83
Drachenhöhle
Als die Vindicators am nächsten Morgen aus der Dunkelkammer kamen, riefen die Lautsprecher Charlie und Peter abermals in Mrs. Morrisseys Büro.
Sie waren übernächtigt und erschöpft. Sie hatten ihren Eltern erzählt, sie wollten beim jeweils anderen übernachten, und die symmetrischen Lügen hatten funktioniert.
Getrieben von Angst und Verzweiflung, weil sie Vanhi retten wollten (Falls sie noch lebt – sie muss noch leben!)
, hatten sie die ganze Nacht über programmiert. Ihr Virus war fast fertig. Der Code kompilierte gerade, und später wollte Kenny wegschleichen und ihn ins System einspeisen. Ihrer Berechnung nach sollte es mehrere Stunden dauern, bis sich das Programm in die Eingeweide des Gottesspiels vorgearbeitet hatte, sich ausbreitete und sein Werk vollbrachte. So konnten an mehreren Stellen aus ihren Kuckuckseiern die Küken schlüpfen, bis die Suchbots, die die riesigen Bibliotheken mit totem Code durchforschten, mit einer hohen statistischen Wahrscheinlichkeit die eingepflanzten Erinnerungen finden würden. Falsche Erinnerungen an frühere Vorhersagen, eine Art selbstbezügliche Bekräftigung: Was ich gesagt habe, gilt.
Der Lautsprecher verstummte. Charlie und Peter wechselten einen Blick. Warum rief Morrissey sie zu sich? Das Spiel war jetzt am Zug. Sie gingen zu den Spinden und holten ihre Geräte. Charlie betete, dass inzwischen schon eine Antwort von Vanhi eingegangen war:
Alles klar bei dir
?
Alles klar. Nun sei nicht so ein Weichei.
Er hatte keine neue Textnachricht. Nur eine Million verpasste Anrufe von Vanhis armer aufgelöster Mutter.
Peter kam mit geschultertem Rucksack. »Bereit?«
»Nicht wirklich.«
Zusammen gingen sie den Flur hinunter zur Höhle des Drachen. Die Schüler, an denen sie sich vorbeischoben, starrten sie an. Einer von ihnen machte dümmlich »Oh-oh!« und drohte mit dem Zeigefinger. Charlie bemühte sich unterdessen, die unanständig zahlreichen Wahlplakate mit seinem Bild zu ignorieren, die von den Wänden herabstarrten, so weit das Auge auf dem langen Flur reichte.
Unterwegs flüsterte Peter: »Das wird nicht klappen.«
»Was meinst du?«
»Unser Virus.«
Charlie hieß ihn schweigen. Sie hatten zwar die Handys in den Rucksäcken verstaut, aber trotzdem fürchtete er, sie könnten belauscht werden.
»Es weiß Bescheid. Natürlich weiß es längst Bescheid«, meinte Peter.
»Wie denn? Wir …«
Peter lächelte traurig. »Es kann uns aus einem Kilometer Entfernung durchschauen.«
»Du hast ja nicht sehr viel Vertrauen in uns.«
»Du hast viel zu viel.«
Charlie hatte die ganze Nacht neben Peter gehockt und ihm zugeschaut, wie er Probleme im Code löste, nachdem er sie davor bewahrt hatte, Allmacht ohne Allwissenheit zu hacken.
»Warum hast du uns überhaupt geholfen, wenn du so sicher bist, dass es nicht funktioniert?«
»Das weiß ich auch nicht, Charlie. Ich glaube, ich will versuchen, mehr so zu sein wie du.« Peter dachte nach. »Großen Spaß macht das leider nicht.
«
Schon standen sie vor Morrisseys Tür.
»Setz die Brille auf«, sagte Peter. »Das wird übel.«