Wir lebten in Berlin. Wir waren in diese Stadt gekommen, von der wir nicht wussten, dass die Toten einem hier den Platz zuwiesen. Hätten wir doch Heiner Müller gelesen. Doch wir waren jung und interessierten uns nicht für den Tod.
Das zweigeteilte Berlin lag mitten in der Deutschen Demokratischen Republik. Den sowjetischen Sektor hatte man zur Hauptstadt des ersten deutschen sozialistischen Staates gemacht. Berlin, Hauptstadt der DDR. Auf der Autobahn gab es nur Schilder, die dieses Berlin anzeigten. Der Westteil, unser Berlin, war ein permanentes Provisorium und blieb unerwähnt auf den breiten Straßen, die schnurgerade in die ehemalige Reichshauptstadt führten. Die Bundesrepublik hatte sich längst etabliert, und dieser ferne Stadtrest blieb der Ausnahmezustand. Durch die amerikanische Luftbrücke wurde er zum Symbol der freien Welt. Als wir dorthin zogen, war dieser schwere Sinn Westberlins fast aufgebraucht. In der properen Bundesrepublik hatte man sich damit abgefunden, die Agonie der halben Stadt weiter zu subventionieren. Berlin war eine Frontstadt mit einer übrig gebliebenen Population. Keiner, der glaubte oder hoffte, eine Zukunft zu haben, ging damals nach Berlin.
Die Abwesenheit all dessen, was wir so gut kannten, zog uns dorthin. Die Stadt stand für das Traditionslose, Offene, Fragmentarische und Provisorische. Der Mythos Berlins handelt von einem riesigen Museum von Behauptungen, die von den Sentimentalen wiederbelebt und von den Destruktiven gebrochen werden. Wir kamen hierher, weil Berlin anscheinend nur darauf wartete, geprägt, benutzt und vereinnahmt zu werden. Doch wir hatten uns getäuscht. Wir Zugezogenen aus der westlichen Provinz wanderten staunend über riesige, mit Unkraut bewachsene Brachen, steckten die Finger in die Einschusslöcher, die an den Häuserwänden von den Straßenkämpfen der letzten Kriegstage übrig geblieben waren, und entdeckten an den Brandmauern die geisterhaften Zimmerumrisse der im Krieg zerstörten Wohnungen. Erst allmählich begriffen wir, dass in dieser Leere eine vergangene Zeit verborgen war. Die Stadt war übersät mit Hinweisen auf Menschen und Dinge, die nicht mehr existierten und die ihre Spuren hinterlassen hatten. Wir spürten eine unüberwindbare Demarkationslinie, die sich wie eine Spur des Schmerzes durch die Stadt zog. Wir waren orientierungslos und ohne inneren Kompass. Woran sich halten?
Sonst war alles ganz schön trübe. In einem Laden für Obst und Gemüse Ecke Oranienstraße/Adalbertstraße in SO 36 waren die Äpfel und Orangen in hölzernen Verschlägen wie Kohlen aufgeschüttet, am Ku’damm konnte man in einer Peepshow zusammen mit anderen ins Rund stierenden Augen für eine Minute nackt sich räkelnde Frauen verschiedenen Alters betrachten, im Café Kranzler saßen böse blickende Krawallschachteln vor mächtigen Buttercremestücken, im Grunewald bedienten einen im »Chalet Suisse« schwule Kellner, die so taten, als würden sie Schweizerdeutsch reden, und beim Chinesen am Zoopalast wurde einem von originalen Berlinern das Hähnchen süßsauer serviert. Der Potsdamer Platz war eine staubige Steppe, Schloss Charlottenburg stand blöd am Rande, und der Reichstag dämmerte einsam an seinem angestammten Platz, nun an der Systemgrenze. Man hatte ihn nicht als melancholische Ruine stehen lassen wollen, sondern aufwendig renoviert. Die Aufschrift »Dem deutschen Volke« war geblieben. An wen sie sich richtete, wusste man nicht mehr.
Wir lebten inmitten eines Rings aus Beton. Heller Beton, Platte an Platte drei Meter sechzig hoch, mit einem aufgesetzten Wulst an der Oberkante. Meter um Meter kroch der Wulst durch die Stadt, durchschnitt Straßen, Plätze und Häuser. Das war die Mauer von Berlin, ein Wall wie aus einer anderen Zeit, fast lächerlich anzusehen. Es war der Wulst, der die Mauer so obszön machte. Der Wulst bot den Flüchtenden, die es bis dahin geschafft hatten, keinen Halt. Sie rutschten ab und waren verloren.
In der Sonne sah die Mauer von Westen wie ein langer weißer Engerling aus. Viele hatten sich die Mauer mächtiger und höher vorgestellt. Doch das Bedrohliche barg sie auf der Rückseite. Die Mauer war keine ungeschützte Wand, eine zweite Mauer oder manchmal ein Zaun lief parallel rund um die Westsektoren und schloss einen breiten Streifen Land mit ein. Grasflächen, unter denen sich Minen versteckten, fein gerechter Sand, auf dem jeder Fußabdruck zu sehen war, Wachtürme, Spanische Reiter, Schäferhunde, in kurzen Abständen gesetzte Bogenleuchten und asphaltierte Wege für die wachhabenden Soldaten mit Schießbefehl: Ein Todesstreifen, an dessen Perfektionierung stetig geforscht und gearbeitet wurde, zog sich durch die Stadt. Das zum ersten Mal zu sehen, von den kleinen Plattformen der Aussichtstürme aus, war verblüffend. Diese Holztürme standen entlang der Mauer auf der Westseite, wo sie an besonders abenteuerlichen Stellen zum schaulustigen Blick nach drüben einluden. Die Nachrichten über DDR-Bürger, die über den Todesstreifen von Ost nach West zu fliehen versuchten, tauchten mittlerweile beinahe unbemerkt in den Zeitungen auf. Zwischen 1961 und 1989 ließen 140 davon ihr Leben. Sie erlitten tödliche Unfälle, wurden von den Grenzsoldaten erschossen oder aber begingen, als sie entdeckt wurden, Selbstmord. Nur die spektakulären Fälle behielt man auf der Westseite für länger als einen Tag im Gedächtnis. Die Mauer war ein Faktum, das keinen Zweifel ließ.
Wir fanden die Mauer okay. Sie beruhigte den Verkehr, bildete Nischen, und was in ihrem Schatten nicht genutzt werden konnte, lag verlassen als leeres Land. Als richtige Berliner kletterten wir später nicht mehr auf die Holzaussichtstürme. Wir sparten die andere Seite aus. Hinter Ostberlin mit seinen langen, stillen, gelb beleuchteten Straßen schien sich die gigantische Weite des Ostens aufzutun. Wenn der Wind besonders eisig von dort wehte, fühlten wir uns Sibirien nah.
Berlin, das ist die Stadt mit den breiten Trottoirs, die viel Platz zwischen den Passanten lassen, mit den Mietshäusern, durch deren große Eingangstüren Langsame und Eilige verschwinden, und mit der Mauer, die teilt und eint. Eine Stadt aus Schutt, die zu einem Symbol der Politik des Kalten Krieges geworden war.
Als Insel im Osten genügte Westberlin irgendwann sich selbst. Das Eingeschlossensein verstärkte das von jeher raue Klima hin zu einer ruppig fatalistischen Grundstimmung. Bald gaben wir unseren ordentlichen Personalausweis ab und schwenkten den »Behelfsmäßigen Personalausweis«, der an den Grenzen der damaligen Welt verwundert betrachtet und herumgereicht wurde. Das acht Seiten dicke grüne Heftchen machte uns zu provisorischen Deutschen. Das gefiel uns. Der Sonderstatus Westberlins hatte es uns besonders angetan. Es gab keinen Wehrdienst und keine Polizeistunde, andere Ausweispapiere, andere Briefmarken und Abgeordnete, die nicht im Bonner Parlament abstimmen durften. Wer hier in den Sektoren der Alliierten, also der Franzosen, Engländer und Amerikaner, lebte, war herausgebrochen aus dem Gefüge der Bundesrepublik Deutschland. Die Stadt sog uns völlig auf. So sehr, dass die DDR nur dann noch real existierte, wenn wir Berlin verließen. Manche trampten. Mit Schildern, auf denen »Goslar« oder »Memmingen« oder »Kaiserslautern« stand. Stundenlang warteten wir am Übergang Dreilinden oder Staaken und wechselten die Radiosender zwischen SF-Beat (West) und DT 64 (Ost), bis dann endlich die Grenztruppen-Frage »Bücher, Funk oder Waffen?« gestellt wurde. Nach monatelangem Blick auf Brandmauern und bröckelnde Fassaden öffnete sich auf der Transitstrecke mit einem Mal die weite Landschaft. Spazieren gehen war nicht erlaubt. Wir Transitreisende mussten uns so schnell wie möglich nach Westen begeben, der Zeitpunkt des Reiseantritts wurde vermerkt. Wir ließen den Blick schweifen, fuhren ungerührt hinüber ins ehemalige Zuhause, das wir jetzt Westdeutschland nannten.