47
Falsches Zeugnis
Sobald sie das Büro verlassen hatten, zog Candace Kenny beiseite und sagte: »Komm mal her.«
Kenny fand sie so wundervoll wie immer, eine reife Schönheit, über die man später bei einem Blick ins Jahrbuch sagte: Wie hätte ich sie damals auch übersehen können?
Nur, dass Kenny schon immer für sie geschwärmt hatte. Diese samtige braune Haut vom jamaikanischen Elternteil, die hellen rotblonden Locken von der schottischen Seite. Sie passte in kein Schema, genau wie er selbst. Allerdings war er eher ruhig und zurückhaltend und ließ sich von anderen drangsalieren, während sie ehrgeizig und stark war. Einfach berauschend.
Aber was, zum Teufel, war da gerade in Morrisseys Büro passiert?
Ehe er fragen konnte, warf sie ihm etwas zu. »Fang!«
Er fing es instinktiv auf, und als er die Hände öffnete, entdeckte er eine kleine Ampulle aus dem Chemielabor, in der sich ein paar seiner Blutspritzer befanden.
»Was? Aber du hast doch Mrs. Morrissey gerade gesagt …«
»Schon klar.« Sie lächelte verschlagen. »Du spielst deine Rolle weiter. Method Acting. Nett.«
Was redet die da? Und warum hat sie Morrissey so dreist angelogen?
»Ich kann das nicht glauben.« Sie errötete vor Aufregung.
»Tja«, machte Kenny unverbindlich.
»Ich meine, es ist genau so gelaufen, wie du gesagt hast.«
Wie ich gesagt habe?
»Jaja.« Kenny tat so, als wüsste er, wovon sie sprach
.
Candace schenkte ihm einen seltsamen Blick. Hatte er sich bereits verraten? Aber nein, es war ein ganz anderer Blick, der ihm einen köstlichen Schauder über den Rücken jagte.
»Ich muss schon sagen, ich bin beeindruckt«, gestand Candace.
»Wirklich?«
»Wegen der Art und Weise, wie du das gedeichselt hast. Du hast dich nicht von Eddie niederwalzen lassen.«
»Oh, das meinst du.«
»Ja, genau das. Es ist mein Ernst. Ich habe dich immer für jemanden gehalten, der einer Auseinandersetzung lieber ausweicht.«
»Ist das nicht gut so?«
»Vielleicht wenn du Jesus bist. Das hier ist die Turner.«
Sie kam einen Schritt näher. Sie waren allein in der Cafeteria. In der Ferne hörten sie das Scheppern, das mit der Vorbereitung des Mittagessens in der Küche einherging.
»Heute Morgen am Telefon – so kannte ich dich noch gar nicht.«
Heute Morgen am Telefon?
Er hatte Candace in seinem ganzen Leben noch nicht angerufen.
Sie waren Redaktionskollegen, sonst nichts.
Aber die Art und Weise, wie sie ihn jetzt ansah, weckte eine ungeahnte Stärke in seiner Brust. Er richtete sich ein wenig auf und spürte einen kleinen Kitzel.
»Wie habe ich mich denn angehört?« Er war neugierig, aber irgendwie kam es heraus, als flirtete er mit ihr.
»Du warst … wie ein Boss. Eddie würde dich nicht plattmachen.« Sie kam noch einen Schritt näher. Er spürte die Spannung zwischen ihnen. »Du wolltest ihn plattmachen.«
Kenny konnte die Hand heben und die Distanz zwischen ihnen endgültig überwinden. Er konnte ihr die Hand auf die Schulter legen. In den Nacken. An die Hüfte
.
Er wollte, aber er konnte sich nicht rühren.
Wie ein Boss. Du wolltest ihn plattmachen.
»Und du … du hast mir das geglaubt?«
»Ja. Wer hätte schon ahnen können, dass du solche Eier hast?«
Sie hat meine Eier erwähnt! Was würde Harry Styles jetzt tun?
Es war unerforschtes Terrain. Wieder kam sie näher. Der Ausdruck ihrer Augen hatte sich nicht verändert.
»Du hast für mich gelogen.«
»Ja.«
»Du hast mir geglaubt.«
»Deine Version?« Sie zuckte mit den Achseln. »Wer weiß. Vielleicht hat Eddie dich hereingelegt. Vielleicht hast du ihn hereingelegt.«
»Aber warum dann?«
Sie machte den letzten Schritt. Ihr Gesicht war dem seinen jetzt ganz nahe.
»Es war deine Stimme heute Morgen. Ich wusste es einfach. Du würdest gewinnen.«
Dann beugte sie sich vor und küsste ihn auf den Mund. Kenny hatte noch nie ein Mädchen geküsst. Oder einen Jungen. Oder sonst einen Menschen, mit dem er nicht verwandt war. Der sanfte Druck ihrer Lippen entfachte ihn wie einen Feuerwerkskörper.
Als jemand in der Küche ein Tablett fallen ließ, fuhren sie erschrocken auseinander. Es war ihnen peinlich, als hätte man sie nackt erwischt.
»Mann«, sagte Candace.
An jedem anderen Tag hätte Kenny ebenfalls »Mann« gesagt.
Aber heute platzte er heraus: »Das wurde aber auch Zeit.«
Vergiss die Tatsache, dass das Spiel am Telefon meine Stimme nachgeahmt hat,
dachte er. Er hatte auf YouTube KI
s gesehen, die anhand von Aufnahmen, die nur wenige Minuten lang
waren, Stimmen imitieren konnten. Viel wichtiger ist: Wer in mir hat das gerade gesagt?
Candace schüttelte den Kopf. »Ich mag das. Ich mag diesen neuen Kenny.«
Es schellte, es war Zeit zu gehen. Kenny wollte sich nicht doch noch verraten. Er wollte nicht, dass es aufhörte. Trotzdem musste er es wissen.
»Bist du nicht neugierig, ob da wirklich mein Blut in dem Probenglas ist?«
Sie lächelte. »Wie du schon gesagt hast, wenn es deins ist, hat er es von dem Roboter im Computerlabor.«
»Warum hast du dann gelogen? Warum hast du ihm nicht das Reagenzglas gegeben und es erklärt?«
Er sollte nicht fragen. Er würde alles zerstören. Dieser Kuss!
Aber er musste es wissen.
Sie schien verwirrt. »Weil du es gesagt hast. Manchmal muss man der Wahrheit etwas auf die Sprünge helfen.« Sie sah auf die Uhr. »Ich muss los. Aber vergiss nicht dein Versprechen.«
»Mein Versprechen …«
»Wehe, du kneifst. Jetzt bin ich die Leitende Chefredakteurin, und du bist mein Stellvertreter.« Sie beugte sich vor und gab ihm einen Schmatz auf die Wange. »Keine Sorge, die Arbeitsbedingungen werden gerade so unangenehm, wie du es willst.«
Damit verschwand sie.
Kenny saß einen Moment da und hatte große Mühe zu verarbeiten, was er gerade erlebt hatte. In der Spanne eines Wimpernschlags vom sicheren Schulverweis und der öffentlichen Demütigung zu einem Kuss von Candace und einem Eddie, der sein Leben nicht mehr stören konnte.
All Deine Träume Werden Wahr™,
dachte er.
So sah es aus.
Aber warum fühlte es sich so beschissen an?