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Verlorener Traum
Direkt nach der schrecklichen Versammlung war Vanhi hinausgelaufen, um Alex zu suchen. Sie mochte ihn nicht besonders. Eigentlich konnte sie ihn überhaupt nicht leiden. Aber sie fürchtete, er könne sich etwas antun.
Sie schrieb Charlie, der sofort antwortete und ihre Ängste beschwichtigte.
Keine Sorge, er ist bei mir. Es geht ihm gut.
Vanhi schrieb zurück:
Gut?
Nicht gut, aber es geht so. Er ist in Sicherheit.
O. K. Wo seid ihr?
Heizungskeller. Komm runter.
Warum, um alles in der Welt, sollte Alex ausgerechnet dorthin gehen?
An den Ort seiner letzten Demütigung, wo er sich vor lauter Angst vor einem virtuellen Monster und realen Flammen in die Hose gemacht hatte?
Was wollte ihm das Spiel antun?
Doch sie ging hin, weil sie Charlie helfen wollte. Auch wenn ich ihm gerade ein Messer in den Rücken gejagt habe? Vergiss das. Vor einer Woche wollte er überhaupt nicht mehr nach Harvard.
Die Tür des Heizungskellers war bereits entriegelt, dieses Mal brauchte sie keinen mystischen Code. Sie betrat den dunklen Raum und rief Charlie. Es war stockfinster, nicht einmal die Notbeleuchtung war eingeschaltet. Ihre Stimme hallte hohl zwischen den Rohren und den vielen kleinen Nischen .
Hinter ihr fiel quietschend die Tür zu. Da erinnerte sie sich an den Kampf gegen die Hydra – und wie sich die Tür von selbst verriegelt und sie drinnen festgesetzt hatte.
Als niemand auf ihre Rufe antwortete, dämmerte ihr, dass man sie hereingelegt hatte.
Sie drehte sich um, lief zur Tür und erreichte sie im letzten Moment, bevor die Riegel einrasten konnten.
»Was für ein Dreck.«
Wieder summte ihr Handy.
Sind jetzt im Computerlabor. Komm rüber.
Sie knirschte mit den Zähnen, weil sie wusste, dass sie manipuliert wurde. Aber für den Fall, dass die anderen wirklich dort waren, musste sie dem Ruf folgen.
Auch dort war es dunkel, als sie eintrat, doch dann schalteten sich alle Monitore gleichzeitig ein. Sechzehn vernetzte Computer in einem Halbkreis. Der 50-Zoll-Monitor über der NanoStation war mit einem Mikroskop verbunden. Die anderen Flachbildschirme hingen über der Robotik-Abteilung und den Arbeitsplätzen für Elektronik.
Alle schalteten sich ein und zeigten das gleiche Bild.
Vanhi sah sich von hinten, wie sie sich vor dem Haus in der Tremont Street im Wald versteckte. Jemand hatte sie dabei mit einem Handy gefilmt. Es fühlte sich an wie ein Spiegel im Spiegel. Als sie sich selbst sah, wie sie das Haus beobachtete, entstand der Eindruck, auch jetzt müsse jemand hinter ihr stehen. Krishna? G.O.T.T.? Sie sah sich um. Sie war allein.
Die Bildschirme zeigten einen schnellen Vorlauf, die Sterne folgten am Himmel der Kreisbahn, und die Sonne ging auf. Im Video kam sie abrupt zu sich und ging beruhigt weg, weil das Haus nicht in die Luft geflogen war.
Die Zeit lief schneller. Das Haus in der Tremont Street blieb ruhig, bis endlich die Vordertür aufging und ein junger Mann mit einem geschienten Handgelenk herauskam .
Er betrachtete das Päckchen und sah sich nach links und rechts um. Sein Blick wanderte an der Kamera, die alles aufnahm, vorbei, ohne innezuhalten. Er kniete nieder, riss unbeholfen das Päckchen auf, setzte mit der unversehrten Hand die Schlüssel ein und klemmte mit dem anderen Ellenbogen das Päckchen fest. Er schnitt eine Grimasse, als er sich die verletzte Hand stieß.
Schließlich klappte er das Päckchen auf und nahm das zusammengeknüllte Zeitungspapier heraus. Dann blickte er hinein. Seine Miene war zutiefst erschüttert. Er zog etwas Schlaffes heraus. Vanhi brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass es eine Katze war. Leblos hing sie in seiner Hand, das Rückgrat war gebrochen. Sie hatte graue und schwarze Streifen und trug ein Halsband mit klimpernden Anhängern. Das Video hatte keinen Ton, aber anscheinend schrie er auf und presste sich das tote Tier an das Gesicht. Dann erschien hinter ihm eine Frau, offenbar seine Mutter. Es war eine schreckliche Szene. Die Katze hing über seinen Armen wie ein halb gefaltetes Hemd.
Vanhi weinte. Das Schluchzen kam aus einem Ort tief in ihrem Inneren. Nicht nur wegen der Katze mit dem gebrochenen Rückgrat, sondern auch wegen des Traums, der nicht wahr werden würde.
Sie schluchzte wegen der Tat, die sie begangen hatte, und der, die noch vor ihr lag.