102
Gödel, Escher, Bach
In der Finsternis kam Peter zu sich. Er fühlte sich gewichtslos und schwebte. Einen Moment lang fragte er sich, ob sein Bewusstsein in die Maschine hochgeladen worden war. Das wäre die einzig wahre Unsterblichkeit. Wenn jedes Neuron seines Gehirns auf ein entsprechendes Bit übertragen wurde, wäre es eine perfekte Darstellung seines Lebens, seiner Erinnerungen und Überzeugungen, seiner Träume und Albträume. Wäre er dann immer noch er selbst, würde sich sein Bewusstsein fortsetzen? Oder würde sein altes Selbst sterben, und dieses neue Ding wäre jemand anders, unverbunden trotz des nahtlosen Übergangs?
Doch es war kein elektronischer Traum. Er wackelte mit den Fingern und Zehen. Alle Körperteile kreischten vor Schmerzen, doch er lebte noch. Er öffnete die Augen und sah hoch über sich das Dach der Schule, bis ihn die dicken schwarzen Stränge des Nylonnetzes, die in die Haut schnitten, zu sehr störten. Sein Körper war dort gelandet, wo ihn die Verbindungen und Knoten der echten Welt hingeworfen hatten. Das Spiel hatte alles vorhergesehen und ihn gewarnt, es hatte in einem selbst lernenden stochastischen Netz die möglichen Ausgänge der Konfrontation auf dem Dach entwickelt.
Alex würde springen, weil er glaubte, damit seine Freunde zu retten, sofern Charlie ihn nicht aufhielt. Charlie würde ihn aufhalten, sofern Peter sich nicht einmischte. Wenn Peter sich einmischte, würde Charlie ihn töten, um die Freunde vor dem Spiel zu retten. Das Spiel überprüfte erneut eine seiner
liebsten Hypothesen: Unter den richtigen Bedingungen wird jeder zum Mörder.
In diesem Punkt hatte Peter gegen das Spiel gewettet, und dafür musste er in Form von Blaxx einen hohen Preis bezahlen. Doch er würde sich erholen, und seine Wunden würden heilen.
Es war eine Kleinigkeit für das Spiel, die Fallbeschleunigung zu berechnen und anderen Spielern für die Höhe und Spannung des Netzes die richtigen Angaben zu übermitteln, damit Peter gerade hoch genug aufprallte, um das Netz zu dehnen, auf den Boden durchzuschlagen und gerade noch zu überleben. Peter fiel in das Netz, weil Alex stand, wo das Spiel ihn aufgestellt hatte. Hätte Charlie vom Dach nach unten geblickt, dann hätte er lediglich Peter nach dem Aufprall reglos am Boden liegen sehen. Die schwarzen Nylonseile waren aus dieser Höhe unsichtbar. Doch das Spiel hatte ebenso korrekt vorhergesagt, dass Charlie nicht einmal hinschauen würde – vielmehr würde er Alex in die Arme nehmen und wegführen.
Als Peter zu sich kam, waren Charlie und Alex längst fort. Er lachte innerlich, weil ihm jeder Knochen wehtat und weil er wusste, dass er jetzt sterben und wiedergeboren werden konnte.
Was war der Tod schon mehr als ein Polizeibericht in einem System, der eine Reihe von Ereignissen in Gang setzte? Wo nötig, wurden Kästchen angekreuzt. Das Spiel sprach für die Polizei mit der Schulleiterin, die zu ihrer Erleichterung erfuhr, dass man die Leiche gefunden und bereits abtransportiert hatte, ehe die Medien Wind von der Sache bekamen. Das Spiel sprach für die Polizei mit dem Vater, der gerade in Europa war und die Gelegenheit bekommen sollte, den Toten auf dem Bildschirm zu identifizieren, noch ehe er den langen Rückflug zur Beerdigung antrat. Er akzeptierte die taktvolle Empfehlung des Polizeibeamten, eine Einäscherung sei in diesem Fall die beste Lösung. Die elektronischen Akten bestätigten, dass der Körper stark zerstört war. Die DNA
-Bestimmung
war jedoch einwandfrei, sodass die Urne, die angeblich Peters Überreste enthielt, an den Bestatter überstellt werden konnte. Elektronische Signale gaben den richtigen Personen zu verstehen, dass alles berücksichtigt, verpackt, ausgeliefert, ausgetauscht, entsorgt und abgelegt war.
Das Spiel fingierte sogar eine Notiz für Peters soziale Medien, die sich auf die Konfrontation mit Morrissey wegen der Drogen bezog: Sie haben mich erwischt. Lieber so als Gefängnis.
Und wenn jemand die Urne öffnete, um zu sehen, was sich darin befand?
Es wäre tatsächlich Asche.
Und Peter war frei, er konnte überallhin gehen und sein, wer er wollte.
Frei im Spiel.
Außerdem lachte er, weil ihm, während er dort lag, eine neue Mod eingefallen war. Das Spiel würde sich an Charlies Abmachung halten, weil Charlie – soweit es ihm eben möglich war – den Göttern tatsächlich ein Opfer dargebracht hatte. Das Spiel hatte zwar den Tod verhindert, aber das wusste Charlie nicht. Er war damit kein weniger williger Scharfrichter, und nur darauf kam es dem Spiel an.
Doch Charlie hatte nur für sich selbst und seine Freunde
die Freiheit von dem Spiel ausbedungen. Peter entwarf bereits im Kopf die Einladung und dachte an den Riesenspaß, der darauf folgen würde.
Liebst du deinen Sohn? J/N?
Einmal hatte Peter geträumt, dass ihn, da seiner sich nicht kümmerte, vielleicht Charlies Vater adoptieren könnte. Er könnte sein Ersatzvater sein. Doch Charlies Dad hatte Peter vom ersten Augenblick an abgelehnt, und so stand Peter wieder allein da – Charlie war der Lieblingssohn und bekam die ganze Aufmerksamkeit.
Einen Tag später oder vielleicht erst in einem Monat würde Arthur Lake allein vor einem Bildschirm sitzen, wenn seine
Liebsten längst schliefen, und das Spiel würde ihn fragen: Möchtest du, dass alle deine Träume wahr werden? Du hast ein Restaurant, ja, aber möchtest du nicht noch ein zweites haben? Ein drittes? Eine neue Terrasse, eine Auszeichnung, ein Firmenimperium?
So würde die Endlosschleife weitergehen, gespeist von ahnungslosen Spielern, die vom Schicksal hin und her geworfen wurden – zum Vergnügen, als Sport oder einfach nur so – und sich nach Antworten auf Fragen sehnten, die schon ewig gestellt wurden.