Die schönen Tage auf dem Dach waren nun zu Ende. Im Herbst schickte Reagan seinen Außenminister nach Berlin. Alexander Haig, Vier-Sterne-General, Korea-Veteran und dekoriert in Vietnam, war seit 1974 NATO-Oberbefehlshaber für Europa gewesen. Vor zwei Jahren war das »Kommando Andreas Baader« in Brüssel damit gescheitert, Haig zu ermorden. Der in einem Hohlraum unter einer Brücke deponierte Sprengsatz hatte zu spät gezündet und so das Ziel, nämlich Haigs gepanzerte Limousine, um wenige Sekunden verfehlt. Das weckte den Sportsgeist unserer Freunde von der radikalen Fraktion. Irene, Marianne und John fanden das Plakat, das zur Demonstration aufrief, so großartig, dass sie damit nicht nur unseren Hausflur tapezierten, sondern es sich auch noch in der Küche über den Herd hängten. Über dem Schwarz-Weiß-Foto der ausgebombten Limousine stand geschrieben:
25.6.1979 Brüssel 2,7 Sekunden zu spät
13.9.1981 Berlin ?
Das Fragezeichen setzte uns unter Druck. Möglichst viele von uns sollten sich auf der Demo blicken lassen. Man kannte sich mittlerweile, war informiert, wo die Häuptlinge der Autonomen und wo die Wortführer der Verhandler wohnten. Über das Plakat sprachen wir nicht. Es mahnte zur Militanz und machte Angst. Lars, von dem alle ahnten, dass er feige war, schützte eine Erkältung vor und verkroch sich ins Bett. Antonia musste auf eine Klausur lernen, und Vroni stand spät auf, drehte eine Zigarette nach der anderen, überlegte lange, ob sie mit der schwarzen Lederjacke richtig angezogen sein würde. Nachdem sie sich endlich entschieden und die Lippen sorgfältig geschminkt hatte, war es zu spät. Michael, seine Prinzessin Crumb im Arm, Luise und Robert im Schlepptau, stürmte ins Zimmer. Sie waren regelrecht aufgedreht, redeten durcheinander und suchten sich in ihren Schilderungen zu übertreffen. »The Star Spangled Banner« von Jimi Hendrix habe aus den Lautsprecherwagen gedröhnt. Es sei die größte Demonstration in Westberlin seit dem Vietnamkrieg gewesen, das habe sogar die Bullerei zugeben müssen. Die Gewerkschaft der Lehrer, die Homosexuellen-Aktion Westberlin, Eltern mit kleinen Kindern, Besetzer aus allen Häusern, Jusos, FDPler, Gewerkschaftler, aber auch der schwarze Block seien, »Ami go home!« skandierend, durch Schöneberg gezogen. Michael schwärmte von der unglaublich positiven Energie, die freigesetzt worden sei, und Robert strahlte dazu über das ganze Gesicht. Luise saß still in der Ecke und zeichnete. Dann minutenlanges Polizeisirenengeheul von draußen. Erschrocken hörten alle sofort auf zu reden. Prinzessin Crumb durchbrach das Schweigen. Flüsternd gestand sie Vroni, dass ihr die Situation nach dem offiziellen Ende zu gefährlich geworden sei. Einzelne Gruppen versuchten jetzt nämlich zum Rathaus Schöneberg vorzudringen, wo Haig sich in das Goldene Buch eintragen sollte. Stress war angesagt. Überall Schlagstöcke, Tränengas, Helme, Barrikaden, Pflastersteine. Gewalt war nicht ihr Ding. Sie wollte möglichst schnell nach Hause zu Vroni, mit der man so wunderbar ablachen konnte. Kiffen und die aufgestaute Spannung loswerden. Vroni, die sich wenig um politische Positionen scherte, nahm Prinzessin Crumb in den Arm. Dann kochte sie Kaffee und drehte einen Joint.
Irene und ihre Freunde sowie Wolle und Soraya stürzten sich ins Geschehen. Sie kamen erst spät in der Nacht wieder zurück, fühlten sich als Helden. Auch die, die bereits schliefen, standen auf, als sie hörten, dass die letzten Kämpfer zurückgekommen waren. Mit klopfenden Herzen saßen wir um sie herum, rauchten hektisch eine Zigarette nach der anderen, stürzten die Biere. Irene machte den Eindruck, als ob sie wichtige Dinge erfahren hätte. Ruhig und konzentriert berichtete sie von einer Schlacht: Autos wurden abgefackelt, Bankfensterscheiben eingeschmissen, Straßenpflaster aufgerissen, Barrikaden gebaut und Polizeischilder erbeutet. Seltsam an ihrem Vortrag war nur, dass sie beim Rauchen die Augen zusammenkniff. Das wirkte bei einer routinierten Raucherin wie ihr befremdlich, und vielleicht war sie aufgeregter, als sie zugeben wollte. Leider war es ihnen nicht gelungen, zum Rathaus durchzukommen. Darüber war vor allem John sauer, der davon geträumt hatte, Haig richtig Angst einzujagen. Vielleicht hätte der dann Reagan vor einem Besuch in Berlin gewarnt, brummelte er. Die Polizei fuhr gepanzerte Wasserwerfer und etliche Hundertschaften auf. Dagegen hatten sie keine Chance gehabt. Dennoch verzeichneten Irene und John einen Erfolg für sich.
Wie sich in den kommenden Tagen zeigen sollte, lagen sie damit sogar nicht falsch. Der Regierende Bürgermeister, der der Welt gerne jubelnde, Stars and Stripes schwingende Berliner hatte vorführen wollen, sah sich blamiert. Ihm und seinem Sheriff Lummer war es offensichtlich nicht gelungen, die Besetzerszene in den Griff zu bekommen. Noch schlechter war die Botschaft der Anti-Haig-Demo für Bundeskanzler Helmut Schmidt. Die Bilder von brennenden Autos und antiamerikanischen Demonstranten mitten in Westberlin liefen im amerikanischen Fernsehen, und der Gegensatz zum Besuch Kennedys, der 1963 für sein »Ich bin ein Berliner« gefeiert worden war, hätte nicht größer sein können. Luise bekam von ihrer in New York lebenden Tante einen Artikel aus der »New York Times« zugeschickt. Darin wurde gefragt, warum sich keiner der Berliner Demonstranten über die Sowjetunion aufregte, die nur einige Kilometer entfernt in der DDR 400.000 Soldaten stationiert hatte. John, Irene, Wolle, Soraya und Marianne johlten vor Freude, als sie das lasen. Die Yanks nahmen sie als Gegner ernst.
Bei der lähmend langen Hausvollversammlung am nächsten Tag triumphierte die radikale Fraktion. Die Stimmung in unserem überdimensionierten, lieblos eingerichteten Versammlungsraum war mies. Wir anderen, die gestern beim Sturm aufs Rathaus gefehlt hatten, fühlten uns unbehaglich. Was erwarteten die selbstzufriedenen Krieger eigentlich von uns? Sollten wir Orden verteilen? Eine amerikanische Flagge auf dem Balkon verbrennen? John, Marianne, Wolle, Soraya und Irene — noch berauscht von ihrem Kampf gegen die Weltmacht USA — bestanden darauf, dass es durch die militanten Aktionen gelungen sei, ein Signal an die Befreiungskämpfer der Dritten Welt zu senden. Besonders freuten sie sich darüber, dass ihnen dies nur vierzehn Tage nach dem Anschlag der RAF auf das US-Hauptquartier in Europa in Ramstein gelungen war. Auf unser anhaltendes Schweigen reagierten sie ungehalten. Ob wir denn immer noch nicht kapiert hätten, dass die USA Krieg auf der ganzen Welt führen würden. Sie steckten nicht nur hinter dem Bürgerkrieg in El Salvador, sondern auch hinter dem Abriss der Häuser hier. Ihr Ziel sei es, alte soziale Strukturen zu zerstören, um die Menschen voneinander zu isolieren. In Berlin hätten sie »bauwütige Massenmörder« in den Stand versetzt, Zehntausende Menschen in die Trabantenstädte zu vertreiben. Wenn sie dort die Miete nicht bezahlen konnten, landeten sie als Obdachlose auf den Straßen und unter den Brücken. Eine friedliche Demo sei vollkommen wirkungslos, denn sie beunruhige die Herrschenden nicht. Politischer Kampf müsse gewaltbereit sein. Nur Gewalt bringe uns weiter. Verhandeln und Kompromisse schließen sei etwas für Feiglinge. Einzig Michael wagte dagegen einzuwenden, dass er befürchte, wir könnten die breite Unterstützung der Bevölkerung durch gewalttätige Aktionen aufs Spiel setzen. Weil Michael aber nur eine Art Clown und politisch nicht ernst zu nehmen war, ging man darauf nicht näher ein. Die meisten von uns saßen mit verschlossenen Gesichtern da und ließen die Politshow über sich ergehen. Vroni kicherte vor sich hin, Lenny grinste bekifft, Luise zeichnete, und Thomas starrte aus dem Fenster. Schleichend breitete sich ein Gefühl des Gefährdetseins aus. Was geschah eigentlich, wenn wir die Außenwelt mit dem Leben im besetzten Haus nicht mehr in Verbindung bringen konnten? Sollten wir das Haus aufgeben, in den Untergrund gehen, zu den Waffen greifen? Oder doch wieder in die Sicherheit biederer Wohngemeinschaften zurückkehren? Wir reagierten zunehmend gereizt und aggressiv aufeinander. Das Gefühl des Beobachtetwerdens, öffentlich auf dem Präsentierteller zu leben, angefeindet von den Nachbarn, ständig kontrolliert, strengte enorm an. Nicht weniger anstrengend war es, als Exoten bewundert zu werden. Zum Druck durch Politische Staatsanwaltschaft, Polizei und Eigentümer, Nachbarn und Unterstützer von außen war nun noch der Druck von innen gekommen. Wir waren einander ausgeliefert. Die nächste Telefonzelle war drei Straßen entfernt, Post kam nicht an und wenn die Tür hinter uns ins Schloss gefallen war, und wir vor unserer Befestigungsanlage standen, stellte sich auf einmal die Frage, wie lange wir noch so leben konnten und wollten.
Der Bausenator hatte Ende Juli verkündet, neun Häuser räumen zu lassen. Unser Haus stand nicht auf der Liste. Eher belustigt verfolgten wir, wie die von uns als Streber verschrienen Besetzer versuchten, ihre Häuser zu retten. Der Tuwat-Kongress, der Zehntausende Aktivisten in die Stadt hatte locken sollen, war eine große Enttäuschung. Man diskutierte dort nicht radikale Lebensformen, sondern Rezepte für selbst gebackenes Vollkornbrot. Das Fahrrad war den Anhängern der neuen Partei der »Grünen« wichtiger als der Hungerstreik der RAF. Lagerdenken breitete sich aus. Unter der Räumungsandrohung bildete sich ein regelrechtes Unterstützernetzwerk von Repräsentanten aus Wissenschaft, Politik, Kultur und Kirche. Diese sogenannten »Paten«, linke Professoren, halb berühmte Schauspieler und Gewerkschaftsfunktionäre der mittleren Ebene, klemmten ihre Schlafsäcke unter den Arm und zogen als eine Art bürgerlicher Schutzschild in die von der Räumung bedrohten Häuser. Aber auch die große Prominenz klinkte sich ein. Günter Grass las auf dem Dachboden eines dieser Häuser aus seinem Roman »Der Butt«. An die Adresse des kunstsinnigen Richard von Weizsäcker gerichtet, erklärte er, dass er im Fall der Räumung dieses Hauses in Berlin keine Lesung mehr abhalten werde. Manche glaubten wirklich, diese Warnung würde den Senat beeindrucken. Uns jedoch war klar, dass Lummer im Verlauf des September zuschlagen würde. Die Angst ging um, dieser Tag könnte das Ende der Bewegung bedeuten. Was wäre, wenn Lummer gleich alle Häuser in Kreuzberg und Schöneberg räumen lassen würde? Michael überlegte, in diesem Fall in eine Landkommune zu ziehen, während John für sich nur den Weg in den Untergrund sah.
Im Hinterhaus brannte Tag und Nacht Licht. Am Küchentisch saß immer jemand, der den Polizeifunk abhörte. Als am frühen Morgen des 22. September die Nachricht durchkam, dass über hundert Mannschaftswagen ausrückten, wussten wir, es war so weit. Keiner hatte gut geschlafen. Mit einem flauen Gefühl im Magen begann unser Tag. Die Nachbarn gingen zur Arbeit oder führten ihre Köter spazieren, und wir kamen uns vor wie die Bewohner eines anderen Sterns. Nach einem zuvor festgelegten Plan verteilten wir uns über die Stadt. Gegen neun Uhr startete die Aktion. Die Häuser, die geräumt werden sollten, wurden weiträumig abgesperrt. Die Polizei rückte mit schwerem Gerät an und knackte jede Befestigung. Fast zweitausend Polizeibeamte waren im Einsatz. Sie ließen sich Zeit. Sorgfältig und gewissenhaft wie bei einer Operation führten sie die Räumungen durch. Effektvoller hätten sie uns unsere Ohnmacht nicht vor Augen führen können. Lummer überbot das tapfere Schneiderlein und erlegte acht auf einen Streich. Sechs dieser Häuser befanden sich im Besitz des gewerkschaftseigenen gemeinnützigen Wohnungsunternehmens »Neue Heimat«. Gegen die profitorientierten Interessen der Gewerkschaftsbosse hatten auch die naiven Paten nichts ausrichten können.
Die Stadt befand sich in Aufruhr. Zwei Filme liefen nebeneinander ab. Der normale Alltag und Berufsverkehr ging weiter, wurde aber immer wieder durchkreuzt von Blaulicht, Martinshorn und Polizeimannschaftswagen, die durch die Straßen rasten. Dazwischen hinter den Absperrgittern verloren wirkende Gruppen junger Männer und Frauen in Lederjacken, mit verweinten Augen, bunten Haaren, zornig erhobenen Fäusten. Feind und Freund waren sofort zu unterscheiden. Ein Blick in die Augen genügte. Wir Gleichgesinnten nickten uns zu, tauschten die neuesten Informationen aus, verfluchten den Senat, die Bullen, die ganze Welt. Sehr bald stand fest, dass alle acht Häuser verloren waren. Gegen diese Maschinerie waren wir wehrlos. Um seinen Sieg auszukosten, hielt Lummer in Feldherrenmanier seine Pressekonferenz in einem frisch geräumten Haus in der Bülowstraße ab. Als es zu Tumulten vor dem Haus kam, schritt die Polizei ein und trieb die Versammelten auf die Straße in den fließenden Verkehr. Der achtzehnjährige Klaus-Jürgen Rattay geriet unter einen BVG-Bus und wurde mitgeschleift. Gegen fünfzehn Uhr verbreitete sich die Nachricht von seinem Tod. Aus der einschlägigen Szene kannte ihn niemand. Später tauchte ein Film auf, in dem Rattay freundlich erzählte, er sei von zu Hause abgehauen, weil er sich nicht länger »von den Wichsern am Arbeitsplatz« habe »unterdrücken« lassen wollen. An seinem neuen Leben im besetzten Haus gefiel ihm besonders, dass man viel kiffte und zusammenhielt. Rattay war eines der vielen aus Westdeutschland geflohenen Prollkids, die in den besetzten Häusern Unterschlupf gefunden hatten.
An diesem Abend ließen wir unser Haus unbewacht. Sogar Lars raffte sich auf und ging mit zum Schweigemarsch, der mitten durch die Innenstadt führte. Es herrschte eine beklemmende Stimmung. Viele weinten, als wir »Here’s to you, Nicola and Bart«, das Lied für Sacco und Vanzetti, summten. Niemand außer uns war auf den Straßen. Die Balkons leer, die Fenster dunkel, die Schaufensterscheiben verrammelt. Nachdem wir unsere Route abgelaufen waren, zog es uns zurück an den Ort des Geschehens. Noch war das Blut an der Stelle zu sehen, wo Rattay gestorben war. An der Kreuzung Potsdamer Ecke Bülowstraße wurden Kerzen angezündet, Blumen abgelegt, es wurde gesungen und geweint. Die höchst nervöse Polizei wollte diese Trauer nicht dulden. Sie konnten es nicht ertragen, dass wir ihren Mord an einem unschuldigen, harmlosen Jungen nicht einfach hinnehmen wollten. Unter einem Tränengashimmel trieben sie uns auseinander, knüppelten, schlugen auf ihre Schilder, jagten und verfolgten uns. Gerenne hierhin, Gerenne dorthin. Nur nicht hinfallen! Die Anspannung auf beiden Seiten war so groß, dass eine lange, gewaltsame Nacht unausweichlich schien. Irene grüßte Luise nur knapp im Tränengasdunst. Sie war mit ihrer konspirativen Gruppe unterwegs, um ordentlich Bambule zu machen. Luise war’s egal. Sie wollte nach Hause. Zu »Zettels Traum«. Das große Buch würde sie beruhigen.
Am nächsten Tag regnete es. Uli drehte eine Runde durchs Haus. Alle waren heil zurück. Wir fühlten die Niederlage. Was wollten wir eigentlich? Die Zeit, in der alles möglich schien, war vorüber.