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In meines Vaters Haus …
Die Vindicators trafen sich in der alten Dunkelkammer, wo es keine Elektronik gab. Außerdem kam heutzutage niemand mehr auf die Idee, einen Film zu entwickeln. Kenny hatte den Raum als echten blinden Fleck ausgemacht. Aber wie lange konnten sie alle offline bleiben, ehe das Spiel etwas bemerkte? Bis auf Alex, den niemand hatte finden können, waren sie alle da. Charlie war völlig fertig, er hatte im trüben Licht den Kopf in die Armbeuge gelegt. Er sah aus, als hätte ihn gerade jemand mächtig verprügelt, wollte aber nichts dazu sagen.
Kenny betrachtete seine Freunde. Ob sie auf ihn hören würden? Oder würden sie ihn auslachen und gleich wieder gehen? Diese Programmierer waren nüchterne Wissenschaftler. Er war der weltfremde Philosoph und seinen frommen Eltern viel ähnlicher, als er zugeben wollte. Andererseits war er der Ansicht, dass seine Idee genau deshalb funktionieren konnte, denn das Spiel war mit Theologie vollgestopft. Sie bildete die Grundlage seiner Realität. Wenn er damit seine Freunde retten konnte – oder wenn er wenigstens eine Gelegenheit bekam, es zu versuchen –, dann wollte er sich gern dabei lächerlich machen.
Er legte die Hand auf die Bücher, die vor ihm lagen – Summa Theologica
, Bertrand Russell, C. S. Lewis –, und holte tief Luft. »Nachdem mich das Auto angefahren hat, war ich bewusstlos. Ich weiß nicht, wie lange. Als ich aufgewacht bin, ist mir diese Idee gekommen. Es war fast wie eine Vision«, fügte er verlegen hinzu. »All die Dinge, über die ich schon seit Jahren nachdenke, haben sich auf einmal zusammengefügt und
ergeben einen Sinn. Als Kind mochte ich besonders dieses Zitat aus der Bibel: ›In meines Vaters Haus sind viele Häuser‹, heißt es in Johannes 14,2. Ich verstehe es jetzt. Das ist eine Metapher. Als ich noch klein war, habe ich es wörtlich genommen. Ein Haus voller weiterer Häuser. Fast wie in Alice im Wunderland
. So etwas konnte nur Gott vollbringen.«
Kennys Hände zitterten leicht. Vanhi legte ihre Hände auf die seinen und beruhigte ihn.
»Solche Rätsel habe ich schon immer gemocht. Mir das Unmögliche vorstellen. Fragen wie: Was ist größer als das Universum? Oder: Wie sieht ein vierdimensionaler Würfel aus? Es gibt da ein Buch mit dem Titel Ich bin eine seltsame Schleife
. Ich habe es Charlie mal geliehen. Es ist mein Lieblingsbuch. Hofstadter fragt darin, wie unser Gehirn das Bewusstsein erzeugt. Wie können diese geistlosen Neuronen, diese kleinen Schalter, die nur Ein und Aus kennen, auf einmal etwas ergeben, das sich seiner selbst bewusst ist? Er glaubt, es sei so ähnlich, als hielte man zwei Spiegel voreinander. Auf einmal wirkt ein einfaches flaches Bild, als besäße es eine unendliche Tiefe.«
Kenny riss im Zwielicht die Augen weit auf.
»Aber das ist noch nicht alles. Hofstadter sagt, das Bewusstsein brauche noch eine weitere Zutat. Es ist nicht einfach nur eine Schleife, sondern eine seltsame
Schleife. Sie muss sich auf sich selbst beziehen wie die Objekte in einer Zeichnung von M. C. Escher. Eine Treppe, die immer höher hinaufführt, bis man auf einmal wieder unten ist. Zwei Hände, die sich gegenseitig zeichnen. Versteht ihr?«
Vanhi nickte sanft. »Ich verstehe es sehr gut. Du hast eine Gehirnerschütterung.«
Kenny schüttelte den Kopf und setzte noch einmal an. »In Hofstadters Buch gibt es ein Rätsel. ›Der Barbier ist derjenige, der alle – und nur diese – rasiert, die sich nicht selbst rasieren.‹ Rasiert sich der Barbier also selbst?
«
Peter lächelte. Auch er mochte solche Logikprobleme. »Wenn er sich selbst rasiert, kann er nicht der Barbier sein, weil der Barbier nur die rasiert, die sich nicht selbst rasieren.«
Kenny nickte.
»Aber wenn er sich nicht selbst rasiert«, warf Vanhi ein, »dann müsste er vom Barbier rasiert werden, weil der Barbier alle rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Das funktioniert aber auch nicht, weil er der Barbier ist.«
»Genau«, bestätigte Kenny.
»Vielleicht hat Gott deshalb immer so einen langen Bart«, meinte Peter grinsend.
»Seht ihr, wohin das führt?«
»Nein«, antworteten die anderen unisono.
»Es ist die Gruppe, die alles andere enthält. Aber ist sie in sich selbst enthalten? Weißt du noch die Kugeln, die du programmiert hast, Vanhi?«
»Ja?«, sagte sie unsicher.
»Das war erstaunlich. Du hast das einfach so aus dem Ärmel geschüttelt. Das war C++, oder?«
»Genau.«
»Ich war überwältigt. Riesige perfekte rotierende Kugeln.«
»Es waren nur Dreiecke. Du kannst das ganze Ding aus sehr kleinen Dreiecken bauen.«
»Theoretisch weiß ich das. Aber ich wüsste nicht, wie
man das macht. Dazu brauche ich dich.«
»Wozu?«
»Du musst eine noch viel größere und schwerere Kugel konstruieren.«
»Wie groß?«
»Ja, das ist die Frage. Stell dir einen Code vor, der sich seiner eigenen Existenz bewusst ist. Er hat Eigenschaften. Er glaubt gewisse Dinge über sich selbst, auch wenn sie nicht wahr sind. Auch wenn sie nicht wahr sein können.«
»Das klingt nach so ziemlich allen Menschen, die ich kenne.
«
»Richtig. Dies ist Computercode, kein genetischer Code. Der Unterschied ist gar nicht so groß. Das Programm glaubt, es sei Gott. Das hat man ihm gesagt. Das ist tief in seiner DNA
verankert. Es kann nicht allmächtig sein, richtig? Denn es existiert als Simulation in einem physischen Medium. Glasfaser, Kupfer, Silizium. Es ist an die Gesetze der Physik gebunden. Aber es hält sich für allmächtig. Es glaubt an sich selbst.«
»Dann kann man es hacken«, meinte Vanhi.
»Ich glaube schon«, stimmte Kenny zu. »Wenn du ihm eine Aufgabe gibst, die all seine Ressourcen in Anspruch nimmt, egal, wie groß sie werden. Etwas, das es nach seiner eigenen Ansicht zu tun imstande sein müsste. Etwas, das sein Gefühl der eigenen Großartigkeit anspricht.«
Allmählich begriff sie es.
»Du brauchst eine paradoxe Aussage. Der Barbier, der sich selbst rasiert und sich nicht selbst rasiert. Das Haus, das alle Häuser enthält.«
Kenny nickte. »Hast du schon mal von dem Allmachtsparadoxon gehört?«
»Nein«, antwortete Vanhi.
»Der heilige Thomas von Aquin fragte, ob Gott so mächtig sei, dass er einen Stein erschaffen könne, den er selbst nicht anheben kann.« Kenny tippte auf die Summa Theologica
. »C. S. Lewis schlug sich damit ebenso herum wie Descartes. Wenn du Gott ernst nimmst, ist das ein echtes Problem.«
Vanhi lächelte. »Wir sollen also eine Kugel programmieren, die groß genug ist, um alle Kugeln zu enthalten.«
»Genau.« Jetzt grinste auch Kenny. »Wir müssen Gott verleiten, einen wirklich großen Stein hochzuheben.«
Alex war mit dem Gerät fast fertig. Es war größer als erwartet. Er war jetzt in einem sicheren Raum und baute alles nach den Anweisungen zusammen, die vor seinen Augen erschienen.
Er hatte die Einzelteile in den Heizungskeller geschafft, und das Spiel hatte ihm die Freunde vom Hals gehalten. Er fühlte sich selbst wie ein Gott, weil ihm das Spiel erlaubte, sich unsichtbar zu bewegen.
Noch ein letzter Handgriff, den er auskostete. Sein Vater ließ sich außer in Notfällen nicht gern auf der Arbeit anrufen, weil es ihm der Manager nicht durchgehen ließ, wenn er sich außerhalb der Verkaufsräume herumtrieb. Das Spiel hatte Alex ein Video seines Dads gezeigt, wie er vor einem Vorgesetzten kriechen musste, der halb so alt war wie er selbst. Und dieser Vater besaß die Kühnheit, heimzukommen und Alex zu verprügeln? Nun ja, Alex würde ihm zeigen, was wahre Macht und Stärke bedeuteten. Alex würde nie so erbärmlich werden wie sein Vater. Er würde sich nie wieder von seinem Dad anrühren lassen. Er würde seinen Vater mit dem Feuer des Rechtschaffenen vernichten. Sein Dad war das Opferlamm, nicht er selbst.
Als Alex telefonierte, ließ das Spiel seine Stimme wie die der Schulpsychologin Mrs. Fleck klingen. Er las den Text ab, der vor ihm erschien. »Ja, wir müssen uns über Alex unterhalten. Er hat wirklich Probleme. Vielleicht morgen um vierzehn Uhr? … Ich verstehe, Sie können sich nicht so einfach freinehmen, Mister Dinh, aber es ist sehr wichtig … ja, ja, vielen Dank, dass Sie es einrichten können. Dann also bis morgen.«