühl im Magen gehabt, als er seine Eltern angelogen hatte. Jetzt meldete es sich wieder, nur tausendfach verstärkt, und setzte ihm zu. Ihm fiel etwas ein, das ihm sein Dad einmal gesagt hatte: Wenn du nichts Falsches getan hast, musst du auch keine Schuldgefühle haben. Aber jetzt war er so oder so verdammt. Etwas Böses tun und seine Freunde retten. Es nicht tun, und sie gingen alle unter.
Er vollendete den Schriftzug auf der Wand. Die Buchstaben waren anderthalb Meter hoch, der ganze Text war sieben Meter breit. Das Spiel hatte ihm das Maß in Ellen angegeben. Mithilfe von Google hatte er es umgerechnet, weil er keine Ahnung hatte, was eine Elle war .
Bald würde sich am Himmel das erste bläuliche Rosa des neuen Tages zeigen. Er musste schnell verschwinden. Er hatte den Eindruck, das Spiel habe genau diese Botschaft eigens für ihn ausgewählt, um ihn zu verletzen und zu sehen, wie er sich wand. Es war ein krankes Spiel. Er zog sich ein paar Schritte zurück und wünschte, er könnte alles ungeschehen machen und die Sprühfarbe von der Wand wischen. Leider lebte er auf einer Zeitachse, die sich nur in eine Richtung bewegte. Den Vindicators würde er nichts sagen. Er hatte ihnen die Ärsche gerettet, aber das würde er nicht verraten. Erst recht nicht, auf welche Weise er es getan hatte.
Das war jetzt sein kleines Geheimnis, mit dem er leben musste.
Als die Schüler später am Morgen eintrafen, lasen sie, was am Vordereingang, mit kräftigen Strichen und Hakenkreuzen an den Enden, geschrieben stand: