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Alle müssen sterben
Alex’ Dad traf in der Schule ein. Er war spät dran, steuerte viel zu schnell einen weit entfernten Parkplatz an und fummelte mit den Schlüsseln herum. In der Ferne ragte die Schule auf, ein riesiger hellbrauner Bau. Er war tief erschüttert. Alex machte schon immer Probleme, aber ausgerechnet jetzt hatte sich ein Lehrer die Zeit genommen, den Vater einzubestellen? Die Lehrer hatten Alex schon vor Jahren abgeschrieben. Er hatte keine Ahnung, warum es gerade jetzt und erst so spät geschah, aber es war beinahe ein Hoffnungsschimmer. Auf einmal sah er seinen Sohn in einem etwas anderen Licht.
Er warf einen Blick auf die Uhr und fluchte. Der Manager hatte ihn trotz allen Flehens, dass er einen Lehrer seines Sohnes sprechen musste, länger aufgehalten. Es war demütigend, als erwachsener, fünfundsechzigjähriger Mann auf diese Weise Befehle annehmen zu müssen. In dieser Hinsicht hätte Mr. Dinh Alex nicht widersprochen. Die Frage, die Alex sich nie stellte, war allerdings die, warum
Mr. Dinh sich solche Demütigungen gefallen ließ. Für wen?
Im Laufschritt eilte Bao zum Haupteingang. Hinter den Fenstern sah er Schüler, die auf das Schellen der Schulglocke warteten. Er stellte sich den armen Alex vor, der in dieser Menschenmasse ganz allein war, und entwickelte auf einmal zärtliche Gefühle. Er wünschte, er könnte Alex in die Arme nehmen und ihn vor der Welt beschützen.
Allerdings wusste Bao, dass er das gar nicht konnte
.
Verglichen mit dem, was Bao früher erlebt hatte, war dies das Paradies. Andererseits war es alles, was Alex je erlebt hatte, und als Bao es jetzt sah, verstand er dessen Schmerz.
Also suchte Bao Dinh seinen Sohn und nahm sich vor, etwas Freundliches zu sagen.
Das Virus war tot, und die Beobachter waren überall und lachten.
Das Konservenlachen, der Beitrag der Zuschauer, hallte in den Aziteks.
Das Spiel zeigte ihnen Tausende Spieler, die gekommen waren, um die Zerstörung einer Schule zu beobachten. Mitten durch sie hindurch lief Mr. Dinh die Treppe hinauf. Charlie und Kenny wechselten einen Blick.
»Was will denn sein Dad hier?«, fragte Charlie.
»Sind die Spieler etwa deshalb da?«
»Was wollen sie sehen? Will er sich wieder etwas antun? Vor seinem Dad?«
»Oder …« Kenny brachte es nicht über sich, den Gedanken auszusprechen.
Charlie begriff es sofort.
Alles, was jetzt passiert, ist deine Schuld,
hatte Alex gesagt. Charlie lief es kalt über den Rücken. »Er wird sich nicht selbst wehtun. Oder nicht nur.«
»Seinem Dad auch?«
»Vielleicht noch viel mehr Leuten.«
Charlie schrie den Spielbildschirm an: »Wo ist er?«
Das Spiel ignorierte die Frage.
»Du hast gesagt, ich sei jetzt ein Beobachter. Du hast gesagt, ich hätte es verdient. Zeig mir, wo er ist.« Endlich gehorchte das Spiel. Es projizierte die Umgebungskarte, auf der Alex’ Standort zu sehen war.
Der Punkt, der den Vater darstellte, bewegte sich in das Gebäude hinein. Gleich würde etwas geschehen, was es auch war. Sie sprangen auf und liefen zur Tür, die jedoch von außen
versperrt war. Charlie warf sich dagegen, zerbrach das Schloss und drückte sie auf. Sie rannten den Flur hinunter, vorbei an den Klassenzimmern voller Schüler. Vor ihnen löste das Spiel jedoch über WLAN
die Brandschutztüren aus, die erst im letzten Jahr eingebaut worden waren. Die Stifte fielen herab, und die schweren Türen knallten zu und sperrten sie ein. Charlie rammte sie, doch sie waren massiv. Er prallte wirkungslos ab.
»Komm«, sagte Kenny. Sie rannten in die andere Richtung, aber am Ende des Flurs löste die zweite Brandschutztür aus und versperrte ihnen den Weg.
In ihren Aziteks verkündete das Spiel:
Alle müssen sterben
»Lauf!«, schrie Charlie.
Aus einem Raum schaute eine Lehrerin heraus, die den Lärm gehört hatte. Sie ignorierten die Rufe und rannten zur 233 zurück. Das Spiel erhöhte die Spannung in den Lampen, bis die Leuchtstoffröhren platzten und die Funken stoben. Charlie ging zum Fenster und öffnete es. Der Boden lag zehn Meter unter ihnen, doch unter einem Fenster stand ein Müllcontainer, der ihren Aufprall dämpfen konnte.
Kenny sah ihn an und schluckte. »Die Schwerkraft kann man nicht hacken.«
Sie sprangen zusammen, prallten auf den Deckel des Containers, der ein wenig nachgab und den Aufprall etwas abfederte. Dann rutschten sie herunter und liefen zum Keller. Unterwegs löste Charlie den Feueralarm aus, um die ganze Schule zu warnen, dass irgendetwas Übles geschah – Alle sofort raus!
–, doch das Spiel blockierte den Alarm.
Sie rannten hinunter zum Heizungskeller und hämmerten gegen die Tür. »Alex! Alex, wir sind es.«
In den Aziteks erlaubte ihnen das Spiel einen Röntgenblick durch die Tür, als wollte es sich über sie lustig machen: Mit Tränen in den Augen, gehetzt und verloren, von Christus umarmt, kniete Alex vor der Bombe.