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Laufgeschäft / Spiegelkabinett
Im Auto sagte Peter: »Ich muss dir was erzählen.«
Sie fuhren zu Charlie, wo er seine Sachen abholen wollte.
»Da wir schon über zweite Chancen reden, muss ich noch etwas gestehen.«
Charlie blickte weiter nach vorne. »In Ordnung.«
»Meine Mutter ist gar nicht gestorben.«
Charlie hätte beinahe das Lenkrad verrissen. Zum Glück war der Schreck schnell vorüber.
»Sie hat uns verlassen, als ich noch ganz klein war. Mein Dad hat allen erzählt, dass sie gestorben ist. Es tut mir leid.«
Charlie schwieg. Er starrte nur nach vorne und fuhr weiter.
»In gewisser Weise bist du der Glücklichere. Deine Mom wurde dir genommen. Meine wollte von sich aus weg.«
Sie hielten vor Charlies Haus an. »Ich bin gleich wieder da.« Er hielt inne. »Die Sachen über Tim – hast du sie schon gesendet?«
Peter nickte.
»Worum ging es denn?«
Peter lachte bitter. »Seine Eltern sind Gauner. Sie bestehlen die Bank, die ihnen gehört. Sie haben ihr Geld mit Trinken und Spielen verprasst. Stell dir das mal vor. Sie haben Glück und erben ein Vermögen, alter Geldadel, und dann verzocken sie es.«
»Sein Dad stiehlt? «
»Seine Mutter auch. Es reicht aus, damit sie beide ins Gefängnis kommen und alle Konten verlieren. Tims Treuhandvermögen ist auch weg.«
»Er schlägt Mary. Und er erpresst sie.«
»Mich musst du nicht überzeugen. Außerdem ist es schon raus. Jetzt liegt es nur noch beim Spiel.«
Peter wartete im Auto, Charlie ging nach drinnen. Der Wind pfiff ihm um die Ohren, als er zur Tür lief. Sein Dad war zu Hause und machte vor der Abendschicht eine kleine Pause. Er hob den Kopf. »Seit wann trägst du eine Brille?«
»Oh, schon eine ganze Weile.«
»Zum Mittagessen war mächtig Betrieb. Alle Plätze belegt. So voll war es noch nie. Charlie, wir machen das richtig.«
Er hatte entsetzliche Schuldgefühle. Sein Dad war so glücklich. Wenn der Plan der Vindicators funktionierte, würde er möglicherweise alles wieder verlieren. Wenn ihr Plan fehlschlug, würde mit Sicherheit alles verschwinden. Das Spiel würde Charlies Vater völlig niedermachen. So oder so würde sein Dad wahrscheinlich untergehen.
Vielleicht war das der ihm gebührende Platz in der Welt.
Charlie erschrak. Hinter seinem Dad stand jemand und sah zu. Ein Mann mit weißer Porzellanmaske und schwarzem Umhang. Beobachter, so hatte Peter sie genannt. Warum war ein Beobachter da? Was taten sie hier?
»Was ist los?«, fragte sein Dad, der von alledem nichts mitbekam.
»Nichts.«
Charlie spürte ein weiteres Augenpaar auf sich ruhen. Auf dem Balkon stand noch eine Gestalt und starrte herein. Weiße Maske, dunkle Augen.
Noch weitere kamen. Er spürte, wie sie zusahen. Irgendetwas war im Gange.
»Charlie?«, fragte sein Dad .
Hinter ihm leuchtete eine Hinweistafel auf, eine alte Reklametafel mit einer altmodischen Glühbirne, die ständig an und aus ging wie an einer heruntergekommenen Ecke des Broadway.
HIER ENTLANG sagte das Schild. Der Pfeil zeigte zur Treppe.
»Ich muss gehen«, sagte Charlie zerstreut.
»Was, du bist doch gerade erst …«
»Wir unterhalten uns später.«
Er ließ seinen verblüfften Dad einfach stehen. Auf beiden Seiten flankierten Charlie Gestalten mit Kapuzen, die ihn anstarrten.
NICHT VERPASSEN , sagte ein Schild oberhalb der Treppe. Eine stilisierte Hand wie im Varieté wies ihm den Weg.
Verunsichert stieg er die Treppe hoch, vorbei an den Gestalten, die dort schon warteten.
Der erste Stock war wie immer, die Azitek zeigte ihm keine Veränderungen wie in Peters Wohnung oder die Ranken und Spinnweben in der Schule.
Im oberen Wohnzimmer lief ein Fernseher. Das Spiel, der Sender oder wer auch immer zeigte eine Schauspielerin, die eine Grimasse schnitt und sagte: »Putzen? Meinst du so richtig mit einem Lappen?« Er ging daran vorbei ins Schlafzimmer seines Vaters, doch dort war es dunkel und still, und die meisten Gestalten versammelten sich hinter ihm in einem anderen Raum. Das Bild an der Wand im Elternschlafzimmer, ein billiger Druck von Sternennacht , dem Lieblingsbild seiner Mutter, zeigte leichte Turbulenzen, aber sonst war alles unverändert.
Als er am Bad vorbeikam, sah er sich im Spiegel.
Schließlich kehrte er in sein Zimmer zurück. Im Fernseher war jetzt Trump als gestaltwandelnde Eidechse zu sehen. Er sagte: »Ich hoffe, Russland findet die E-Mails … die Leute können hacken … ich hoffe, sie finden sie!« Weiter hinten im Flur blinkte ein Schild, die alten Glühbirnen leuchteten orange.
HIER DRÜBEN .
Charlie bekam es mit der Angst zu tun. Es waren viel zu viele Beobachter da. Sie drängten sich förmlich um ihn. Er konnte durch sie hindurchgehen, doch sie wichen aus und machten Platz.
Er ging zum Wäscheschrank, über dem jetzt ein Schild mit einem von hinten beleuchteten Pfeil hing, der nach unten wies.
SCHMUTZIGE WÄSCHE
Die Beobachter waren hinter ihm. Er wollte sie ignorieren, drehte sich dann aber doch um, weil er es nicht mehr aushielt. Sie waren alle da mit ihren schimmernden weißen Gesichtern, denen man nichts entnehmen konnte, und beobachteten ihn. Ich bin nicht euer verdammtes Spielzeug, wollte Charlie schreien. Er tat es nicht, weil er genau das war. »Nicht öffnen«, sagte jemand. Er wusste, wer es war, ehe er sich umdrehte. Die Stimme seiner Mutter hatte sich ihm unauslöschlich eingeprägt.
Die Beobachter winkten ihr, sie solle verschwinden. Charlie wusste nicht, ob durch sie eine unabhängige Intelligenz gesprochen hatte, die vom Spiel nicht beeinflusst wurde und einen eigenen freien Willen besaß, wie sie es ihm erklärt hatte, oder ob das Spiel durch sie sprach.
Die Beobachter wollten, dass er die Tür öffnete, also würde er es nicht tun. Aber es gab keinen freien Willen.
Fluchend, geplagt von der Neugierde, geschüttelt von Wut und Scham, dachte er: Zur Hölle mit dem freien Willen.
Er öffnete die Tür des Wäscheschranks.