Wir kamen aus den sozialistischen Wohnhöfen Wiens, Hamburger Vororten, süddeutschen Reihenhäusern, Bergarbeitersiedlungen des Ruhrgebiets, niedersächsischen Bungalows, Heidelberger Professorenhaushalten, idyllischen Berliner Suburbs, Kaschemmen im Zonenrandgebiet, Bauernhöfen im Bergischen Land, Kleinbürgeroasen Oldenburgs, bayerischen Dörfern, fränkischen Weilern und saarländischen Kleinstädten: In einer kalten, mondlosen Nacht besetzten wir zusammen ein Haus. Am Tag zuvor waren zwanzig Zentimeter Schnee gefallen, doch wir ließen uns nicht von unserem Plan abbringen. Die Zeit drängte. Wir wohnten zuletzt zu sechst in Zweizimmerwohnungen mit Außentoilette, kampierten auf der Gästecouch im Esszimmer von Bekannten, schrieben unzählige Bewerbungen, verbrachten Nächte am Bahnhof Zoo mit Warten auf die ersten Zeitungen mit Immobilienbeilage, sparten lächerliche Summen an, um Vermieter bestechen zu können, und gingen immer leer aus. Es gab in dieser großen Stadt keinen Wohnraum für uns. Weil wir nicht wieder landen wollten, wo wir herkamen, mussten wir uns etwas einfallen lassen.
Irgendeiner von uns hatte vor Wochen eine Anzeige aufgegeben und verschlüsselt nach Gleichgesinnten gesucht. Man kann nicht sagen, dass wir uns sonderlich füreinander interessierten, als wir zum ersten Mal in der Küche einer schäbigen Moabiter Hinterhofwohnung zusammentrafen. Unauffällig musterten wir einander. Äußerlichkeiten waren vollkommen unwichtig, uns verband der kleinste gemeinsame Nenner, nämlich das gemeinsame Besetzen. Weil keiner von uns damit Erfahrung hatte, glaubten wir, dass es von Vorteil sein könnte, wenn wir möglichst viele waren. Das genau war das Problem, denn anscheinend gab es zu wenig Häuser für die vielen potentiellen Besetzer. Es war ein solcher Hype um das Besetzen ausgebrochen, dass man glaubte, sich beeilen zu müssen, um noch dabei sein zu können. Kreuzberg war der heißbegehrte Bezirk, doch die geeigneten Objekte wurden dort mittlerweile rar. Es gab in diesen Monaten viele heimliche Treffen, favorisierte Häuser und Termine zum Besetzen in der Nacht.
Auch angehende Revolutionäre können Streber sein. Manche Gruppen bereiteten sich auf die Besetzung wie auf ein Examen vor. Sie teilten sich in Arbeitsgruppen auf, gingen aufs Katasteramt, besuchten Bezirksverordnetenversammlungen, fragten Architekten um Rat und hatten den Plan zur Sanierung ihres Hauses im Kopf, bevor sie es überhaupt besetzt hatten. Sie wollten Bausubstanz bewahren und eine gute Wohnung für sich finden. Bei uns war das anders. Der Protest gegen die vielen leerstehenden und verwahrlosten Häuser sollte nur der Anfang sein. Schon bald ging es nicht mehr um verfehlte Wohnungspolitik, sondern um ein Lebensgefühl. Die Rebellion entzündete sich an konkreten Missständen und verwandelte sich in eine Revolte ohne große Theorie. Wir hatten genug von der Besserwisserei der 68er-Generation und den wahnhaften Theoriegebilden der K-Gruppen. Wir suchten das gelebte Experiment mit offenem Ausgang.
Ein pockennarbiger Freund von Freunden gab den Hinweis. Mit seiner leicht kratzigen Stimme erzählte er, dass er, wenn er Zigaretten holen ging, an einem offenbar schon lange leerstehenden Haus vorbeikomme. Es muss einst prachtvoll gewesen sein, jetzt aber stand es vollkommen heruntergekommen zwischen zweckmäßigen Nachkriegsbauten herum. Er hatte nicht den Eindruck, als ob sich schon andere dafür interessiert hätten. Da er trotz des dünnen Lächelns, das sein Sprechen begleitete, vertrauenswürdig schien, machte sich kurze Zeit darauf ein Spähtrupp von uns auf, das Objekt zu begutachten. Für solche Aufgaben fanden sich immer Jungs, die sich dafür prädestiniert betrachteten. Sie erkannten sich gegenseitig und wussten sofort, wer für diese Aufgabe geeignet war und wer nicht. Sechs dieser Spezis zogen mit Einbrecherwerkzeug und unseren guten Wünschen versehen eines Nachts los. Stunden später kehrten sie mit leuchtenden Augen zurück. Für ihre Verhältnisse relativ aufgekratzt, berichteten sie, dass es kinderleicht gewesen sei, über den rückseitigen Teil in das Haus einzubrechen. Sie hatten darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen, denn das hätte unser Vorhaben gefährden können. Bekam die Polizei von einer geplanten Besetzung Wind, musste man damit rechnen, dass fortan eine Wanne — Jargon für einen vergitterten Mannschaftswagen — vor dem Haus postiert wurde.
Das Objekt lag in einer ruhigen Straße, bestand aus Vorderhaus, Hinterhaus und Seitenflügel, die miteinander verbunden waren. Es war so groß, dass sie gar nicht genug Zeit gehabt hatten, alle Stockwerke zu inspizieren. Schon was sie gesehen hatten, war schlichtweg großartig! Zimmerfluchten, hohe Decken, Balkone, Kachelöfen mit Jugendstilmotiven und ein großer Hinterhof warteten auf uns. Die Entscheidung war gefallen: Wir würden das Haus am S-Bahngelände besetzen. Die coolen Jungs sahen der Aktion gelassen entgegen. Zur Vorbereitung fachsimpelten sie mit anderen coolen Jungs über Verhaftungen, Einbrüche, Knast und Haftstrafen. Dann machten sie sich daran, die Taktik der Besetzung zu planen. Oberstes Ziel war es, unbemerkt in das Haus zu kommen. Wurde man nämlich beim Einsteigen erwischt, galt die Besetzung als gescheitert, und die Besetzer wurden nach der erkennungsdienstlichen Behandlung wieder nach Hause geschickt. Diese Blamage galt es zu vermeiden, aber man musste mit allem rechnen. Also füllten wir brav Prozessvollmachten für einschlägig bekannte Anwälte aus und kamen uns dabei ganz schön gefährlich vor. Die Tage vor der Besetzung fühlten wir uns, als müssten wir uns für lange Zeit aus unserem bisherigen Leben mit unbekanntem Ziel verabschieden. Und das, obwohl wir in der gleichen Stadt bleiben würden.
Wir trafen uns mitten in einer eiskalten Nacht. Die Straße lag im Dunkeln. Wir waren in kleine Gruppen eingeteilt. Die Starken brachten Sixpacks Kohlen mit. Einige trugen ihren Schlafsack unter den Arm geklemmt, andere hatten Bier und Werkzeug im Rucksack. Die Mutigen bildeten den Vortrupp. Sie brachen ins Haus ein, dann schlich einer von ihnen zurück, um die Gruppe der Zaghaften abzuholen. Schließlich kam er nochmals, um die letzte Gruppe, die der Entschlossenen, zu begleiten. Bei dieser Reihenfolge blieb den Zaghaften kein Weg zurück. Wir verständigten uns mit nur wenigen Gesten. Sprachen kein Wort. Einige der Mutigen hatten sich schon im Haus verteilt und beobachteten die Straße. Eine von ihnen wartete mit der Taschenlampe am Einstieg zum Seitenflügel. Sie führte die neu Eintreffenden durch das Treppenhaus in das oberste Stockwerk. Wir hatten vereinbart, uns auf zwei Räume zu verteilen. Von dem einen aus konnte man die Straße und von dem anderen das rückseitige S-Bahngelände im Blick behalten. Alles blieb ruhig. Schwarze Nacht. Wir hatten es geschafft.
Als kurz vor acht Uhr die Sonne aufging, sahen wir, was wir die Nacht über geahnt hatten: Das Haus war in einem ruinösen Zustand. Das milchige Januarlicht enthüllte das ganze Elend. Die Dielen waren größtenteils verfeuert worden, der holzgezimmerte Unterbau freigelegt. Dazwischen als Schüttung märkischer Sand. Fensterscheiben waren zerschlagen, Tapeten hingen in Streifen von den Wänden, es gab nur noch wenige Türen, an den Kachelöfen fehlten die meisten Kacheln. Wahrscheinlich waren sie — wie auch Teile des gedrechselten Treppengeländers — auf dem Flohmarkt vertickt worden. Die Wände waren feucht, Rohre herausgerissen, Waschbecken und Toiletten zu Bruch geschlagen. Das Haus machte einen maroden und morbiden Eindruck. Hier sollten wir leben? Es stank und starrte vor Dreck. Keiner wagte auszusprechen, dass das Haus unbewohnbar war. Doch am schlimmsten waren die Mitbewohner, von denen uns unsere Avantgarde nichts berichtet hatte und die wir in der Nacht gehört hatten. Das Haus hatte in den letzten Jahrzehnten den Tauben gehört. Der Taubenkot lag zentimeterdick. Überall gurrte und flatterte es. Der silbrig graue Ton des Taubengefieders schimmerte in den Ecken. Es war zum Grausen. Was tun?
Samstagmorgen. Auf der Straße nur vereinzelt alte Frauen, die ihren Hund ausführen. Achtlos gehen sie an unserem Haus vorbei. Bis jetzt hat uns noch niemand entdeckt, wir könnten die Sache ohne Gesichtsverlust abblasen. Für die Mutigen ist klar, dass sie nicht weichen werden. Wer wolle, könne ja gehen. Wir kennen uns kaum, haben so gut wie nicht geschlafen, frieren, haben Hunger, fühlen uns wie betäubt. Teilnahmslos sehen wir dabei zu, wie die Mutigen zusammen mit den Entschlossenen die Situation definieren. Sie hängen die vorbereiteten Transparente aus dem Fenster. Auf dem einen steht »Besetzt« und auf dem anderen »Enteignet«. Damit ist das Haus an uns übergegangen. Es dauert nicht lange, und ein Polizeiauto fährt vor, bleibt mit laufendem Motor vor dem Haus stehen. Als es weiterfährt, wissen wir, das Taubenhaus ist in unseren Händen. Unsere Besetzung ist polizeilich registriert. Es bricht kein Jubel aus. Einer geht Brötchen holen. Er kommt zurück und meint, dass die Leute beim Bäcker schon von uns wissen würden. Beiläufig erwähnt er, sie hätten ihm erzählt, dass unser Haus einem Juden gehöre. Es ist der Morgen des 31. Januar. Vor 48 Jahren auf den Tag genau standen Joseph Goebbels Tränen in den Augen. Hitler war tags zuvor Reichskanzler geworden. Die Geister Berlins hatten uns im Griff.