Bert Brecht hat recht. Die Geflüchteten sind die Boten des Unglücks. Soraya brachte Elena auf dem Sozius ihres Motorrads mit über die Alpen. Elena kam aus Turin. Klein und rund, mit einem mütterlichen Busen, verfilzten dunklen Haaren und großen, unglaublich traurigen braunen Augen, wirkte sie alterslos, und wir wunderten uns, als wir erfuhren, dass sie bereits dreißig Jahre alt war. Elena kam wie eine Figur aus einem Fellini-Film in unser Haus geweht. Ihr Vater war früh gestorben, und da die Mutter nicht wusste, wohin mit ihr, gab sie sie in ein katholisches Waisenhaus. Schwarzgekleidete Nonnen mit riesigen weißen Hauben, dazu der graue Trupp kleiner Kinder, die immer brav zu zweit zwischen den Nonnen in der Reihe gehen. Nonnen wie Aliens. Elena erzählte, wie erschrocken sie war, als sie irgendwann entdeckte, dass die Nonnen Beine hatten. In der Klosterschule war sie mit Prügeln, Strafen und einem permanent schlechten Gewissen groß geworden. Elena war ein schutzloses Wesen, dem eine dunkle Schuld eingepflanzt worden war. Wenn sie irgendwo zu Hause war, dann in der Literatur. Sie sprach nur gebrochen Deutsch, doch sie las deutsche Bücher. Woher sie das konnte, verriet sie nicht. Ihr größter Wunsch war es, selbst zu schreiben, sich in einem Buch eine Heimat zu bauen. Sie las ununterbrochen. Doch man sah sie nie schreiben. Elena war Dauergast in der Küche von Luise und Soraya. Unangemeldet tauchte sie auf, setzte sich an den Küchentisch, packte ihr Buch aus und fing an zu lesen. Wenn man neben ihr saß, spürte man ihr leichtes Zittern. Ihren Unterhalt verdiente sie damals mit dem Putzen von Kneipen. Eine Freundin gewährte ihr Unterschlupf. Wie die Dienstmädchen des 19. Jahrhunderts schlief Elena auf einem Hängeboden am Ende des Flurs einer großbürgerlichen Wohnung. Elena brachte die Melancholie des italienischen Nordens zu uns. Sie las Pavese, machte uns mit Pasolinis »Accattone« bekannt und führte uns in die Filme Viscontis. Daneben begannen die Pamphlete der »Brigate Rosse« zu verblassen.
Mit Marianne kam Fouad ins Haus. Er blieb über Nacht und ging nicht mehr. Wohin auch? Fouad, ein junger, rehäugiger Mann, der dekorativ sitzen konnte, wenig redete und verschlissene, rahmengenähte Schuhe trug, war vor der Islamischen Revolution im Iran geflohen. Er hielt nichts von Chomeini und dessen theokratischer Diktatur. Mit Marianne stritt er viel. Alles war besser als der Schah, dieser Knecht der amerikanischen Imperialisten, so ihre Einstellung. Selbst die trostlose Situation, in die die Mullahs die Frauen brachten, wurde von ihr verteidigt. Marianne feierte den Schleier als ein Zeichen des Widerstands gegen das US-amerikanische Modediktat. Fouad zuckte mit den Schultern, ließ sie reden, betrachtete gelangweilt seine Fingernägel, hatte schließlich genug von ihr und zog in ein noch unbewohntes Zimmer. Er lebte abgeschlossen für sich, war immer höflich, viel unterwegs und schloss sich keiner Küche an. Man sah ihn nie renovieren, er übernahm keine gemeinschaftlichen Aufgaben, zahlte nichts und fehlte bei unseren Versammlungen. Was er den ganzen Tag über machte, war ein Geheimnis. Marianne behauptete, er sei eine Art Heiratsschwindler. Verspreche den Frauen die Ehe, kassiere Geld und tauche dann ab. Wenn das so war, konnte er keinen besseren Unterschlupf finden. Bei uns vermutete ihn keine.
Michael hatte begonnen, bei Vollmond Meditationsnächte auf unserem Dach zu veranstalten. Johns Spott über diesen esoterischen Unsinn war ihm gewiss, tat jedoch seiner Begeisterung keinen Abbruch. So kam Tibor in Begleitung einer der zahllosen Freundinnen Michaels in unser Haus. Eigentlich hatte er mit Esoterik nichts am Hut, aber er war einsam und auf der Suche nach Anschluss. Fouad war vor einer Revolution, deren Ziele er ablehnte, geflohen, und Tibor wiederum wartete, dass es endlich in seiner Heimat zu einer Revolution kommen würde. Tibor kam aus Budapest und hatte eine oppositionelle Untergrundzeitschrift mit herausgegeben. Er war ein bettelarmer, zarter Mann mit dichten dunkelbraunen Wimpern. Tibor sprach so leise, dass man ihn kaum verstehen konnte. Erst später kamen wir dahinter, dass er vor allem deshalb so still und verträumt war, weil er permanent unter dem Einfluss von Psychopharmaka stand. In seinem singenden, ungarisch eingefärbten Deutsch berichtete er, man habe ihn als Oppositionellen in die Psychiatrie gesteckt und tablettenabhängig gemacht. Wie er in Berlin an die Tabletten kam, verriet er uns nicht. Monatelang schwankte er zwischen kaltem Entzug und erneuter Abhängigkeit. Wir waren hilflos und wussten nicht, was wir tun sollten. Sein Leben war uns vollkommen fremd. Mit Dissidenten aus Osteuropa hatte noch keiner von uns etwas zu tun gehabt. Als im Dezember General Jaruzelski, der mit der schwarzen Brille, das Kriegsrecht über Polen verhängte, spürten wir vielleicht zum ersten Mal, wie nahe wir in Westberlin dem kommunistischen Osten waren. Um die unabhängige Gewerkschaft »Solidarność« zu unterstützen, gingen wir auf die Straße. Tibor nahmen wir in unsere Mitte. Während der gesamten Demonstration liefen ihm die Tränen übers Gesicht. Wir wussten nicht, wie wir ihn trösten sollten.
Tibor nahm sich ein kleines dunkles Zimmer im Hinterhaus. Über seiner Matratze hing eine Postkarte von Budapest und das hauchdünne Weinetikett eines Tokajers, das er von der Flasche abgelöst hatte. Er war in jeder Küche ein willkommener Gast, aß nur wenig und trank am liebsten Brause. Seine Situation änderte sich, als andere Ungarn bei uns auftauchten. Dazu muss man wissen, dass wir mittlerweile eine »home bar« betrieben, wie Luise sie nannte. Als Reaktion auf die Räumung der acht Häuser hatten wir die ehemalige Kneipe im Erdgeschoss wiedereröffnet. Die Ausstattung und Einrichtung war denkbar spärlich. Die großen Fenster wurden nur zum Wochenende von den schützenden Holzplatten befreit, und am langen Tresen, der immer noch stand, gab es Flaschenbier und Pfälzer Wein zum Selbstkostenpreis. Man saß an kleinen Tischen, und jede Woche wechselte die Crew hinterm Tresen. Unsere »home bar« war gut besucht, sie wurde zu einer Institution mit einer seltenen Ansammlung von Gästen: Hausbesetzer, Kreuzberger Originale, neugierige Nachbarn, Fremde und Freunde trafen hier zusammen. Alles war möglich, kaum etwas verboten. Geöffnet war von Mitternacht bis zum Morgen. Je später es war, umso voller wurde es.
Die Exilungarn kamen, weil das Bier so billig war. Sie waren Männer wie junge Löwen. Stark, verspielt, mit kräftigen Haaren und einem elastischen Gang. Als Gäste waren sie angenehm, denn sie waren sich selbst genug, besessen von der Idee, ihr Land vom Kommunismus zu befreien. Zu ihren lautstarken Diskussionen tranken sie Unmengen Bier. Im Lauf der Zeit entdeckten sie ihre Liebe zu den Iren, die ebenfalls einen Stammtisch bei uns hatten und die sich gleichfalls im Exil fühlten. Die Iren behaupteten, aus sexueller Not geflohen zu sein, und selbst ihr großes Heimweh brachte sie nicht dazu, nach Irland, wo es noch immer kein Scheidungsgesetz gab, zurückzukehren. Und so kam es, dass die Iren, die grandiosen Erzähler, mit den Ungarn, den Löwen, viele Nächte in unserer »home bar« zusammensaßen. Auch Tibor war immer dabei. Einer der Iren verliebte sich in ihn und besorgte ihm einen Job. Nach einigen Monaten zog Tibor aus. Manchmal kam er noch auf eine Brause vorbei. Jahre später, als er wieder in Budapest lebte, traf Marianne ihn zufällig auf der Straße. Sie konnte gar nicht glauben, dass der junge Mann mit dem runden, gesunden Gesicht derselbe Tibor war, den sie einst gekannt hatte.
Die Kohlen für den Winter bestellte man im Sommer. Vom Gehsteig ging es direkt vier Treppenstufen nach unten zum Kohlenhändler. In einem Souterrainraum zogen sich mehrere Lagen fein aufgestapelter Brikettbündel die Wand entlang. Hinter einem aufgeräumten Schreibtisch saß rauchend die blond toupierte Chefin. Hinter ihr gurgelte oder röchelte zuverlässig die Kaffeemaschine. Zur Bestellung durfte man vor ihrem Schreibtisch Platz nehmen, bekam auf die weiße Papierserviette eine Sammeltasse mit dampfendem Kaffee hingestellt, Kaffeesahne und Zuckerwürfel daneben. Etwas misstrauisch über die große Bestellung — immerhin ein Kohlenvorrat für dreißig Personen — gab sie Auskunft. Dass sie ein besetztes Haus beliefern sollte, irritierte sie nicht weiter. »Ihr wollt det ja och mollich ham«, so ihr Kommentar. Nachdem die Bestellung abgeschlossen war, glaubte sie sich mit einer ihrer vielen Geschichten über im Bett erfrorene Berliner revanchieren zu müssen. Die alten Leute schafften es einfach nicht, die Kohlen in die Wohnung zu schleppen. Letzten Winter waren es allein in ihrem Viertel fünf Alte, die erfroren waren. »Is wie zu Kriegszeiten«, verabschiedete sie uns lakonisch.
John sah gar nicht ein, dass man für Kohlen bezahlte, wenn man sie sich umsonst beschaffen konnte. Um uns unsere unnötige Geldverschwendung zu beweisen, zog er eines Nachts zusammen mit Luise, Wolle, Thomas und Marianne los. Mit einem geliehenen Auto fuhren sie zum Gleisdreieck, wo Kohlenhalden als Senatsreserve für den Ernstfall, dass die Stadt nochmals eingeschlossen sein sollte, gelagert wurden. Erschöpft und beladen mit Säcken voller Briketts, kehrten sie zurück. Die Bilanz war ernüchternd: Das Diebesgut reichte nicht einmal für eine Woche. Es blieb bei der Bestellung.