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Virus
Bis Kenny wieder in der Schule eintraf, hatte das Virus reichlich Zeit gehabt, sich zu verbreiten und in entlegenen Bereichen des Codes einzunisten. Es verankerte sich in der Vergangenheit, wo nichts Schlimmes geschehen konnte, weil sie schon vorbei war. Es sei denn, sie lagen richtig und Thomas von Aquin und C. S. Lewis hatten ihnen den richtigen Weg gewiesen. Kenny schloss das Fahrrad ab und traf sich wie geplant hinter den Müllcontainern, wo es hoffentlich keine Kameras gab, mit Charlie.
»Hat es funktioniert?«
»Ich glaube schon«, antwortete Kenny.
»Wie lange noch?«
Kenny sah auf die Uhr. »Bald. Es müsste bald so weit sein.«
»Dann gehen wir jetzt wieder online.«
Als Charlie die Azitek aus dem Spind holte und aufsetzte, schauderte er, weil er überall Spieler entdeckte. Es gab alle möglichen Arten von Avataren – Schimären, Figuren aus Spielen und Graphic Novels und Beobachter, die sich mit ihren Masken und Umhängen zwischen ihnen bewegten. Sie waren überall, mehr Spieler, als er je an einem Ort versammelt gesehen hatte. Sie mischten sich unter die Schüler und bewegten sich mit der Menge. Hatte Peter am Ende doch recht? Wusste das Spiel von ihrem Virus? Niemand schien ihn besonders zu beachten. War noch etwas anderes im Gange? Charlie dachte bei sich, so viele Spieler würden sich nur versammeln, wenn es etwas Spektakuläres zu beobachten gäbe
.
Kenny kam von seinem Spind zu ihm herüber. »Hey.« Als er die Azitek aufsetzte, rief er: »Herr im Himmel!« Direkt vor ihm stand Charlie, durch die Brille gesehen mit weißer Maske und schwarzem Umhang.
»Was ist?« Charlie hatte keine Ahnung, wie er aussah.
Kenny schüttelte den Kopf. »Ich hatte ganz vergessen, dass du jetzt … einer von ihnen bist.«
Charlie betrachtete seine Hände und erschrak. Sie waren spindeldürr und steckten in schwarzen Lederhandschuhen, die in den Ärmeln des dunklen Umhangs verschwanden.
Kenny zeigte auf den Strom der Spieler, die an ihnen vorbeigingen. »Warum sind die alle hier?«
»Keine Ahnung.«
»Ob wir ihnen folgen sollten?«
Charlie nickte. Er hatte eine Ahnung, die aber zu schrecklich war, um sie wirklich hochkommen zu lassen.
Was auch geschah, die Kunde hatte sich weitverbreitet, wenngleich nicht bis zu ihm. Dabei war er doch ebenfalls ein Beobachter, oder? Warum blieb ihm dann die Neuigkeit vorenthalten?
»Ich weiß jetzt, was das Spiel tut«, flüsterte Charlie Kenny zu, als sie die Treppe hinaufstiegen und dem Strom der virtuellen Besucher folgten, die sich auf den Fluren herumtrieben. »Es betreibt Crowdsourcing mit der Moral. Es erzeugt verschiedene Situationen, um zu sehen, wie die Spieler gegenseitig ihre Entscheidungen bewerten.«
»Das ist krank«, meinte Kenny, als sie um die Ecke bogen. »Wenn das die Art und Weise ist, wie Moral funktioniert, heißt unser nächster Präsident Donald Trump.«
Anscheinend waren die Spieler zum zweiten Stock unterwegs. Charlie und Kenny eilten ihnen hinterher und drängelten sich an den Schülern vorbei, die in die andere Richtung wollten. Als sie jedoch das Treppenhaus erreichten, sahen sie, dass die Spieler sich in unterschiedliche Richtungen verteilten wie Strudel in einem Strom
.
»Wohin sollen wir jetzt gehen?«, fragte Charlie.
»Da ist es!«, rief Kenny. »Schau nur!«
Der Ziegenbock Azazel hinkte schlimmer denn je den Flur hinunter. Man hatte ihn geschlachtet und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Er war verkohlt und ausgemergelt, nur noch ein geschwärztes Skelett, das über den Flur stakste. Bekümmert sah er sie an, als wollte er sagen: Oh, verdammt, ihr Ärsche schon wieder?
»Wir müssen ihm folgen«, drängte Kenny.
»Nein«, gab Charlie zurück. »Ich glaube, das ist eine Ablenkung.«
»Vertrau mir, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war es wichtig.«
»Ach, verdammt, ich weiß auch nicht.«
Sie folgten der Ziege, die den Raum 233 ansteuerte, wo Abraham erschienen war. Auf der Türschwelle ließ Azazel sich erschöpft nieder, als könnte er es nicht ertragen, hineinzugehen und an den Schauplatz seines rituellen Opfergangs zurückzukehren.
Charlie und Kenny traten ein.
Statt des Vorratslagers für den Kunstunterricht, den Kenny beim letzten Mal gesehen hatte, zeigten ihnen die Aziteks jetzt einen dunklen und ungeschmückten Raum, bis abrupt das Licht aufflammte und Musik einsetzte. Die fröhliche Spielshowmelodie klang hier und dort ein wenig schräg wie eine durch den Fleischwolf gedrehte Erinnerung. Die Melodie war eine gebündelte Perversion unzähliger Titelmusiken. Das Tempo wurde langsamer und schneller. Ein Leierkastenmann, der von seinem Affen abgelenkt wurde. Auf einmal flammten Scheinwerfer auf und umschrieben ihre Bühne, sodass für sie nur die erste Zuschauerreihe sichtbar war, aus der ihnen weiße Porzellangesichter entgegenstarrten. Schon ergriff der Ansager das Wort.
Die Stimme klang zugleich vertraut und künstlich. Wenn echte Ansager absichtlich nicht menschlich wirkten, dann war
diese Stimme deren perfekte Quintessenz. So generisch, dass es jede und überhaupt keine Stimme mehr war:
»Willkommen, Freunde. Es ist Zeit für unsere neueste Show namens …«
Fröhlich und strahlend erschien vor ihnen der Titel der Show, als wäre das ganze Leben nur ein Spiel:
MUSS VANHI STERBEN?
Das unsichtbare Publikum rief jubelnd ihren Namen.