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Gute Neuigkeiten!
Zu Charlies Überraschung war es ein prächtiger Morgen.
Er hatte zwölf Stunden durchgeschlafen. Als er aufwachte, schien die Sonne durch die kleinen Schlitze in der Jalousie, traf sein Gesicht und weckte ihn mit ihrer Wärme.
Er fühlte sich auf seltsame Weise ungeheuer frei.
Es gab kein Spiel mehr. Keine Abenteuer in der vergangenen Nacht. Oder wenigstens keine, an denen er beteiligt war. Das Weinen war schrecklich und schmerzlich gewesen, aber er fühlte sich, als hätte es ihn gereinigt. Er war schnell eingeschlafen und so beschwingt aufgewacht wie seit Monaten nicht mehr.
Einen Augenblick lang meldete sich eine lähmende Angst: Was mache ich heute?
Doch dann stieg von unten der Geruch von Pfannkuchen empor, und ihm wurde bewusst, dass er einen Bärenhunger hatte. So dumm sein Dad auch war, er konnte kochen. Mann, und wie er kochen konnte. Ausnahmsweise war dies genau das, was Charlie jetzt dringend brauchte.
»Schön, dass du kommst«, sagte Charlies Dad und drehte sich am Herd um, als sein Sohn die Treppe herunterlief. »Wir haben heute viel vor.«
»Tatsächlich?«
»Ja, haben wir.« Sein Dad ließ zwei Pfannkuchen auf einen Teller gleiten und schob ihn über die Kochinsel zu Charlie hinüber. »Im Krug ist frisch gepresster Orangensaft. Bedien dich.
«
Charlie nahm den Teller, stach die Gabel in die Pfannkuchen und erwartete halb, dass sie in einer Rauchwolke verpufften. Doch sie waren real. Alles war echt. Er bestrich sie mit reichlich Sirup und legte zwei Scheibchen Butter darauf, die sofort schmolzen.
Ich würde den Augenblick zerstören, wenn ich jetzt über Mutter rede,
dachte er.
»Wohin wollen wir denn?«
»Gestern war es eine Überraschung für mich, und heute ist es eine für dich.«
Er erinnerte sich daran, dass sein Dad am vergangenen Abend etwas über gute Neuigkeiten gesagt hatte, als Charlie sich an ihm vorbeigedrängelt hatte und sofort nach oben gegangen war. Jetzt würde er es also erfahren.
Nach dem Frühstück fühlte Charlie sich in mehr als einer Hinsicht gestärkt. Sein Dad saß ihm gegenüber, las Zeitung und aß. Sie redeten nicht. Die Fenster standen einen Spalt offen, das Sonnenlicht strahlte in den Raum, die frische blaue Herbstluft strömte herein, alles fühlte sich lebendig und gut an. Dann saßen sie zusammen im Auto und fuhren die East Bishop hinunter.
Dads Wangen waren gerötet und so voll wie seit Langem nicht mehr. Das Leben war zurückgekehrt.
»Was ist denn los?«
»Manchmal passieren einfach gute Dinge.«
Nach einer Weile blickte Arthur lächelnd aus dem Fenster. »Da ist es.«
Sie standen vor einem Laden an der Ecke einer Geschäftszeile. Das braune Gebäude hatte freundliche Fensterläden und erinnerte an einen Pub. Das schräge Dach und die grünen Dachziegel erinnerten ein wenig an ein Haus aus einem deutschen Märchen.
»Ich hätte mich mit Genehmigungen, Lizenzen und dem Darlehen herumschlagen müssen. Es hätte Monate gedauert,
mich durch die bürokratischen Hindernisse zu wühlen. Na gut, ich hätte es geschafft. Aber dann ist mir das hier sozusagen in den Schoß gefallen.«
»Es ist dir in den Schoß gefallen? Dieses Haus hier?«
»Ja.«
»Echt? Wie denn?«
»Gestern Morgen habe ich einen Anruf bekommen. Der Besitzer hatte irgendwelche Schwierigkeiten und musste es sofort abstoßen. Direkt auf der Stelle. Er war sehr aufgeregt. Im Grunde hat er mich angefleht, es zu übernehmen. Ich habe es übernommen. Charlie, es war wie ein Diebstahl. Ich kann die Mitarbeiter behalten, die Küche führen und nach und nach meine eigenen Rezepte einbringen. Ein Blitzstart.«
Sein Dad war glücklich, doch Charlie hatte ein flaues Gefühl im Bauch. Nur zu gern hätte er an Märchen geglaubt. Leider war er Zufällen gegenüber in letzter Zeit sehr misstrauisch geworden.
»Ist das nicht ein bisschen zu schön, um wahr zu sein?«
Arthur sah ihn an und fauchte: »Ja, so ist es. Und wenn du dir den Haufen Mist ansiehst, der in den letzten zwei Jahren über uns ausgekippt wurde, fühlt sich alles außer einem Tritt ins Gesicht viel zu gut an, um wahr zu sein.«
»Ich weiß, aber …«
»Ich glaube, wir haben ein bisschen Glück verdient, Charlie«, sagte sein Dad etwas leiser.
»Wie hast du es überhaupt gefunden?«
»Online. Ich poste schon seit Monaten in Restaurantblogs und lerne, wie man so etwas macht.«
Charlie betrachtete die Situation durch die Augen des Spiels: Hatte es jemand anderen in eine Krise manövriert? Hatte es diese Person mit Arthur in Kontakt gebracht? Und warum gerade jetzt, da Charlie aufgehört hatte? Wollte ihn das Spiel wieder hineinlocken? Vielleicht war es aber auch die Strafe. Vielleicht würde sein Dad ihr ganzes Geld in den Laden
stecken, den das Spiel dann untergehen ließ. Die Möglichkeiten waren schier endlos. Wahrscheinlich entwickelten sie sich von Fall zu Fall. Andererseits – manchmal war ein Restaurant wirklich nur ein Restaurant. Charlie wusste es einfach nicht.
Arthur war schon ausgestiegen. »Komm mit.«
Drinnen sah es so aus, wie Charlie es sich vorgestellt hatte. Enge Nischen, gemütlich und weich. Ein Billardtisch und zwei Flipper. Niedrig hängende Lampen, die warmes Licht spendeten. Ein Lokal, in dem man am liebsten gewohnt hätte. Eine Wand war bemalt, das Bild zeigte eine Stadt aus dem neunzehnten Jahrhundert, die sich um einen bewaldeten Park erstreckte. Durch die Bäume konnte man Laternen erkennen, darüber schwebten Heißluftballons. Vornehme Paare flanierten mit Anzügen und feinen Kleidern auf einer Promenade.
»Wie hieß der Laden früher?«
»Weltausstellung.«
»Und jetzt soll er Arthur’s
heißen?« Charlie fand den alten Namen besser, behielt seine Meinung aber für sich.
»Warte, schau dir mal das hier an.«
Als Charlie klein war, hatte sein Dad sich immer wieder über den Jugendtraum ausgelassen, eines Tages als Koch in seinem eigenen Restaurant zu arbeiten. Charlies Großvater war jedoch ein strenger, mürrischer Buchhalter gewesen, der oft genug gesehen hatte, wie Restaurants pleitegingen. »Ein Restaurant zu führen ist wie eine ganz miese Wette«, hatte er Charlies Dad erklärt. Also war Arthur Lake Buchhalter geworden, nur dass er im Umgang mit Zahlen und Finanzplänen nicht ganz so begabt und geschickt war wie der Vater. Er hasste seine Arbeit, konnte damit aber die Familie ernähren, und er liebte seine Frau und ihr Kind. Eines Tages starb seine Frau, und sein Sohn war verloren. Seitdem fragte er sich, warum sich die Bilanz seines Lebens auf einmal so sehr verschlechtert hatte
.
Jetzt aber führte er Charlie, strahlend vor Stolz, durch sein eigenes Restaurant.
Hinten war eine Art Banner auf dem Boden ausgerollt. Es war die billige Sorte mit Ösen an den Seiten. So etwas konnte man in einem Kopierladen wie dem bestellen, in dem Charlie arbeitete.
»Das ist gestern Abend gekommen. Es ist nur ein Provisorium, bis wir ein richtiges Firmenschild haben.« Arthur zeigte auf den Schriftzug.
Dort stand CHARLIE
’S.
»Aber nur, wenn es dir recht ist.«
Charlie wurde die Kehle eng. Er befahl seinen Augen, sofort aufzuhören, ehe sie allzu feucht wurden.
»Ich bin so glücklich«, sagte sein Dad, der es gar nicht bemerkt hatte. Er legte Charlie eine Hand auf die Schulter. Die Geste war zögernd, als fürchtete er, Charlie könnte zusammenzucken. Charlie zuckte tatsächlich zusammen, weil ihn ganz verschiedene Gefühle völlig übermannten. Hoffnung und Freude, weil etwas Neues begann, die Gewissheit, dass sein Vater gerade ihre Zukunft verpfändet hatte, und das unangenehme Gefühl, dass hinter alledem aus Gründen, die er nicht kannte, das Spiel steckte. Aber dann drückten die Finger seines Vaters kräftig zu. Arthurs Hand lag fest auf Charlies Schulter, die Handfläche berührte ihn im Nacken. Das hatte Arthur früher oft getan, als Charlie noch klein war.
»Komm mit«, sagte sein Dad nach einer Weile. »Hilf mir, das Schild aufzuhängen.«
Alex’ Vater war am vergangenen Abend spät nach Hause gekommen. Er hatte länger gearbeitet aus Angst herauszufinden, dass Alex nicht bestanden hatte.
Bao Dinh verstand Alex nicht. Bao Dinh hatte keine Jugend gehabt. Er hatte Krieg, Hunger und Schlimmeres erlebt, aber seine Familie hatte ihm immer eine vertraute
Zuflucht gewährt. Alex hatte alles bekommen, was er brauchte, und trotzdem war er nie glücklich. Es war unbegreiflich. An wie vielen Abenden hatte Bao nach zehn Stunden Arbeit versucht, Alex Baseball beizubringen? Und nicht etwa, weil Bao Baseball irgendwie wichtig gewesen wäre, sondern weil er Alex wissen lassen wollte, dass sein Vater ihn liebte.
Als Alex nicht nach Hause kam, machten sich die Eltern zuerst Sorgen, bis sie die Nachricht erhielten, dass er bei Kenny übernachten wollte. Trotzdem konnte Bao nicht einschlafen, weil er es sofort verstand. Es bedeutete, dass die Prüfung nicht gut verlaufen war.
Mr. Dinh betrachtete den Gürtel auf dem Bett und schauderte. Ehe er schlafen ging, kniete er dort nieder und betete. Bitte, Gott, mach, dass er bestanden hat.
Er hasste den Gürtel, aber er hatte alles andere versucht. Freundlichkeit, Strenge, Belohnungen, Konsequenzen, Lob, Scham, Liebe, Furcht. Nichts hatte bei Alex gefruchtet. Er war wie Marmelade, die einem durch die Finger glitt. Wohin würde er nächstes Jahr gehen? Was würde er tun? Bitte, Gott, mach, dass er diese eine Prüfung bestanden hat. Dann wird er sehen, wie es weitergeht.
In dieser Nacht schlief Bao Dinh überhaupt nicht.
Doch als Alex am nächsten Morgen zerzaust eintraf und nach Erde und Regen roch, war Mr. Dinh makellos bekleidet, trank Orangensaft und las die Morgenzeitung, als hätte er acht Stunden geschlafen und wäre zu allem bereit.
Er blickte nicht einmal von der Zeitung auf, als er fragte: »Wie war die Prüfung?«