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Spiegel in Spiegeln
Sie arbeiteten unter dem roten Licht im Kreis, die Laptops waren über ein gesichertes Intranet verbunden. Gelegentlich meldete sich einer von ihnen ab und ging online, weil sie hofften, auf diese Weise vor dem Spiel ihre Abwesenheit zu verschleiern. Die Formel für die Allwissenheit fanden sie im Oxford Handbook of Philosophical Theology:
S ist allwissend = df für jede Aussage p, wenn p wahr ist, gilt, dass S p weiß.
Das erinnerte ihn an etwas. Das Spiel würde mit großer Sicherheit bemerken, dass sie sich versteckten. Als Charlie an der Reihe war, auszusteigen und sein Handy einzuschalten, wartete schon eine Nachricht vom Spiel auf ihn:
Wo bist du?
Er wusste nicht genau, was er dazu sagen sollte, und beschränkte sich auf: Ich bin hier, ich lerne. Dann klinkte er sich wieder bei seinen Freunden ein.
Sie übersetzten den logischen Satz über die Allwissenheit in die Programmiersprache. Sie erschufen den Vektor, dieses unschuldige Stückchen Vorauswissen, das sie im alten Code verbergen würden, bis seine Wahrhaftigkeit auf die Probe gestellt werden sollte. Sie redeten dem Gottesspiel ein, es habe gestern vorhergesagt, dass es morgen um Φ Uhr nachmittags einen Codeabschnitt abarbeiten würde, dessen Signatur auf exakt diesen Moment Bezug nahm, und die Anweisungen würden die Software veranlassen, etwas zu tun, das nur sie zu tun vermochte: eine Kugel erschaffen, in der alle Kugeln Platz fanden .
Sie wählten Φ , weil das Symbol des Goldenen Schnitts ihrer Ansicht nach der Großartigkeit des Spiels und dessen Glauben entgegenkam, es habe das Universum mit allen Pyramiden und Galaxien erschaffen. Außerdem war es eine irrationale Zahl, die ohne Wiederholungen unendlich lang war. Das bedeutete, dass das Spiel beträchtliche Ressourcen darauf verwenden musste, auf den Punkt zu kommen, und von dem trojanischen Pferd abgelenkt wurde. Das hofften sie jedenfalls. Sie verfeinerten die Idee, während sie daran arbeiteten. Ihre Theorie war, dass ihre Aussichten umso besser waren, je mehr Kaninchenfährten sich in der Unendlichkeit verloren. Es sah in etwa so aus:
Einsen bis in alle Ewigkeit. Keine Nullen.
Der Wert von Φ war annähernd 1,6180, was man als ein Uhr, einundsechzig Minuten und achtzig Sekunden, also etwa 02:02:20 Uhr am Nachmittag auffassen konnte. Damit hatten sie genug Zeit, den Vektor zu programmieren, einzupflanzen und zu warten, bis er sich ausgebreitet hatte.
»Es weiß, dass etwas im Busch ist«, warnte Charlie die anderen. »Passt auf, wenn ihr rausgeht.«
»Mag sein«, antwortete Peter. »Es hat eine Menge zu verarbeiten. Aber vielleicht konzentriert es sich gar nicht so sehr auf uns.«
»Hat es sonst noch jemanden gefragt, wo er ist?«, fragte Kenny .
Niemand bejahte die Frage.
»Gut«, sagte Peter. »Vielleicht sind wir im Augenblick wirklich nur die Nadel im Heuhaufen.«
Oder, dachte Charlie, das Spiel wusste längst Bescheid und wartete nur auf den richtigen Augenblick.
Peter und Vanhi übernahmen die Leitung und teilten Charlie und Kenny, die nicht so gut programmieren konnten, die Arbeiten zu.
»Das ist schon witzig«, meinte Vanhi, als sie tippten. »Alle Götter im Spiel sind männlich. Ist euch das auch schon aufgefallen?«
Charlie nickte, ohne den Blick vom Monitor zu wenden, auf dem der Code in Echtzeit vorbeiflog.
»In der Geschichte gab es so viele Göttinnen«, fuhr Vanhi fort. »Isis, Arinna, Mazu, Aphrodite. Aber in dem Spiel tauchen sie nicht auf.«
»Das sind klassische Gottheiten«, überlegte Kenny. »Heute gibt es niemanden mehr, der sie anbetet.«
»Ich glaube, das Spiel berücksichtigt die Zahl der Gläubigen.«
»Oder es wurde von Männern geschrieben«, konterte Vanhi.
Peter zuckte mit den Achseln.
»Das hacken wir jetzt in gewisser Weise ebenfalls«, erklärte Vanhi. »Es ist ja sehr männlich zu glauben, man wüsste alles.«
»Wie die Weigerung, nach dem Weg zu fragen«, fügte Kenny hinzu.
»Genau. ›Ich führe den Code jetzt aus, weil ich gesagt habe, dass ich es mache, verdammt noch mal.‹«
»Ich wünschte, es gäbe mehr Göttinnen auf der Welt«, sagte Kenny.
»Nein, ich bin fertig mit den Gottheiten«, erwiderte Vanhi. »Wir brauchen einfach nur mehr Frauen, die programmieren.«
Nun war Peter an der Reihe, sich abzumelden und dem Spiel das Gefühl zu geben, die Vindicators seien alle da. Er überprüfte das Auge Gottes, und was er sah, brach ihm das Herz. Caitlyn wollte morgen Abend draußen im Wochenendhaus ihrer Eltern am See eine Party geben. Sie hatte die üblichen Leute eingeladen. Peter war natürlich nicht dabei, aber das war noch nicht alles. Auch Kurt war nicht erwünscht. Er stand nicht auf der Liste. Dafür hatte sie Joss Iverson – Tims und Kurts Footballkumpel – mehrere Textnachrichten geschickt, die Peters Blut zum Kochen brachten:
Du bist ziemlich heiß
Was ist mit kurt?
Was soll mit ihm sein?
Äh er ist dein Freund
Nicht mehr
Habt ihr euch getrennt?
Ja … ich bin frei … falls du Manns genug bist!
Oh mach dir deshalb keine sorgen
Komm morgen abend zu meiner party
garantiert
Joss war … Joss war Kurt. Er war Kurt 2.0. Also ungefähr so etwas wie Tim 3.0. Peter ballte die Hände zu Fäusten. »Verdammt. VERDAMMT !« Caitlyn hatte ihm gesagt, dass sie Kurt nicht seinetwegen verlassen würde. Aber jetzt war Kurt fort, der Weg war frei, und sie wollte ihn immer noch nicht? Musste er wirklich von eins bis eintausend jeden Idioten in der sozialen Hierarchie niedermachen, bis sie endlich bei ihm landete?
Nein, dachte er. Er befand sich nicht einmal auf dieser Bestenliste. Er war ein Außenseiter. Eine imaginäre Zahl. Er würde niemals in ihr Beuteschema passen.
Peter rief das Spiel auf und betrachtete die Nachrichten, die er ihr gelegentlich geschickt hatte, manchmal sogar, wenn sie zusammen waren, damit sie sah, dass sie nicht von ihm kamen. Eine seiner liebsten betrachtete er etwas länger:
Du bist FET T
Er wusste, dass er sie damit getroffen hatte, weil er ihr Gesicht durch die Handykamera beobachten konnte, als sie die Nachricht las. Sie löschte sie und tat so, als ignorierte sie das vernichtende Urteil, stand aber wenige Minuten später vor dem Spiegel und kniff sich in den Speck, der überhaupt nicht vorhanden war.
Er schickte eine weitere seiner Lieblingsnachrichten ab:
Kleine Titten!
Sie tippte zurück:
Wer bist du? Lass mich in Ruhe.
Peter wusste, dass sie heute Abend im Spiegel ihre schönen kleinen Brüste anstarren würde. Du siehst mich, wenn du dich selbst ansiehst, dachte Peter. Ich bin der Mann hinter dem Spiegel.
Dann beschloss er, sich selbst zu foltern.
Er rief die Tonaufnahme von Charlie und Mary auf, als sie sich im Wald geküsst hatten. Mehr hatte das Spiel ihm nicht gegeben. Er hatte nichts weiter gefunden, aber es reichte völlig aus. Es war Gift. Dieser Kuss zerfraß ihn innerlich, als er sich die Szene immer wieder anhörte. Er und Charlie waren mutterlose Verlierer, die anderswo, in einer besseren Welt, Könige gewesen wären. Warum hatte Charlie Erfolg, während Peter scheiterte?
Da wurde ihm bewusst, dass seine Augen wässrig wurden. Das kam nun überhaupt nicht infrage. Geheimnisvolle einsame Wölfe weinten nicht. Nicht in der Schule. Vielleicht auf dem Motorrad, wenn sie ohne Helm mit hundert Meilen über den Highway rasten, oder im Schoß ihrer Mädchen, die dabei denken konnten: Das zeigt er nur mir.
Er wischte sich die Augen und dachte an seine Mutter, die ihm schon damals, bevor sie gegangen war, gesagt hatte: »Bei dir ist eine Schraube locker. Genau wie bei deinem Vater. In deinem Inneren fehlt etwas.«
Sie hatte recht. Dort fehlte Schwäche. Die Tränen waren schon vor langer Zeit versiegt .
Vanhi sagte: »Was ist denn mit dir los?«
Charlie hob nicht den Kopf. Der Code war beruhigend. »Nichts.«
»Leck mich doch.« Sie packte ihn und zerrte ihn den langen, leeren Flur hinunter. »Was ist passiert? Spuck’s aus.«
»Ich habe etwas gemacht. Es könnte meinem Dad wehtun.«
»Was denn?«
»Genau weiß ich es nicht. Ich habe nur eine Frage beantwortet. Ehrlich, glaube ich.« Charlie sah sie an. »Was ist ehrlicher: Wie du dich in dem Augenblick fühlst, wenn etwas passiert, oder wie du dich später fühlst, wenn es abgeklungen ist?«
Vanhi schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist beides wahr.«
»Das kann nicht sein. Ja und Nein kann nicht gleichzeitig wahr sein.«
»Charlie, was ist passiert?«
»Als ich sagte, dass ich meinen Dad liebe, wurden seine Träume wahr. Was passiert, wenn ich sage, ich liebe ihn nicht?« Charlies Stimme bebte. »Ich habe ihn angerufen und ihm gesagt, er soll aufpassen. Dabei wusste ich nicht einmal, wovor ich ihn warnen wollte.« Charlies Stimme brach.
Vanhi drückte ihn einen Moment und streichelte ihm über die Haare. »Wir unterbinden das auf die einzige Art und Weise, die uns bleibt.«
»Ich weiß.«
Vanhi wischte ihm die Wangen trocken. »Ich habe dir etwas angetan.«
Charlie hob den Kopf. Vanhi war der letzte Mensch auf der Erde, der ihn hintergehen würde. »Ich will es nicht wissen.«
»Ich habe deine Harvard-Bewerbung geschrottet.«
»Was?«
»Die Bewerbung, die du angeblich gar nicht abgeschickt hast. Ich habe sie gefunden und geschrottet, damit meine besser aussieht.«
Charlie starrte sie nur an .
Sie starrte zurück und hielt den Blick.
»Aber ich … es sah doch gerade alles so …«
»Ich weiß. Das Spiel hat mich vor die Wahl gestellt, und ich habe mich entschieden.«
Charlie nickte. »Ich auch.«
»Wir müssen es zerstören. Wir müssen es in seine Einzelteile zerlegen.«
»Alles klar.«
Er wollte in die Dunkelkammer zurück, doch sie hielt ihn auf.
»Charlie, wir sind alle im Arsch. Du, ich, dein Dad. Das heißt aber nicht, dass wir es nicht wert sind, geliebt zu werden.«
»Schon gut. Jetzt komm. Lass uns weiterarbeiten.«
»Nachher. Ich muss Vik abholen.«
»Ich bring dich zum Auto.«
»Charlie, ich habe dir doch gesagt, dass ich keinen Schutz brauche.«
»Na gut.« Er umarmte sie, ehe er wieder hineinging. »Na gut.«
Aber es war nicht gut. Es war überhaupt nicht gut.