Meinen ersten Begriff von Berlin habe ich im Café Kaputt in der Nähe vom Kreuzberg gewonnen, das war 1976, als wir auf Klassenfahrt in der Stadt mit dem Viermächtestatus waren. In diesem Café war es ziemlich dunkel, und man setzte sich zwischen Sperrmüllmöbel und trank viel Bier und schwadronierte über den bewaffneten Kampf. Wir hatten Unterkunft in einem Studentenwohnheim an der Spanischen Allee in Zehlendorf. Zum Frühstück gab es Roggenbrot, pures Roggenbrot, das feucht war und wahnsinnig gut schmeckte und das wir immer mit Ramamargarine zu uns genommen haben. Ansonsten war Berlin ein Thema mit Christoph aus der Parallelklasse, dessen Vater war Chefarzt in Hilden, und wir feierten bei denen im Keller gerne mit der Musik von Gustav Mahler aus dem »Tod in Venedig« im Hintergrund und mit »Ton Steine Scherben« und mit Hildegard Knefs »Für mich soll’s rote Rosen regnen«. Mit Christoph hatte ich eine Wette laufen. Er wollte einen Film in Cannes zeigen, und ich wollte ein Buch bei Suhrkamp veröffentlichen. Die Wette konnten wir nicht einlösen, weil Christoph schon im Studium starb. Christoph hatte einen älteren Bruder, der war bei der Roten Hilfe und erzählte uns viel von der Stadtguerilla. Ich erinnere mich ganz genau, wie wir uns um 1973 über den Text von Heinrich Böll »6 gegen 60 Millionen« die Köpfe heißgeredet haben. Da war wieder Berlin im Gespräch, der Frauenknast an der Lehrter Straße, ein Waldstück im Grunewald, wo Ulrich Schmücker von seinen Gesinnungsgenossen erschossen worden war, und die Bibliothek in Dahlem, aus der Andreas Baader geflüchtet war, um in den Untergrund zu gehen.
Damals, als wir mit der Klasse in Berlin waren, waren wir auch bei Leydicke und haben dort den grässlichen Fruchtwein getrunken, und ich habe von einem Raubdruckverkäufer einen Band von Merve erworben. Der hieß »Der Terrorismus der Starken und der Schwachen« und war von den Leuten von »Il Manifesto« verfasst. Den habe ich wie ein gefährliches Buch nach Hause getragen und abends heimlich im Bett gelesen. Mir war klar, dass ich mich keinem der Parteiaufbauvereine anschließen würde, und ich hatte natürlich Schiss, in den Untergrund zu gehen. Meine Wahl fiel auf die FDP der Linken, das waren die Trotzkisten, die immer alles besser wussten. Das war auch gut so, weil ich damit alle Leute, die vom Sozialismus in einem Lande träumten, also die von der DKP genauso wie die von der KPD, für ziemliche Idioten halten konnte.
Aber meine erste Nacht ganz allein in Berlin war furchtbar. Das war im Januar 1978, als ich mit dem Bus 19 von Bahnhof Zoo unter den Yorckbrücken ankam und an der Bautzener Straße ausstieg. Ich wollte zusammen mit meiner Freundin Claudi nach Berlin gehen, die unbedingt Medizin studieren wollte, aber noch warten musste, weil der NC zu hoch für sie war. Ich hatte vom Freund eines Freundes die Adresse von einer Frau bekommen, die Hausbesitzerin war und die ich mir als eine Frau im Pelz vorstellte, weil sie eine Adresse am Ku’damm hatte. Ich hatte in der Bautzener Straße eine Zweizimmerwohnung ohne warmes Wasser mit Kohlenheizung und Außenklo gemietet. Es war fürchterlich kalt, als ich so gegen acht Uhr am Abend zum ersten Mal die Tür zu dieser Wohnung öffnete. Ich hatte keine Ahnung, wie man einen Kachelofen anfeuerte, und war im Moment auch so verzweifelt in dieser Wohnung, dass ich am liebsten geheult hätte. Ich hatte einen Schlafsack dabei, den ich auf dem Boden ausbreitete, und bin dann raus und habe versucht, irgendwo etwas zu essen zu finden. Oben in der Bautzener Straße war das »Puschen«, da gab es einen Wirt, der so aussah wie Hannes Wader, bei dem konnte man Pellkartoffeln mit Quark kriegen und dazu natürlich viel Bier trinken. Das mit den Pellkartoffeln wusste ich an dem Abend noch nicht, ich erinnere mich nur, dass ich sehr viel Bier getrunken und nichts gegessen habe. Das erlaubte mir, die erste Nacht in der neuen Wohnung einigermaßen schlafend zu verbringen.
Der Anlass, warum ich mich im Januar nach Berlin aufgemacht hatte, war der Tunix-Kongress, der an der TU in der Straße des 17. Juni stattfand. Der Deutsche Herbst war vorbei, und es ging darum, nach der innerstaatlichen Feind- und dann Kriegserklärung der RAF eine Position zu finden. Die undogmatische Linke, die weder dem Kommando-Sozialismus in der DDR noch der Kulturrevolution im Mao-Look über den Weg traute, hatte ihre Unschuld verloren. Klar, Fünfjahrespläne waren Herrschafts-Idiotie und »das kleine rote Buch« Mörderkitsch. Aber wer mit dem bewaffneten Kampf sympathisiert hatte, war auch irgendwie kontaminiert. Ich erinnere mich, dass ich Peter Glotz, der damals Senator für Wissenschaft und Forschung im Berliner Senat war, zuhörte, wie er mit seiner Riesenbrille eigentümlich beschwörend über die Linke sprach, und dass Eberhard Lämmert, der Präsident der FU war, in melierter Noblesse die Tradition des unverstellten Lebens anführte. Man ahnte, dass Dagegensein auch eine Art des Dabeiseins war und man sich deshalb die Frage stellen musste, wofür man war, wenn man dagegen war. Ich war ein Gefühlslinker, der Heidegger gelesen hatte und mit einem Freund, der protestantischer Pfarrer in Erkrath geworden ist, nächtelang über Paul Tillich diskutiert hatte. Metaphysik war kein Schimpfwort für mich, ich behauptete sogar frech, dass im Kommunismus Metaphysik wieder auf der Tagesordnung stehen sollte. Tunix war für mich metaphysikfreundlich und lebensbejahend. Über das Sein im Nicht-Sein meditieren und ohne die Angst, nicht normal zu sein, das Polymorph-Perverse bei sich und anderen zu akzeptieren, konnte ein Ausweg sein. Von den Berühmtheiten auf diesem Kongress habe ich seinerzeit nicht viel mitbekommen. Ich hatte weder von Foucault noch von Guattari einen Begriff, obwohl ich mich für die Sektion Antipsychiatrie interessierte. Ich weiß noch, dass mir ein Bekannter bedeutungsvoll zuraunte, man wolle eine linke Tageszeitung gründen. Das hieß wohl, etwas anderes zu machen, als wie Wolfram Schütte in der FR über Fassbinder zu schreiben oder wie Peter Merseburger in »Panorama« über Militärbasen der US-Armee in der Bundesrepublik zu berichten. Aber ich wollte nicht Rebellionsjournalismus lernen, sondern ich wollte ernsthaft und tiefgründig studieren.
Meine erste Fahrt an die FU wollte nicht enden. Man war vom U-Bahnhof Yorckstraße mindestens eine Dreiviertelstunde nach Dahlem unterwegs. Ich kann gar nicht mehr sagen, wie das kam, aber auf dieser ersten Fahrt nach Dahlem habe ich ein Mädchen mit dunklen Haaren kennengelernt. Die erzählte mir, dass sie zu der Vorlesung von Klaus Heinrich unterwegs sei. Sie sagte das mit derartig leuchtenden Augen, dass mir sofort klar wurde, dass das ein wichtiges Ereignis sein musste. Ich bin dann mit ihr mit und bin so bei meinem ersten Tag an der FU als Allererstes in einer Vorlesung von Klaus Heinrich gelandet, die über Zynismus ging, den er aber von dem Kynismus unterschied, um deutlich zu machen, dass man sich leer machen müsse, um etwas Neues zu entdecken. Die Dunkelhaarige erzählte mir nach der Vorlesung etwas über den Mahlstrom, in den man sich stürzen müsse, um ein Sein zu erreichen, das einem etwas eröffnen wird. Solche Gedanken kannte ich von Heidegger, bei dem hieß das Lichtung, aber davon wollte sie nichts wissen. Claudi war noch nicht da oder schon wieder weg, natürlich um wiederzukommen, aber die Dunkelhaarige hatte schon eine ziemliche Sehnsuchtstiefe. Zwischendrin wusste ich nicht, wie sie das mit dem Mahlstrom meinte. Jedenfalls habe ich dann die Nacht mir ihr verbracht. Das war der erste Tag meines Studiums an der FU.
Leo hat mich dann mit zu Jacob Taubes genommen. Er hatte mich vorbereitet: Das ist einer, der wirklich über den Ort der Revolution nachdenkt. Er sei eigentlich ein Rabbi, der aber in Dahlem ein Institut für Hermeneutik aufgemacht habe. Ich war schwer beeindruckt davon, dass Leo ein Grußverhältnis mit Jacob Taubes unterhielt. Die kannten sich also. Aber ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, auf welcher Basis die miteinander umgingen. Taubes saß da vorne, hatte ein aufgeschlagenes Buch vor sich und redete und redete über zwei Sätze aus dem Vorwort zur »Phänomenologie des Geistes« von Hegel. Es ging darum, dass die Substanz Subjekt sei. Ich wusste nicht genau, worauf er hinauswollte, aber ich ahnte, dass hier Philosophie gemacht wurde, die einem etwas für das Leben bedeuten konnte. Hegel war doch derjenige, der so wie Johannes der Täufer dem Marx vorausging. Von Leo wurde mir klargemacht, dass richtiges Denken immer einen esoterischen Raum beanspruchen musste. Das hieß, man musste zu den Eingeweihten gehören, um überhaupt auf richtige Gedanken kommen zu können. Das war wichtig, weil mich das immun gemacht hat vor solchen Leuten wie Wolfgang Fritz Haug, der immer wieder eine Vorlesung über »Das Kapital« von Marx anbot, den man aber für einen Karl May des Marxismus halten musste. Mit Marx musste man sich eingehend beschäftigen, das hieß damals, dass man sich zum Institut für Soziologie in die »Babelsburg« nahe dem U-Bahnhof Berliner Straße aufmachen musste, um beim »Projekt Klassenanalyse« einen »Kapital«-Lektürekurs zu belegen, der sich vor allem mit der Wertformanalyse beschäftigte. Die Leute in dem Kurs glaubten wirklich, dass in der Wertform das Rätsel unserer gesamten Existenz stecken würde. Aber die das glaubten, waren merkwürdig enge Typen, die mir so gar nicht geistig vorkamen, sondern offenbar der Auffassung waren, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Zeitaufwand der Beschäftigung und dem Erkenntnisgrad der Durchdringung geben müsse. Das kam mir alles kleinbürgerlich und beflissen vor. Jedenfalls wenn man zuvor diese rabbihafte Weltläufigkeit von Taubes kennengelernt hatte.
Wie ich an Luise und die anderen geraten bin, weiß ich wirklich nicht mehr. Ich weiß nur, dass sie und Soraya was mit Kunst machten und ich mit ein paar Formulierungen aus Lyotards »Patchwork der Minderheiten« Eindruck schinden konnte. Kunst plus Leben ergibt Lebenskunst, sagten wir damals. Das war kein Kalauer, sondern ernst gemeint. Aber anders als in dem Wilhelm-Meister-Film »Falsche Bewegung« von Wim Wenders von 1975, wo der Harfner und Wilhelm Meister sich beim Gang oben am Rhein über das Leiden an der Unvereinbarkeit von Politik und Poesie unterhalten, wollten wir eine Kunst, die aus dem Leben kommt und ins Leben geht. So wie bei Gordon Matta-Clark, der amerikanische Eigenheime durchgeschnitten hatte. Ein Vortrag von Heidegger übers Wohnen kam mir im Gespräch mit Luise und Soraya und den anderen auch noch in den Sinn. Die Frage »Wie leben?« führte mit einer gewissen Notwendigkeit zur Frage »Was tun?«.