Auf den trüben Frühling folgte ein heißer Sommer. Wir verbrachten die Tage und Nächte dieses Sommers auf dem Dach, im Schlafsack auf dem Teer oberhalb der Ziegel und zwischen den Schornsteinen. Das Leben verlief in Zeitlupe. Tagsüber dösten wir in der Sonne, nachts tranken wir Rotwein und ruhten uns von den Anstrengungen der vergangenen Monate aus. Es war einer der glorreichen, leeren Sommer der Jugend, wie sie James Salter beschrieben hat.
Im Winter waren Kraaker aus Amsterdam gekommen, um uns zu helfen. Die Kraaker waren beeindruckende Gestalten: große Männer mit langen Haaren und mächtigen Händen. Nachfahren der Seefahrer und Deichbauern. Sie trugen schwere Stiefel und schwarze Lederjacken. Nichts konnte sie schrecken. Für sämtliche Probleme wussten sie eine Lösung. Statt anarchistischer Literatur trugen sie Schweißwerkzeug und Brecheisen mit sich. Jeder von ihnen war Spezialist für ein bestimmtes Gewerk. Hausbesetzen war Routine für sie. Zuerst war das Haus gegen die Angriffe der Feinde zu sichern. Nachts schleppten wir Bohlen von den nahe gelegenen S-Bahngleisen ins Haus und zimmerten daraus eine Befestigungsanlage. Das Erdgeschoss blieb unbewohnt und verwandelte sich in ein Bollwerk. Nur eine kleine Gruppe war in die Feinheiten der Verteidigung eingeweiht. Keiner von uns war Handwerker oder Architekt. Die Kraaker zeigten uns, wie man die Stromleitungen der Nachbarhäuser anzapft und das Wasser anstellt. Unsere Medizinstudenten taten sich dabei besonders hervor. Sie entwickelten sich zu gewieften Spezialisten des Stromdiebstahls. Dass Wasser und Strom gestohlen wurden, war Prinzip. Wir waren durchlässig, was das Eigentum anging. Ladendiebstahl war so normal, wie Wasser und Strom zu klauen.
Mit großen und kleinen Schaufeln kratzten wir tagelang den Taubenkot vom Boden. Das ekelhafte Geräusch, dieses aggressive, laute Scharren, verfolgte uns bis in den Schlaf. Unsere Mediziner brachten für diese Arbeit Mundschutze aus der Klinik mit. Im Vergleich zum Taubenkotkratzen war das Entrümpeln, Reparieren, Installieren, Renovieren, Putzen und Bauen ein Vergnügen. Fensterscheiben wurden eingesetzt, Fensterrahmen gestrichen und abgedichtet, Herde angeschlossen, Wände verputzt, Toiletten montiert, Böden ausgebessert, Waschbecken angeschraubt, Kachelöfen repariert und passende Türen besorgt. Niemanden interessierte eine gerechte Verteilung der Arbeit. Wer einen Job hatte, half am Wochenende mit, und die Mediziner, die ständig wichtige Klausuren schrieben, fanden immer einen Grund, sich nicht mit Taubenkot beschäftigen zu müssen. Einige waren schlicht stinkfaul, und alle Appelle liefen ins Leere. So blieb die Hauptlast der Instandsetzung an einer überschaubaren Gruppe hängen. Von ihnen waren manche unfähig, aber willig und somit die ideale Besetzung für unangenehme Drecksarbeiten. Andere legten großen Ehrgeiz an den Tag und entwickelten sich zu Experten des Elektrohandwerks, der Verteidigung oder des Wasserdiebstahls. Am Ende hat es funktioniert. Das Haus war nach einigen Monaten harter Arbeit auf einem niedrigen Niveau bewohnbar gemacht. Wir waren alle stolz.
Aber wir waren vorsichtig, richteten uns nicht häuslich ein, brachten keine Wertgegenstände ins Haus. Wir schliefen auf Isomatten auf dem Boden, Taschen mit Wäsche lagen in der Ecke, ein Waschbecken und zwei Toiletten mussten zunächst für uns 29 genügen. Immer seltener suchten wir unsere alten Wohnungen auf, um die Post abzuholen, zu duschen, Wäsche zu waschen oder einfach nur auszuruhen. Wir fühlten uns zunehmend fremd dort. Am Küchentisch oder auf dem Bett sitzend, betrachtete man verwundert sein verlassenes Leben. Mit den anderen Besetzern bildeten wir jetzt eine eigene Welt, zu der selbst unsere besten Freunde keinen Zugang hatten. In der bequemen Sicherheit ihrer Zwei- oder Dreizimmerwohnungen konnten sie sich nicht vorstellen, was es bedeutet, wenn jederzeit die Polizei anrücken und einen aus dem Haus vertreiben kann. Wir lebten aufregend experimentell, alle anderen erschienen uns langweilig konventionell. Unser Zusammenleben folgte bestimmten radikalen Prinzipien. Besitzansprüche waren unangebracht: Jemand kaufte ein und kochte, jemand anderes aß das Essen auf — zumeist ohne sich dafür zu bedanken. Niemals hätte man darüber gestritten. Alles war für alle da. Alle Türen standen offen, keiner schloss sich ein. Wohnen war eine Herausforderung.
Während wir an unseren »autonomen Räumen« und einer »Gegenöffentlichkeit« jenseits von Staat und Gesellschaft bastelten, änderte sich die Welt um uns herum. Im Januar 1981 war Ronald Reagan als amerikanischer Präsident vereidigt worden. Er warb für seine Politik mit einem Californialächeln. Anderthalb Jahre vor ihm war eine schlichte Krämerstochter mit hochtoupiertem Haar in Großbritannien an die Macht gekommen. Margaret Thatcher entmachtete die Gewerkschaften, privatisierte die öffentlichen Unternehmen und führte Krieg nach innen und nach außen. Im Mai 1981 war der Sozialist François Mitterrand zum französischen Präsidenten gewählt worden. Dieser Mann mit dem hochmütigen Zug um den Mund schaffte die Todesstrafe ab, erhöhte die Steuern und entkriminalisierte die Homosexualität. Auf einmal ging es wieder um Klassenkampf und Bourgeoisie. Deutschland wurde noch immer von Helmut Schmidt regiert und die Sowjetunion von Leonid Breschnew. Die Sowjets waren im Dezember 1979 in Afghanistan einmarschiert. Bundeskanzler Schmidt hielt gegen heftige Kritik an der Aufrüstung und am NATO-Doppelbeschluss fest. Seine eigene Partei bestand plötzlich aus Friedensbewegten, und dahinter stellten sich die Grünen als eine neue Partei auf. Mit der Friedensbewegung und den Grünen wurde mit einem Mal alles wieder zu einer Frage der Gesinnung. Uns gefiel weder Kanzler Schmidt, in dem wir nur den Flakhelferleutnant sahen, noch die herzensreinen Grünen und ihre Friedensbewegung. Mit dieser blöden friedfertigen Welt, die sie anstrebten, hatten wir nichts gemeinsam.
Der neue Innensenator von der CDU war ein kleiner, schmieriger Typ mit zurückgekämmten Haaren und einem aufgepumpten Ego. Heinrich Jodokus Lummer war der Kettenhund des Regierenden Bürgermeisters Richard von Weizsäcker. Ihn ärgerte, dass er so wenig über seinen Feind wusste. Er befand sich in der Klemme, denn der Eigentümer kann keine Anzeige gegen unbekannt erstatten. Die Polizei wiederum darf dem Eigentümer keine Amtshilfe leisten und für ihn herausfinden, wer eigentlich sein Haus besetzt hat. Die personelle Zusammensetzung der Hausbesetzerbewegung war demnach eine Black Box. Weder war bekannt, wie viele, noch wer sich in den Häusern aufhielt. Dass die Fluktuation in den Häusern groß war, machte alles noch komplizierter. Selbst wenn wir gewollt hätten, wäre es nicht möglich gewesen, dass wir uns im besetzten Haus anmelden, denn dafür brauchten wir die Unterschrift des Vermieters auf der Meldebescheinigung. Also behielten wir unsere alte Meldeadresse bei und lebten als Besetzer inkognito. Lummer begann mit generalstabsmäßig durchgeführten Hausdurchsuchungen. Es ging ihm darum, die Personalien der Besetzer zu erfassen und in Erfahrung zu bringen, was in den Häusern vor sich ging und wer darin verkehrte. Die nächtlichen Demonstrationen mit ordentlichem Sachschaden, die auf die Durchsuchungen folgten, gerieten mit der Zeit fast schon zur Routine. Erste Häuser berieten über Legalisierungsmodelle und träumten von einem Mietvertrag, während andere jeglichen Kontakt mit dem »Schweinesystem« ablehnten. Diese uneinheitliche Vorgehensweise und Einstellung war jedoch noch kein Problem. Das Spektrum der Hausbesetzer reichte von den unerbittlichen Autonomen bis zu den alternativen Hausgemeinschaften mit Fahrradwerkstatt und Tischlerei, von den Mietskasernen Kreuzbergs bis zu den Gründerzeitvillen Zehlendorfs. Wir alle waren »Feuer und Flamme für diesen Staat« und forderten »Keine Macht für niemand«.