So wie wir will heute keiner mehr heißen. Wir gehören zu der Generation mit Namen, die eine eigentümliche Mischung aus Modernitätswillen und Naziverbundenheit ausstrahlen. Die Jungs nannte man nicht mehr Adolf, aber man verpasste ihnen gerne den Vornamen Horst, Frank, Harald oder Heinz, weil der Onkel oder der Bruder so geheißen hatte, der bei der Waffen-SS gewesen und gefallen war. Es konnte passieren, dass ein Junge an einem Grabstein stand, auf dem sein eigener Name eingemeißelt war. Wie sollte man das je verstehen können? Bei Mädchen war man fast schon mutig, wenn man sie nach der Modezeitschrift Brigitte oder nach einer biederen Filmheldin Ingeborg nannte. Wir sind zwischen den mittleren fünfziger und den frühen sechziger Jahren geboren worden. Wir waren immer zu viele. Im Kindergarten, in der Schule, bei der Arbeitssuche, an der Uni. Immer war schon einer vor uns da, oder es wartete eine, die uns ersetzen wollte. Bombennächte, Flucht, Vertreibung und Spiele in den Trümmern des Krieges haben wir nicht erlebt. Wir sind die Kinder eines Anfangs. Mit unserer Existenz sollte der neugeschaffene Staat gesichert sein. Wir gingen noch in die Grundschule, als der dicke Kanzler Erhard zum ersten Mal die Nachkriegszeit für beendet erklärte. Davon wussten wir nichts, wie wir auch nichts wussten vom Bau der Mauer 1961, der Kubakrise 1962 und den Auschwitz-Prozessen 1963. Berlin war weit weg, die Amerikaner waren gut, und obwohl man die Erwachsenen häufig von »Juden« sprechen hörte, konnten wir uns nicht erklären, was sie damit meinten. Es gab für dieses Wort keine Entsprechung in unserer Wirklichkeit.
Der Einbruch der Politik in unsere Kalte-Kriegs-Kindheit war der Einmarsch der Sowjets 1968 in Prag. Die Eltern saßen mit ernsten Gesichtern am Radio und vor dem Fernseher. »Einmarsch« war ein Wort, das wir nur aus ihren Kriegserzählungen kannten. Wir ahnten, dass das, was in Prag vor sich ging, nicht gut war. Als Kind und als Jugendlicher verstand man, dass auf der einen Seite die Fröhlichen waren und auf der anderen Seite die Bösen. Unbewaffnet stellten sich die Fröhlichen vor die Panzer der Bösen. Die Fröhlichen und die Bösen hatten junge Gesichter. Die Fröhlichen hatten Sommerkleider an und die Bösen Uniformen. Die Fröhlichen wollten in einem ewigen Frühling leben, und die Bösen kamen aus Russland, wo immer nur Winter ist. Die Bösen beendeten den Frühling und brachten den Fröhlichen den Winter. Obwohl für uns alles wie gehabt weiterging, konnten wir nicht vergessen, dass es Menschen gab, in deren Macht es lag, einen Frühling mit Panzern, Waffen und Uniformen zu beenden.
Der Kalte Krieg sei ein glückliches Zeitalter gewesen, behaupten heute die Historiker. Der Westen modernisierte sich durch einen staatlich regulierten Markt, der Osten durch staatliche Planung. In beiden Himmelsrichtungen glaubte man, dass der jeweils eingeschlagene Weg zum gesellschaftlichen Wandel und zum Glück der Menschen führen werde. Als Kinder des Anfangs im Westen sollten wir die Begrenzungen und die Möglichkeiten eines Lebens in einer hochmodernen Gesellschaft erfahren und erlernen. Wir waren die erste Generation des Fernsehers, der Atomkraft und der Raumfahrt. Wohlstand, Innovationen, Sicherheit und Bildung für alle waren die Versprechen der rationalen und universalen Gegenwart. Unsere Familien hatten ein Auto, ein Badezimmer und einen Fernseher, wir fuhren in den Urlaub und gingen aufs Gymnasium. Dort saßen nicht mehr nur die Kinder der Honoratioren. Auch Arbeiter- und Bauernkinder sollten Gymnasialschüler sein dürfen. Und sogar für Mädchen war Aufstieg durch Bildung vorgesehen. Wie die Republik sich innerhalb nur weniger Jahre wandelte, erlebten wir hautnah. In der Grundschule setzte man uns Lehrer vor, die kein Problem damit hatten, ihre bei den Nazis erlernten Methoden weiter anzuwenden. Zur Strafe musste man in der Ecke stehen, es wurden »Kopfnüsse« verteilt, oder man musste sich vor der Klasse an der Tafel aufstellen, um mit flach ausgestreckter Hand die präzise mit dem Rohrstock ausgeführten Tatzen des Lehrers entgegenzunehmen. Zuckte man vor einem Schlag zurück, gab’s einen Satz Tatzen mehr. Später dann, im Gymnasium, stürmten die jungen Referendare in Cordhosen mit Schlag und die Referendarinnen mit kurzen Röcken in unsere Klassenzimmer. Der Englischlehrer hatte tatsächlich in England studiert, die Geschichtslehrerin zog ein Buch namens »Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik« eines gewissen Urs Jaeggi aus der Tasche, und die Biologielehrerin hatte sich eine Lehrprobe über Empfängnisverhütung ausgedacht. Der pädagogische Eifer der jungen Lehrer war darauf ausgerichtet, uns das kritische Denken beizubringen. Die Bildung, die sie im Sinn hatten, hatte nichts mit Schulbüchern wie »Lebensgut«, »Formende Kräfte der Erde« oder »Ährenfibel« zu tun. Das neue Zauberwort hieß »Gesellschaft«. Wir lernten schnell, dass es für Kritik an der Gesellschaft gute Noten gab. In einem Klassenarbeitsaufsatz über Werbung mussten die »geheimen Verführer« vorkommen. Fast schien es uns, als sei der kritische Ton die Voraussetzung einer guten Bildung. Wir ertrugen die alten Lehrer und wunderten uns über die freudig trotzige Entschlossenheit, mit der ihre jungen Kollegen alles infrage stellten. Weshalb das so war, darauf konnten wir uns noch keinen Reim machen.
Ende der sechziger Jahre waren Politiker an der Macht, die aus der Tiefe eines uns unbekannten Raumes kamen. Die alten Nazis glaubte man an ihrer Frisur zu erkennen. Diese glatt nach hinten gekämmten und mit »Fit« in Form gehaltenen Haare bei den Herren und die wie zur Tarnung gar nicht so streng geflochtenen Knoten bei den Damen. Einer wie Kanzler Kurt Georg Kiesinger, der gerne ein fieses Lächeln zur Schau trug, war ein Paradebeispiel. Doch einer wie Kiesinger gehörte zur abziehenden Vergangenheit. Auf der politischen Bühne dominierten unangefochten die Figuren der Linken. Herbert Wehner zum Beispiel, der, grimmig an seiner Pfeife saugend, Altmännerobszönitäten um sich werfend, nur auf die Schwäche seines Gegners zu lauern schien. Warm konnte man mit dem nicht werden. Von seinen Genossen wurde er »Onkel« genannt. Wehner hatte etwas Tückisches an sich. Ihn mochte keiner. Erst später verstanden wir, dass Wehner, der Mitglied des Zentralkomitees der KP und Sekretär von Ernst Thälmann gewesen war und das »Hotel Lux« in Moskau überlebt hatte, unter dem Phantomschmerz des nicht erfüllten Kommunismus litt. Wie Ulbricht und Honecker, seine ehemaligen Genossen, die nun in der DDR an der Macht waren, galt er als ein Intrigant mit einem Sitzungsgesicht. Sein Gegenspieler war Willy Brandt, den Kiesinger und Konsorten einen »Vaterlandsverräter« nannten. Brandt hatte seinen Kampfnamen aus dem sozialistischen Widerstand gegen Hitler beibehalten. Willy Brandt umgab ein Geheimnis. Mit seiner eigentümlich heiseren Stimme, seiner auffallend eleganten Körpersprache und dem hochgezogenen Schädel wandelte er somnambul durch die Bonner Republik. Immer wieder stockte er bei seinen Reden und fand dann wundersame Begriffe, die ihm von seinen Schutzengeln zugeflüstert worden sein mussten. Mit Willy Brandt als Kanzler war die Bundesrepublik nicht länger ein schicksalsloses Land. Wir waren zu jung, um Brandts Bedeutung wirklich zu verstehen, aber als im April 1972 das Misstrauensvotum gegen ihn zur Abstimmung stand, verfolgten wir das mit den Eltern vor dem Fernseher. Das war eine Lektion über Sieg und Niederlage, Haltung und Hochmut, die man nicht so schnell wieder vergaß. Von der Aufregung um Brandts Regierungserklärung »Mehr Demokratie wagen« und von den Redeschlachten um die Ostpolitik nahmen wir die Ahnung eines anderen Deutschland mit.
Der Glaube an die schöne neue Welt war im Schwinden begriffen. 1973 kollabierte das Weltwährungssystem des Westens. 1972 veröffentlichte der »Club of Rome« seinen Bericht »Grenzen des Wachstums«. Jetzt hieß es, die Menschheit befinde sich an einem Scheideweg. Die Gefahr ging nicht mehr nur von der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten aus, sondern lauerte überall. Wir schrieben unzählige dialektische Besinnungsaufsätze über die notwendige Abkehr vom Fortschrittsglauben und freuten uns über den Ölschock, der uns an den autofreien Sonntagen leere Straßen zum Rollschuhfahren bescherte. Willy Brandt trat zurück, und der nächste Kanzler hieß Helmut Schmidt. Die fast schon unwirkliche Aura, die Brandt umgeben hatte, wich nüchternem Pragmatismus. Selbstbewusst und präzise kühlte Schmidt die bundesrepublikanische Politik aus. Die Zeit der Verheißungen und der politischen Empfindsamkeiten war vorüber. Sprach man von Schmidt, so sprach man von Kompetenzen und nicht von Gefühlen wie bei Brandt.
Diskussionen über den Haupt-und Nebenwiderspruch, den dialektischen Materialismus und die Entwicklung der Produktivkräfte gehörten zu unserer Pubertät. Politik konnte man jetzt als Hobby pflegen. In schäbigen Hinterzimmern anrüchiger Bahnhofshotels trafen sich die Kommunisten. Durch den Radikalenerlass freigesetzte und nun erst recht radikal gewordene Lehrer mit fahler Gesichtsfarbe und im ausgeleierten Wollpullover unterwiesen die kommunistischen Schülergruppen in Marxismus. Vorne im Schankraum plärrte die Musikbox, und die bereits betrunkenen Arbeiter von der nahe gelegenen Fabrik tanzten mit den nicht weniger betrunkenen Putzfrauen unserer Schule, während wir im Hinterzimmer über dem »Kapital« schwitzten. Die, die vorne rauchten, tranken, grölten und lachten, waren angeblich dazu auserwählt, die »Diktatur des Proletariats« zu errichten. In dieser Welt des politischen Wahns fühlten wir uns ernst genommen. Jedes in der Schule gehaltene Referat wurde ab sofort im Kommunistensound vorgetragen. In den kommunistischen Schülergruppen — kommunistische Lehrlingsgruppen scheiterten an mangelndem Zuspruch — ging es streng hierarchisch zu. Vor den Selbsteinschätzungen, die im leninistischen Stil abgehalten wurden, graute es uns. In den Sitzungen herrschte ein heiliger Ernst, den wir nur aus pubertärer Langeweile ertrugen. Unsere Marx-Lehrer hatten eigentlich alle einen Schatten. Sie waren entweder verdruckste Gläubige mit Mundgeruch, groß geworden in Wohnküchen mit Resopaltischen, oder sie waren mal gut im Sport gewesen und hatten es vor allem auf die Mädels mit großem Busen abgesehen. Auf dem Nachhauseweg fiel kein Wort mehr über Marx. Die große Befreiung hatte nichts mit unseren kleinen Verhältnissen zu tun. Wenn man sich an den Eltern im Wohnzimmer vorbeigeschlichen hatte, pflegte man sein Mutterseelenalleinsein mit der Musik von Roxy Music oder Cat Stevens und träumte von einem richtigen eigenen Leben. Solange der Kapitalismus noch nicht endgültig besiegt war, durfte es jedoch keine Freude geben. Pop hören und die »Kommunistische Volkszeitung« verteilen war angeblich ein Widerspruch in sich. Einleuchten wollte uns das nicht. Wir liebten den Pop, trugen unterm Parka Hippieblusen, saßen begeistert inmitten von glimmenden Räucherstäbchen, glaubten, wir seien Kommunistinnen, suchten die blaue Blume und rochen nach Patschuli.
Der Zug brachte uns in die große weite Welt. Im Gepäcknetz liegend, auf Bahnhöfen schlafend, mit einem überdimensionierten Rucksack auf dem Rücken und die meiste Zeit übermüdet, erschlossen wir uns Europa. Diese Interrailfahrten, bei denen sich unser Raum über Deutschland hinaus weitete, verwiesen uns letztendlich zurück auf unser Land. Wir wurden nicht als das wahrgenommen, als was wir uns fühlten, nämlich jung und neugierig, sondern als Nachfahren der Nazis, die wir ja auch waren. In Schottland wollten sie mit uns auf Hitler anstoßen, in Bergen war es mit deutschem Akzent aussichtslos, ein Zimmer zu bekommen, und in Frankreich kamen wir von selbst drauf, in der Bäckerei am Morgen an der Theke über das unglaublich leckere Baguette nicht zu laut auf Deutsch zu jubeln. Zurück in Deutschland, der Schock: Auf den Bahnhöfen standen mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten herum. An den Litfaßsäulen hingen Fahndungsplakate, die Gesichter zeigten, die auch die unsrigen würden sein können. Bangen Herzens fragten wir uns, ob die RAF nicht recht hatte: War die Bundesrepublik Deutschland ein latent faschistischer Staat?
Als wir Kinder gewesen waren, hatte sich die »Rote Armee Fraktion« gegründet. Als Jugendliche erlebten wir, wie sie mit Entführungen, Banküberfällen und Morden den Staat herausforderte. Die Mitglieder der RAF lebten im Untergrund. Was das bedeutete, beschäftigte uns sehr. Wie die als Bürger getarnten Terroristen wirklich aussahen, wusste man nicht, denn der Untergrund war und blieb bilderlos. Deshalb benutzte man für die Fahndungsplakate Jugendbildnisse oder alte Polizeifotos. Vom stumpfen Orange der siebziger Jahre hoben sich die unscharfen, grauen Porträts schlechtgelaunter junger Frauen und Männer auf den poppostergroßen Plakaten ab. Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Holger Meins und Jan-Carl Raspe waren die allgegenwärtigen Geister unserer Jugend: Ihr Steckbrief hing an Busstationen, auf Bahnhöfen, in Raststätten und sogar in unseren Schulen. Erinnert man sich heute an diese Bilder, so ist das wie ein lautes, undeutliches Rauschen. Die Gefangennahme und den Prozess gegen das wie aus einem Nouvelle-Vague-Film stammende RAF-Führungsliebespaar Andreas Baader und Gudrun Ensslin verfolgten wir mit großer Spannung. Der Streit ging darum, ob wir welche von ihnen oder ob sie welche von uns waren. Diese Frage blieb ungeklärt, keiner traute sich, sie in letzter Konsequenz zu beantworten. Im »Deutschen Herbst« 1977 begingen Baader, Ensslin und Raspe in ihren Gefängniszellen in Stuttgart-Stammheim gemeinsam Selbstmord. Daraufhin bereiteten ihre Mitstreiter der »kläglichen und korrupten Existenz« des entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer ein Ende. Man fand seine Leiche im Kofferraum eines Audi 100. Kanzler Schmidt hatte sich nicht erpressen lassen und sich für die Einhaltung der Staatsraison entschieden. Was sollten wir von all dem halten? Drohte ein neuer Faschismus, oder war die Demokratie verteidigt worden? Die RAF blieb unsere treue Begleiterin, denn ab jetzt galt sie unter Linken als Maßstab politischer Radikalität.
Wir hielten es mit Janis Joplin: Freiheit heißt, nichts zu verlieren zu haben. Damit zogen wir nach Berlin.