Meine Großmutter war Künstlerin. Sie gehörte zu den ersten Frauen, die an der Hochschule für bildende Künste in Berlin zum Studium zugelassen worden war. Das war im Anschluss an die Novemberrevolution im Frühjahr 1919. Eine ihrer düsteren Lithographien, eine Demonstration von Arbeitslosen unter den Brücken am Bahnhof Zoo, hing in meinem Heidelberger Mädchenzimmer und zeigte an, wohin auch ich wollte. Meine Eltern waren immer stolz auf meine künstlerische Begabung gewesen, hatten mich gefördert, aber die Entscheidung, Künstlerin zu werden, musste ich erst in harten Kämpfen durchsetzen. Froh, dem Versprechen, das Berlin war, gefolgt zu sein, misstraue ich bis heute der Provinz.
Die Kunsthochschule war eine einzige Enttäuschung. Hier unterrichteten Professoren, deren Radierungen in Landgasthäusern an der Schlei ausgestellt wurden oder die ein Ferienhaus an der Nordsee hatten und deshalb wie Emil Nolde malten. Tag für Tag saßen sie in der Kneipe gegenüber der Hochschule zusammen mit ihrem Wortführer, einem Gipsformer. Nach vielen Gläsern Weißwein waren sie sich einig über die Verteidigung der wahren Kunst. Eifersüchtig wachten sie über die Unterscheidung zwischen hoher und nicht so hoher Kunst und widmeten sich ansonsten der Auslegung der akademischen Malerei. Frauen duldeten sie in ihrem Dunstkreis nur als Bedienung oder als Muse.
Keiner wollte damals in Berlin bleiben, und so fiel die rein männliche Professorenschaft zweitklassig aus. Ausnahmen waren Raimund Girke für die nichtfigurative Malerei und Karl Horst Hödicke, der ein Jahr in New York gewesen war und eine andere Vorstellung von Kunst entwickelt hatte als seine behäbigen Kollegen. Er hatte sogar früher eine Frau gehabt, die Kunst machte, und ich staunte, dass die Verbindung aus Kunst und Liebe überhaupt möglich war. Alle strömten zu Hödicke. Wenn man von ihm aufgenommen werden wollte, musste man einen regelrechten Rattenlauf hinter sich bringen. Mir fiel kein Argument ein, das ich für meine Aufnahme hätte vorbringen können. Meine grundsätzlichen Zweifel an dieser Art der künstlerischen Ausbildung waren der wichtigste Grund meines Zögerns. Schon gar nicht konnte ich mir vorstellen, große Reden über meine Kunst zu schwingen. In der Folge landete ich bei einem der zweitklassigen Professoren. Ich langweilte mich entsetzlich. Ich hatte überhaupt keine Lust, das Vergangene nachzuahmen. Mir war es zu blöd, gefällige Stillleben zu zeichnen. Was sollte dieser verlogene Schmus in einer Stadt wie dieser?
Als Gegenmittel zu meinem lahmen, altbackenen Kunststudium tauchte ich ein in die Stadt. Londoner und Rheinländer Punkmusik kaufte ich im »Scheißladen« des wahren Heino am Kreuzberg, meine Haare färbte ich mit Lebensmittelfarben abwechselnd grün und blau, ich entdeckte Gramsci, die »Brigate Rosse«, las Foucaults »Überwachen und Strafen«, aber auch »Silence« von John Cage. Bücher kaufte ich im Schöneberger Buchladen »Rhizom«. Ich war fasziniert, dass man Deleuze wie Minimal Music lesen konnte, und von Derrida war zu lernen, eigentlich sei alles Schrift. Als mir das Lesen und Hören des Punk nicht mehr genügte, entschloss ich mich zur größtmöglichen privaten Radikalität. Ich wollte nicht länger in meiner harmlosen Wohngemeinschaft hocken. Mich nervten die Endlosdiskussionen über das Putzen, das Einkaufen und das Kochen. Auch das Wort »Beziehungsprobleme« konnte ich nicht mehr hören. In einem besetzten Haus — so dachte ich — wird bestimmt alles aufregend anders. Die Verlockung war so groß, dass ich sogar das Angebot, in eine Fabriketage am Görlitzer Bahnhof einzuziehen, ablehnte. Vor der Besetzung gab es wenige klandestine Treffen. Selten kannten sich Besetzer lange und gut. Auch wir neun waren ein zufällig zusammengeworfener Haufen, hatten uns nach Neigung und Interesse gefunden, einigten uns schnell und ohne Umschweife. Wir wollten eine verlassene Stadtvilla besetzen, die in der Nähe des Kreuzbergs schon seit langem vor sich hin rottete. Ich ahnte nicht, dass sich unsere Leben auf schicksalhafte Weise verbinden sollten.
Da war Thomas, der einen mit seinen Reden blenden und verführen konnte. Groß, dünn, immer freundlich und zum Diskutieren bereit, wurde einem mit ihm nie langweilig. Er sprach wie Edith Clever, kam wie sie aus Wuppertal und hatte keine Probleme damit, sich als ernsthaften Studenten zu bezeichnen. Sein Vater war Lastwagenfahrer, seine Mutter arbeitete im Supermarkt an der Kasse. Die Eltern hielten nichts davon, dass ihr Sohn Philosophie studierte. Doch für die Bedenken seiner Eltern interessierte sich Thomas so wenig wie ich mich für die Bedenken meiner Eltern. Er tat so, als lege er keinen sonderlichen Wert auf Äußerlichkeiten. Man sah ihn nie anders als in Jeans und in einem kragenlosen Leinenhemd, von dem er sich einen Stapel von einem Griechenlandurlaub mitgebracht hatte. Ohne seinen Radiergummi, seinen Füller und seinen Bleistift verließ er nicht das Haus. Die Titel von Suhrkamps wissenschaftlicher Taschenbuchreihe konnte er auswendig herunterbeten, und man ahnte, dass es sein Ehrgeiz war, eines Tages auch ein Buch in dieser Reihe zu platzieren. Thomas war gierig nach Welterklärung, las so was wie Hegel oder Heidegger. Er war auf der Suche nach Bedeutung, und das gab er auch offen zu. Das wiederum gefiel mir, weil ich mit meiner Kunst mehr wollte, als einfach nur Kunst zu machen.
Da war Soraya, eine große und kräftige Frau, mit ihren schulterlangen dunklen Locken und hellblauen Augen eine eindrucksvolle Erscheinung. Sie kam zusammen mit ihrem Freund, der eine spröde Eitelkeit ausstrahlte. Seine mittelblonden Haare, deren springende Locken er immer wieder mit einer sehr weiblichen Geste aus dem Gesicht warf, fielen ihm bis auf den Rücken. In seiner kühlen und stolzen Selbstbezogenheit erinnerte er mich an einen spanischen Granden. Ihr energisches Kinn über der Motorradkleidung ließ Soraya bisweilen weniger feminin erscheinen als ihren Freund. Soraya und ich waren gleich alt. Wir waren fast zur selben Zeit aus dem Südwesten nach Berlin gezogen. Soraya studierte Theaterwissenschaft im zweiten Jahr. Sie liebte Filme, und wenn sie gut aufgelegt war, spielte sie bestimmte komische Szenen so lange nach, bis wir anderen uns kugelten vor Lachen. Obwohl sie Humor hatte, lachte sie nur selten. In großen Runden saß sie lieber abseits und blieb Beobachterin. Soraya verlor sich im großen, gleißenden Kino, doch ihr Projekt war ein Dokumentarfilm über den Frauenknast in der Lehrter Straße. Auch in der Kunst orientierte sie sich konsequent an ihren politischen Ideen. Soraya war Sympathisantin der RAF, und schon vor ihrer Berliner Zeit hatte sie in Stuttgart-Stammheim demonstriert. Sie begeisterte sich für den anarchistischen Ansatz, für die Sabotage des Systems. Soraya war eine Autorität. Ihr Name galt in der Szene etwas. Sie fuhr Motorrad und maß sich gerne mit Männern. Gleich am ersten Tag legte sie sich mit Thomas an und machte ihm klar, dass wir Frauen nicht dafür da waren, zu putzen und zu kochen. Also lernten wir schweißen, schlagbohren, kreissägen und löten. Selbst ich verlor meine Unbeholfenheit und traute mir zu, Leitungen zu verlegen und Wände einzureißen.
Da waren noch Wolle und Robert, die beiden Berliner. Von ihnen lernten wir die typische Berliner Unbekümmertheit kennen. Berlin hatte weder eine goldene Vergangenheit noch eine helle Zukunft zu bieten, es hieß, daraus das Beste machen. Hier stürzt man nur, mit Gehen kommt man nicht weiter, lautete Wolles Lieblingsspruch zu Berlin. Zwar waren Robert und er an der Universität eingeschrieben, aber sie gingen nie dorthin. Wolle war ein zurückhaltender Mann. Ein Freund der Zierfische, nicht der Frauen. Robert, charmant und pragmatisch zu gleichen Teilen, machte in Raubdrucken, liebte das Theater und sprach vom Auswandern.
Bei der Besetzung der Villa waren wir zu neunt gewesen, aber nachdem uns Wasser und Strom abgestellt worden waren, blieben nur wir sechs übrig: Soraya und ihr Grande, Thomas, Wolle, Robert und ich. So ergab es sich ohne unser Zutun, dass Soraya und ich die einzigen Frauen waren. Bis heute weiß ich nicht, wie sehr wir uns mochten. Nachdem unsere Versuche, das Wasser wieder anzustellen, gescheitert und wir der Polizei entkommen waren, tauchten wir bei unseren Nachbarn unter. Ein Zurück in bürgerliche Mietverhältnisse wäre für uns undenkbar gewesen. Was uns dazu bewog, weiterhin zusammenwohnen zu wollen, ist mir nach wie vor rätselhaft. Freundschaft war es jedenfalls nicht. Eher so was wie politische Überzeugung.
Unsere neue Bleibe fanden wir in einer Zweizimmerwohnung mit Küche im Seitenflügel des großen Hauses an den Gleisen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob wir überhaupt ein Badezimmer hatten. Glaube aber eher nicht. Unser Blick ging hinunter auf das grün überwucherte S-Bahngelände. Das monotone Rattern der Stadtbahn drang durch die Fenster. Weil wir Privatbesitz ablehnten, gliederten wir die Wohnung nach Funktionsräumen auf: Es gab eine Küche, eine Bibliothek, in einem anderen Zimmer legten wir unsere sechs Matratzen auf den Boden. Wie bei Schneewittchens Zwergen.