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Petze
Alex fuhr auf dem kürzesten Weg zur Schule. Das war der letzte Ort, an dem Charlie oder sonst jemand ihn vermuten würde. Er ging direkt ins Computerlabor, wo der 3D-Drucker werkelte.
Ihm war klar, dass Charlie versucht hatte, die 911 anzurufen, um Bescheid zu sagen, dass Alex sich noch einmal etwas antun würde, aber das Spiel hatte den Anruf abgefangen, damit ihn niemand stören konnte. Es beschäftigte auch Vanhi und alle anderen, sodass er unbehelligt ins Labor fahren und das Projekt beenden konnte, bei dem ihn das Spiel Schritt für Schritt angeleitet hatte. Charlie war so sicher, dass Alex sich etwas antun würde, aber das war der unwichtigste Teil bei alledem. Am Rückhaltebecken hatte Alex versucht, das Richtige zu tun, doch nach dem gescheiterten Selbstmordversuch, als die Wand auf ihn zuraste, als er für den Tod bereit war, um den man ihn im letzten Augenblick betrogen hatte, war eine große Klarheit über ihn gekommen. Das Spiel hatte recht. Sich selbst umzubringen war der einfachste Ausweg. Er wollte nicht als einer von vielen Losern, die man bald wieder vergaß, in der Anonymität untergehen. Er würde ein Vermächtnis hinterlassen. Die Leute würden sich an ihn genauso erinnern wie an die Friends of the Crypt, und dabei schaudern.
Er nahm die neuen Teile aus dem Drucker und versteckte sie bei den anderen, die schon darauf warteten, zusammengesetzt zu werden. Allmählich begann das DMT
zu wirken.
Sein Selbstmordversuch war überstürzt gewesen, befeuert von unerträglicher Scham und Seelenqualen, weil das Foto von seinem Schwanz in der ganzen Schule kursierte. Andererseits hatte ihm dies auch einen willkommenen Vorwand geliefert, eine Ausflucht, um sich hinauszustehlen, ohne das Spiel wissen zu lassen, dass er vor allem Angst hatte, den großen Plan in die Tat umzusetzen. Jetzt war er froh, dass Charlie ihn aufgehalten hatte. Er sollte ihm dankbar sein. Es war besser so. Er würde ein Zeichen setzen.
Jetzt lag sein Leben in Gottes Hand.
Vanhi saß mit aufgeklapptem Laptop auf der östlichen Wiese an der Ziegelmauer. Die Computer im Labor hatten sie ausgesperrt. Sie spielten immer wieder das Video von dem Jungen ab, der seine zerschmetterte Katze wiegte, bis Vanhi es nicht mehr aushielt. Sie hatte es in der Bibliothek versucht, doch auch da hatten sich die Rechner nacheinander abgeschaltet. Schließlich hatte sie ihre Tasche aus dem Spind geholt und sich über ein VPN
und einen mobilen Hotspot von draußen mit ihrem Laptop eingeloggt. Doch sobald sie die Harvard-App aufrief, musste sie einsehen, dass sie nichts mehr ändern konnte. Alles war mit Zeitstempeln registriert. Ihr wunderschöner Aufsatz und der perfekte Notendurchschnitt verspotteten sie wie die Models auf dem Laufsteg, unerreichbar und unendlich weit entfernt.
Sie nahm das Telefon und wählte die Nummer des Zulassungsbüros.
Das Handy brach mitten im Freizeichen ab und sagte ihr:
Du kannst nicht vorbei!
10 Blaxx!!
Sie versuchte es noch einmal und drückte auf »Wahlwiederholung«.
Du kannst nicht vorbei!
1000 Blaxx!
!
Sie schnappte nach Luft. Inzwischen wusste sie, dass vierhundert Blaxx gleichbedeutend mit einem Ziegelstein und einem kaputten Fenster waren. Was war für tausend zu erwarten? Sie dachte an Kenny, der für achthundert beinahe von einem Auto überfahren worden wäre. Aber sie konnte nicht aufhören. Ihr war durchaus bewusst, dass sie impulsiv und geradezu manisch handelte, aber sie musste es wieder in Ordnung bringen. Sie musste mit der Bewerbung beginnen und von da aus rückwärts alles aufklären, bis sie wieder sauber war und auf Vergebung hoffen konnte.
Sie rief noch einmal an.
Es schellte zweimal, ehe die Verbindung abbrach.
Sie machte sich auf das Schlimmste gefasst.
Du kannst nicht vorbei!
100000 Blaxx!!
Hunderttausend? Sie bekam ein flaues Gefühl im Magen. Ein Sprung bis auf hunderttausend? In der Eile hatte sie den Multiplikationsfaktor vergessen. Wo war sie jetzt? Sie rechnete es zusammen: 101010?
Das Spiel verspottete sie. Sie erinnerte sich an den Streit mit Charlie.
Für dich muss die Welt immer schwarz oder weiß sein, für dich gibt es nur Einsen und Nullen.
Diese verdammte perverse KI
!
Das Programm wollte sie nicht nur aufhalten – es musste ihr vorher auch noch die Flügel ausreißen.
Aber irgendwann wurde ihr bewusst, dass es keine Rolle spielte. Zweitausendsechshundert Blaxx hatten Charlie eine Tracht Prügel mit einem Baseballschläger eingebrockt. Für achthundert war Kenny beinahe überfahren worden. Welche Rolle spielte es da noch, ob sie hunderttausend oder zehn Millionen auf dem Konto hatte? Tot war tot.
Also wählte sie noch einmal, weil es nichts anderes gab, außer es durchzuziehen
.
Das Telefon schellte und schellte, bis ihr ein schrecklicher Gedanke kam: Waren die Blaxx übertragbar? Vielleicht wirkte sich ihr Kontostand nicht nur auf sie aus. Vielleicht griff das Pech auch auf ihre Eltern über, auf ihre Freunde und auf Vik, der im ganzen Leben noch keine Sünde begangen hatte.
Sie wollte schon auflegen, als sich endlich doch noch eine Frau meldete. »Harvard College, Bewerbungsabteilung.«
Ihr Handy sagte:
Tu das nicht.
Petzen = unendlich viele Blaxx
Freier Wille!!!?
Freier Wille.
Darüber hatte Vanhi schon nachgedacht.
Ich bin Vanhi, die Göttin des Feuers. Ich kann erleuchten oder verbrennen.
Sie schloss die Augen. »Ich möchte etwas melden. Einen Hackerangriff auf das Zulassungssystem.«
Nach einer kurzen Pause antwortete die Dame: »In Ordnung.« Sie klang ruhiger, als Vanhi für möglich gehalten hätte. Fast, als hätte sie schon einmal so einen Anruf bekommen. »Einen Moment bitte.«
Der Anruf wurde durchgestellt, es klickte einmal, und Vanhi hörte währenddessen langweilige Musik. Sie war von einer stählernen Entschlossenheit erfüllt und stolz auf sich selbst.
Als sich der Mann meldete, erzählte sie ihm die ganze Geschichte, und sobald sie einmal begonnen hatte, strömte es nur so aus ihr heraus. Sie erzählte ihm von dem Spiel, den Noten in der Schule, dem Eingriff in die Aufsätze und die Punktestände. Der Mann hörte geduldig zu und sagte ab und zu »Ja, gut« oder »Oh-oh«. Er bat Vanhi, verschiedene Dinge noch einmal zu wiederholen, und sie hörte, wie er sich im Hintergrund Notizen machte. Dann bat er sie, ihren Namen zu buchstabieren, ließ sie die Adresse wiederholen und fragte nach der Identifikationsnummer ihrer Bewerbung
.
Als Vanhi endlich alles erzählt hatte, sagte der Mann: »Und als Nächstes musst du jetzt meinen Schwanz lutschen.«
Vanhi erstarrte. Es verschlug ihr die Sprache, und sie konnte nicht einmal antworten.
»Verstehst du das? Lutsch mir den Schwanz. Lange und fest. Petzen sind Miststücke, und Miststücke sind Petzen. Weißt du, was mit Verrätern passiert, du Fickstück? Weißt du das? Sie werden gefickt und durchgevögelt! Durchgevögelt und gefickt! Willst du gefickt und durchgevögelt werden, du Ratte?«
»Nein.«
»Tja, Pech gehabt. Die Sache ist gelaufen. Der Schaden ist angerichtet, kapiert? Du hast dich schon längst selbst gefickt. Ist das jetzt endlich angekommen, Petze?«
Es klickte, die Leitung war tot.
Vanhis Blick wanderte an der langen Mauer hin und her. Sie war allein, aber sie hatte das Gefühl, das könnte sich bald ändern.