97
Brennender Mann
»Wo bist du?«, rief Charlie, während er sich mit erhobenem Messer durch die Dunkelheit tastete. Irgendwo knarrte es wieder.
»Hier bin ich«, antwortete jemand.
Die Stimme war irgendwie falsch. Charlie konnte nicht genau sagen warum – sie klang ruhig und freundlich, trotzdem sträubten sich ihm alle Nackenhaare.
Er tastete im Dunkeln und fand einen Holztisch. Er stand jetzt vor der hinteren Reihe der Nischen, die entlang der Ziegelmauer, wo tot und erloschen die Neonreklame hing, eine Stufe höher als der Boden eingerichtet waren. Vorsichtig ging er zwischen den Tischen entlang und entfernte sich rückwärts von der Stimme. Als der Boden unter seinen Füßen knackte, fluchte er stumm.
Die Stimme klang dünn und nasal. Der Sprecher atmete durch den Mund, das konnte man im Dunkeln deutlich hören. Das gedehnte Ausatmen, das scharfe Einatmen, lauernd wie bei einem Reptil.
»Hier bin ich«, sagte er noch einmal. Es klang nach einem Inquisitor, der daran gewöhnt war, in beengten Räumen zu flüstern und mit Verdammnis zu drohen, während sich zu seinen Füßen unter dem Gewand eine Schlange ringelte.
Charlie packte das Messer so fest, dass ihm die Hand wehtat. Er hatte das glänzende Ding aus dem hölzernen Block gezogen wie ein junger Arthur, der den eigenen Wert prüfen wollte. Jetzt ging er mit erhobenem Messer der Stimme entgegen. Der Knall kam so unerwartet, dass er nicht einmal spürte, wie die Kugel durch seinen Arm fetzte. Es warf ihn herum.
»Hier bin ich.« Die Stimme klang jetzt wild.
Auf einmal lag er auf dem Boden. Er war an der hinteren Wand hinabgerutscht. Unter ihm war etwas Glitschiges und Klebriges. Er blutete. Das sah nicht gut aus. Die Wunde brannte höllisch.
»Das war nur ein Vorgeschmack.« Es war nicht klar, ob der Mann sein Blut oder seinen Körper meinte. Unterdessen fragte Charlie sich, wohin das Messer verschwunden war. Es war ihm aus der Hand gefallen und wer weiß wo gelandet. Im Dunkeln tastete er auf dem Boden danach. Er fragte sich, ob er genug Kraft hatte, um in die Küche zurückzukehren und seinen Dad abzuschirmen. Als er die Beine bewegte, schienen sie ihm zu gehorchen. Konnten sie auch sein Gewicht tragen? Mit dem unverletzten linken Arm tastete er umher und fand einen Tisch. Er packte die Kante, stemmte die Hacken auf den Boden, fand trotz des glitschigen Bluts einen Halt und zog sich hoch, bis er beinahe stehen konnte.
Es gab einen weiteren Knall – die Kugel schlug hinter ihm in die Wand ein, und ein Schauer aus Ziegelbröckchen sprühte ihm ins Gesicht und stach auf den Wangen und in den Augen. Er dachte: Will er mich nun lebend oder tot haben? Was war schlimmer? Beinahe hätte Charlie gelacht. Er verkniff es sich, weil ihm bewusst wurde, dass am Ende dieses Gelächters der Wahnsinn lauerte. Das Messer, sagte er sich. Konzentriere dich auf das Messer. Es ist silbern. Es schimmert und glänzt. Die Angst lähmte ihn. Er brauchte dieses Bild, diesen Metallglanz. Hacke auf diesen Mann ein. Zerhacke das Böse in ihm in kleine Stückchen. Rette dich selbst. Rette deinen Dad.
Seine Finger fanden die Messerspitze.
Ein weiterer Schuss knallte. Er verlor das Messer wieder und rannte mit gesenktem Kopf zur Küche, fand sie aber nicht und wandte sich im Dunklen zur Theke. Der verletzte Arm brannte so sehr, dass er bei jedem Schritt einen Schrei unterdrücken musste.
Zwei weitere Schüsse fielen. Charlie betete, dass irgendjemand die Polizei rief. Das würde allerdings nichts nützen, wenn das Spiel die Anrufe abfing. Er lief hinter die Theke und tastete nach den Schnapsflaschen.
Als er direkt vor der Theke den Boden knarren hörte, richtete er sich auf und schlug mit der Flasche nach dem Mann. Sie traf seinen Kopf und zerplatzte, Wodkaschwaden wehten durch den Raum.
Wieder schoss der Mann, während er zurücktaumelte. Er hatte Schmerzen, war aber nicht schwer verletzt. Sofort fing er sich wieder und näherte sich erneut der Bar.
Als der Mann nahe genug war, warf Charlie mit aller Kraft eine weitere Flasche, die den Mann jedoch verfehlte und irgendwo hinter ihm aufprallte. Der Mann lachte.
Wie niedlich, dachte er. Wie niedlich.
Lachend näherte er sich weiter. Charlie zerbrach eine Flasche an der Wand und spritzte den Inhalt über den Mann. Der Alkohol brannte in seiner Wunde.
Der Mann lachte jetzt lauthals. Die Furcht des Jungen war so reizend und verzweifelt. Bald würden dem Jungen die Dinge ausgehen, die er werfen konnte. Der Mann schoss auf den Spiegel hinter der Theke, die Splitter prasselten herab. Allmählich war er das Spiel leid. Es wurde Zeit, den Jungen zu töten. Hinter der Bar entdeckte er ein kleines, abgeschirmtes Licht.
»Du kannst anrufen, wen du willst«, sagte der Mann. »Wir sind längst fertig, ehe sie kommen.«
Als er um die Ecke der Theke bog, tippte Charlie gerade die letzten Befehle für den Atem Gottes in sein Handy, das er mit dem nächsten Handy verbunden hatte. Das Telefon des Mannes erwachte in der Hosentasche zum Leben und begann mit der Endlosschleife, die sich immer wieder selbst aufrief und sich in der kleinen Lithiumbatterie vervielfältigte, genau wie es bei Kurt geschehen war.
Der Mann hob die Waffe und zielte auf Charlie, eine Silhouette im Dunklen vor dem Zugang der Theke. Da zündete sein Telefon, und die kleine Explosion entfachte die Alkoholspritzer auf seinem ganzen Körper. Im Zickzack rasten die Flammen wie auf Highways auf und ab, während der Mann verblüfft die Bahnen anstarrte, die sich verbanden und ihn einhüllten. Unvermittelt erstrahlte ein prächtiges Licht.
Charlie war überrascht, dass das Gesicht des Mannes schockierend normal aussah, beinahe kindlich. Ein kurzer Blick, und die Flammen sausten aus mehreren Richtungen herbei, vereinigten sich und verschlangen ihn.
Charlie richtete sich auf, als der brennende Körper in seine Richtung stürzte. Ringsherum ging die ganze Theke in Flammen auf. Charlies rechter Arm hing nutzlos herab. Er kletterte über die Theke und eilte zu seinem Vater, während sich das Feuer neben ihm ausbreitete und an den Wänden entlang neue Nahrung fand. Er schaffte es bis zur Küche und zerrte seinen Vater mitsamt dem Stuhl mit dem unverletzten Arm nach draußen. In diesem Augenblick verliehen ihm Angst und Liebe übermenschliche Kräfte. Endlich waren sie draußen in der kalten Nachtluft und husteten und keuchten, als der Rauch herauswehte. Mit der unversehrten Hand und den Zähnen löste er eine Schlinge, dann konnten sie den Rest gemeinsam erledigen und sich bis zu den Müllcontainern vom Gebäude zurückziehen.
Inzwischen drangen die Flammen schon aus den Fenstern, leckten an allen vier Ecken des Restaurants und streckten die ersten Zungen zum Dach aus, bis das ganze Gebäude verschwand. Das Charlie’s – ehemals die »Weltausstellung« – war zerstört .
Viele Kilometer entfernt auf dem Land brannte auch Caitlyn Laceys Haus am See nieder. Peter hatte für seine Rache nur wenige Minuten gebraucht. Der Rest – die Metastasen – funktionierte von ganz allein.
Er lud alle zu der intimen kleinen Party ein. Nun ja, nicht alle, sondern eine Liste handverlesener Monster: Junkies, Motorradbanden, Skinheads und Hooligans. Persönlich hätte man so etwas nicht tun können, ohne getötet zu werden. Doch im Web konnte er von seinem sicheren Haus aus unmittelbar und direkt zu allen sprechen. Er schrieb:
Reiches Luder gibt Geheimparty! Schlampen & Nutten! Geheimes Haus am See, keine Cops, keine Regeln. Kommt – und kommt! Habt Spaß!
Seiner Ansicht nach war die Highschool eine selbstreferenzielle Hierarchie. Er hatte versucht, in ihr aufzusteigen, aber die Hierarchie hatte gewonnen. Es war Zeit, das Mistding niederzureißen.
Es hatte langsam begonnen. Hier und da ein Auto, das nicht zu den Audis und den BMW s passte, die am See auf dem Rasen parkten. Man brauchte eine Karte, um das Haus zu finden. Peter lieferte sie ihnen. Das Haus am See stand auf einem großen Grundstück. Da draußen konnte alles Mögliche passieren. Ein paar Motorräder trafen ein, dann noch mehr. Zwischen den übermäßig selbstbewussten Footballspielern und den Gangstern brachen zwei Schlägereien aus. Dann ging das Theater richtig los – tätowierte Partycrasher warfen Tische und Schreibtische um. Ein Stuhl flog durch das Fenster des Wintergartens. Feuerzeuge entfachten die Vorhänge. Ein Trupp pinkelte auf den aufgebrochenen Aktenschrank des Vaters und goss Alkohol darüber.
Peter beobachtete es über ihre Handys. Caitlyn weinte, ihr neuer Freund war nirgends zu sehen. Hatte Peter genug getan? Wahrscheinlich. Trotzdem, er konnte nicht anders. Eine letzte Geste zur Vervollständigung .
Deine Gedichte sind scheiße
schrieb er ihr anonym. Dann klinkte er sich aus. Das Spiel hatte ihn zu einem anderen Ort gerufen. Auf das Dach der Turner High. Er musste gehorchen.
Kurt Ellers war zur Party gefahren, wie er es sich vorgenommen hatte. Doch es war nicht so leicht gewesen. Auf der Fahrt hatte er die Nerven verloren und war sogar zweimal umgekehrt. Als er eintraf, rannten die Leute schon aus dem brennenden Haus. Auf der Wiese lagen kaputte Fernseher und zerschmetterte Stühle.
Er wanderte durch das Chaos, dem Strom der fliehenden Leute entgegen. Caitlyn konnte er nirgends entdecken. Er betrat das brennende Haus. Dort fand er sie, eingeklemmt unter einem umgekippten Bücherregal und bewusstlos vom Rauch. Direkt vor ihm krachte ein Deckenbalken herab und setzte seinen Ärmel in Brand. Er klopfte die Flammen aus, befreite Caitlyn und legte sie sich über die Schulter. Vom Sofa nahm er eine Decke mit und legte sie über das Mädchen, um sie vor den Flammen zu schützen. Ein weiterer Balken krachte herab und versengte ihn schwer. Er würde für den Rest seines Lebens sichtbare knotige Narben auf dem Arm und im Gesicht behalten. Er hielt erst wieder an, als sie weit entfernt von der Gefahr waren. Sachte bettete er sie auf den Beifahrersitz und fuhr mit ihr davon.
Ihm fehlten die Worte, um es auszudrücken, aber was er empfand, war dem ähnlich, was Vanhi zu Charlie gesagt hatte, als ihre Freundschaft schmerzhaft wurde:
Nur weil ich dich nicht liebe, heißt das noch lange nicht, dass ich dich nicht liebe.